Gegen Kälte: Menschenwürdig mit Obdachlosen umgehen
Bufdi bei der Bahnhofsmission: Im Gespräch helfen und beraten
Im August 2020 begann Keno Rieger (damals 18) seinen Bundesfreiwilligendienst bei der Bahnhofsmission in Hamburg. Er ist Eisenbahnfan, und den Hauptbahnhof fand er immer schon spannend. Seine Probedienste absolvierte er im März 2020 – vor dem Lockdown.
Keno Rieger weiß, wie viel sich durch die Pandemie geändert hat für die Menschen von der Straße. "Die Nerven liegen blank, überall dürfen sie nicht mehr reingehen. Alles passierte außer Haus, es kam nicht mehr zu Gespräch und Kontakt."
Zeitweilig war die Bahnhofsmission – die im Corona-Jahr ihr 125-Jähriges nicht feiern konnte – als einzige Einrichtung immer geöffnet, es gab Kaffee und auch mal Suppe to go. Aber Plexiglasscheiben und gesperrte Aufenthaltsräume taten niemandem gut: "Unsere Gäste sind schneller verärgert, Emotionen kommen hoch." Oft reicht schon das Anstehen für einen Kaffee.
Dann hat der Senat zumindest die Markthalle zum Tagesaufenthalt für Obdachlose geöffnet. "Jetzt berate ich die Hilfesuchenden, was wo geöffnet ist, wo es Essen oder Schlafplätze gibt. Ich helfe Anträge auszufüllen und habe ein offenes Ohr.", erläutert Keno Rieger. Hilfe zum Ein- und Umsteigen für Zugreisende, die sich schlecht behelfen können, findet kaum statt. "Viel weniger Leute reisen oder pendeln mit der Bahn." Bahnexperte Rieger hat gelernt: "Den Blick für die Mitmenschen entwickeln, wer am Bahnhof ist und wie man ihm oder ihr helfen kann." Im Frühling auch wieder im Gespräch und als Gastgeber, hofft er.
Ehrenamtlich in einer Tagesstätte für obdachlose Menschen
"Einfach traurig" – den Satz sagt Angela Lewandowski immer wieder. Damit meint sie die Situation der Gäste der "Alimaus", einer Tagesstätte für Obdachlose und bedürftige Menschen des Hilfevereins St.Ansgar in Hamburg. Vor Corona haben sie dort ein Frühstück bekommen und mittags eine warme Mahlzeit. Dann erhielten sie ihr Essen durch die Tür. "Ich weiß nicht, wo sie hingehen mit ihren Tüten, aber das ist alles ein bisschen traurig", wiederholt Lewandowski.
Seit fünf Jahren arbeitet die 61-Jährige ehrenamtlich zweimal pro Woche in der "Alimaus". "Das war so schön, als die Gäste noch drinnen sitzen konnten. Da konnte man auch mal ein paar Worte schnacken. Jetzt sagt man nur noch ,Hallo‘ und ,Wie geht’s‘, und dann war’s das", bedauert Angela Lewandowski.
Viele stehen täglich vor der Tür, auch solche, die Lewandowski noch nie gesehen hat. "Sie kommen mir alle schmaler vor. Corona zehrt an den Leuten." Große Sorgen bereitete ihr zu Beginn der Pandemie, dass die Gäste keinen Ort zum Aufwärmen mehr hatten. Dank einer Spende konnten sie im Frühjahr in Hotels untergebracht werden. "Da war ich sehr froh, dass sie mal ein Dach über dem Kopf hatten und die Tür hinter sich zumachen konnten."
Bei der "Alimaus" fühlt Angela Lewandowski sich am richtigen Platz. "Ich mag die Leute, und ich finde, man darf sie nicht alleine lassen. Sie freuen sich, wenn man sie anlächelt und sagt: ,Schön, dass es dich gibt!‘" Neulich sei ein junger Gast auf sie zugekommen mit den Worten: "Ihr macht das toll, ich fühle mich hier so wohl." Und das wiederum, sagt sie, tue auch ihr gut.
Gegen Schmerzen: als Zahnärztin ehrenamtlich im Zahnmobil
Dr. Celia Kraft-Wolff (71) arbeitet im Hamburger Projekt Zahnmobil seit dessen Start im Jahr 2008. Die Zahnmedizinerin macht auch in Pandemiezeiten ehrenamtlich weiter: "Denn ich fühle mich gesund. Wir machen nur provisorische Füllungen und vermeiden Aerosole. Und wir ziehen deutlich mehr Zähne." Wer eine Füllung braucht, bleibt derzeit eher weg. Die Patienten kommen wegen ihrer Schmerzen. "Viele wollen die Zähne weghaben, die ihnen nur noch wehtun." Sechs bis acht Patient(inn)en behandelt die Zahnärztin in einer zweistündigen Sprechstunde wie bei der Tagesstätte "Alimaus" nahe der Reeperbahn.
Im Zahnmobil behandeln Celia Kraft-Wolff und eine Assistentin ruhig und sicher. Der Fahrer vergibt Nummern an die Wartenden und nimmt Patientendaten auf. Auch Fahrer und Mitarbeiterinnen sind seit 2008 dabei: "Denen muss ich ein großes Lob aussprechen." Braucht jemand eine Wurzelbehandlung, eine Prothese oder den Kieferchirurgen, bekommt er oder sie einen Termin in der ehrenamtlichen Zahnambulanz im Hafenkrankenhaus, notfalls am selben Tag.
Was nimmt Celia Kraft-Wolff mit, wenn ihre Sprechstunde beendet ist und das Zahnmobil in die Garage fährt? "Ich finde es wichtig, dass ich etwas, was ich gut kann und gerne tue, in die Gesellschaft einbringen kann. Bedürftigen Menschen zu helfen, ihnen Schmerzen zu nehmen ist ein gutes Gefühl, und ich erlebe große Dankbarkeit."
Gegen Einsamkeit: eine Studentin hilft im Wohncontainer-Projekt
Frauen mit.
Melina Mörsdorf
Claudia Merten studiert Soziale Arbeit in Hamburg. Seit knapp drei Jahren wirkt sie im Rahmen ihres Studiums ehrenamtlich im Container-Projekt für wohnungslose Frauen mit: Zehn Frauen finden je zu zweit in kleinen Containern ein Zuhause. Die 34-Jährige schätzt ihre Arbeit und die Beziehungen zu den Frauen: "Sie sind sehr dankbar, dass sie einen festen Platz haben."
Zwei Studierende sind morgens und abends im Bürocontainer präsent. Die kleine Küche darin benutzten die Frauen mit – vor Corona. Am Wochenende wurde dort mit den Studierenden gefrühstückt, abends ab und zu zusammen gekocht. Doch seit Mitte März dürfen die Bewohnerinnen das Büro nicht mehr betreten. Und sich kein Abendessen mehr zubereiten. Auch das gemeinsame Frühstück am Wochenende und das Kochen unter der Woche fallen aus – "und damit die Gespräche in entspannter Atmosphäre", bedauert Claudia Merten.
Frühstück und ein kleines Abendessen gibt es jetzt durchs Fenster. "Das hat Drive-in-Charakter. Wir müssen immer darauf hinweisen: Bitte haltet Abstand, setzt die Maske auf."
Durch die Pandemie kommen bei den Frauen große Ängste hoch: "Ihr Versorgungsnetzwerk ist weggefallen, Essensausgaben und Tagesstätten sind zu, Jobs gestrichen", berichtet Claudia Merten. Dazu die Angst vor Ansteckung… "Wenn wir nun auch noch wegbrechen würden, dann stellte sich für die Frauen die Frage: Wo bekommen wir jetzt Essen her?"
interview
"Menschenwürdig umgehen mit Obdachlosen ist möglich"
Wie kommen obdachlose Menschen in Zeiten von Corona über den Winter? Für Sozialcourage befragte Andrea Hösch die Hamburger Sozialarbeiter Julien Thiele von der Caritas und Stephan Karrenbauer von der Straßenzeitung "Hinz & Kunzt".
Andrea Hösch: Kommunen sind gesetzlich verpflichtet, wohnungslose Menschen unterzubringen. Kommt die Stadt Hamburg dieser Verpflichtung nach?
Stephan Karrenbauer: Hamburg rühmt sich gerne für seinen Umgang mit Obdachlosen. Aber völlig zu Unrecht. Tausende leben auf der Straße, die Lebenserwartung dieser Menschen liegt bei 46,5 Jahren – allein über den Sommer sind neun Menschen auf der Straße gestorben, mitten in der Öffentlichkeit. Einer sogar vor einer Polizeiwache.
Julien Thiele: Und das ist noch nicht mal ein Skandal. Offensichtlich hat sich die Gesellschaft daran gewöhnt oder damit abgefunden.
Aber wofür brüstet sich die Hansestadt denn?
Karrenbauer: Dafür, dass sie eine große Anzahl von Notbetten in Massenunterkünften zur Verfügung stellt, genau 900 Plätze.
Thiele: Wir können es kaum mit unserem Gewissen vereinbaren, Menschen dort hinzubringen. Da werden Obdachlose, die ja oft vorerkrankt sind und deshalb zur Risikogruppe gehören, trotz Corona zu viert in ein Zimmer gesteckt. Auch diese Menschen haben Angst vor Ansteckung und wollen Abstand halten, aber daran ist so nicht zu denken.
Karrenbauer: In diesen Großunterkünften werden die Menschen massenhaft mit ihrem eigenen Elend konfrontiert. Das hält niemand aus. Da geht jede Hoffnung verloren. Nicht zu frieren und nicht nass zu werden reicht nicht. Diese Menschen am Rande der Gesellschaft müssten eine Chance bekommen.
Wie könnte eine solche Perspektive aussehen?
Karrenbauer: Unser Hotelprojekt ist das beste Beispiel. Im Frühjahr 2020 konnten wir dank einer großzügigen Spende 150 Menschen für drei Monate in Einzelzimmern unterbringen – ohne jede Vorbedingung. Die Hotels standen ja wegen
des Lockdowns leer, das war eine einmalige Gelegenheit. Viele Menschen konnten das gar nicht glauben. Ein eigenes Zimmer, Privatsphäre, keiner, der dich zu einer bestimmten Uhrzeit rausschmeißt. Hoteliers, die die Menschen als Gäste bezeichneten und Frühstück servierten.
Die konnten zur Ruhe kommen, sich erholen und Kräfte sammeln. Einige arbeiten jetzt als Hausmeister in den Hotelbetrieben.
Thiele: Wir waren extrem gefordert, aber auch euphorisch. Wir haben trägerübergreifend bewiesen, dass menschenwürdiger Umgang mit Obdachlosen möglich ist.
Karrenbauer: Im Übrigen käme das nicht viel teurer als die Unterbringung in Massenunterkünften, denn dort schlagen hohe Kosten für das nötige Sicherheitspersonal zu Buche. Beim Hotelprojekt gab es keinen einzigen Polizeieinsatz.
Thiele: Eine bessere Wirtschaftsförderung kann man sich kaum vorstellen. Die Hoteliers haben Arbeit, und notleidende, kranke Menschen werden geschützt und erfahren Wertschätzung, so dass sie wieder Vertrauen in die Zukunft fassen können. Ein Hotelbetreiber hat das Projekt sogar auf eigene Faust verlängert. Er hat in seinem Freundes- und Bekanntenkreis Spenden gesammelt und einige Obdachlose für einen Monat länger beherbergt.
Wie geht es in Hamburg weiter?
Thiele: Die Pandemie verschärft die Lage der Menschen auf der Straße. Die Behörden sind im Homeoffice und nur per Mail oder Telefon erreichbar – aber welcher Obdachlose hat einen Computer zur Verfügung? Prekäre Arbeitsverhältnisse sind weggebrochen, Flaschensammeln lohnt sich nicht mehr, weil draußen weniger getrunken wird, Anlaufstationen und Hilfseinrichtungen sind geschlossen oder nur eingeschränkt nutzbar. Die Wohnungslosen sind deshalb im Stadtbild viel sichtbarer. Schon werden sie ständig verscheucht und vertrieben. Aber sie können nirgendwo hin, ihre ganze Tages- und Infrastruktur ist zusammengebrochen.
Karrenbauer: Für sie muss es sich so anfühlen, als würden sie gerade ein zweites Mal obdachlos. Thiele: Diese Menschen brauchen ein Dach über dem Kopf. Aber in Hamburg gibt es keinen Wohnraum. Da hat die Politik über Jahre hinweg versagt. Und die Helfer verzweifeln.
Karrenbauer: Es fehlt der Druck der Öffentlichkeit. Wir alleine können das nicht durchsetzen. Im Moment weiß keiner, wie wir durch den Winter kommen. Es wird für viele ziemlich schrecklich werden.
Nachbemerkung
Bis 19. Januar 2021 starben an der Kälte in Hamburg acht Menschen auf der Straße. Private Sponsoren wie Reemtsma und Kirchengemeinden haben 240 Plätze in Hotels und Containern finanziert. Die Mehrheit in der Bürgerschaft hat die Hotelunterbringung abgelehnt und auf Notunterkünfte mit Mehrbettzimmern verwiesen.