Wird das Teilhabechancengesetz seinem Namen gerecht?
Zum 1. Januar 2019 ist das Teilhabechancengesetz1 in Kraft getreten. Es soll Menschen, die schon lange erwerbslos sind, Teilhabe an Arbeit ermöglichen und eine nachhaltige Perspektive eröffnen. Das neue Förderinstrument "Teilhabe am Arbeitsmarkt" nach § 16 i SGB II sieht eine bis zu fünfjährige Förderung vor, wenn Arbeitgeber mit einer erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person unter den gesetzlich definierten Voraussetzungen ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis begründen. Neben kommunalen und privaten Arbeitgebern können auch freigemeinnützige Träger aller Branchen diese Fördermöglichkeit nutzen. Sie erhalten in den ersten beiden Jahren einen Lohnkostenzuschuss von 100 Prozent, der in den folgenden Jahren um jeweils zehn Prozent abschmilzt. Das Jobcenter finanziert zudem eine ganzheitliche beschäftigungsbegleitende Betreuung (Coaching).
Die Verbände der freien Wohlfahrtspflege haben sich intensiv für eine derartige Förderung eingesetzt. Um zu erfahren, wie die neue Förderung in den eigenen Strukturen genutzt und umgesetzt wird, haben sich die Verbände darauf verständigt, eine Umfrage durchzuführen, und einen gemeinsamen Fragenkatalog erarbeitet. Die Umfrage erfolgte von Mitte November bis Mitte Dezember 2019 in den jeweiligen Verbänden. Die beteiligten Bundesverbände führen ihre Ergebnisse auf Ebene der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) zusammen, um sie in der gemeinsamen Kommunikation mit der Politik zu nutzen.
Mehr als die Hälfte der Träger zahlt ein Entgelt nach den AVR
Die Ergebnisse dieser Abfrage sind zwar nicht repräsentativ und ihre Aussagekraft ist begrenzt. Das gilt sowohl für die Caritas-Daten als auch für die Gesamtauswertung auf BAGFW-Ebene. Sie können jedoch als Blitzlichter verstanden werden, die auf besonders gelungene Kooperationen vor Ort oder auf bestimmte Schwierigkeiten bei der Umsetzung hinweisen. Die folgenden Aussagen beziehen sich auf die Umfrage innerhalb der Caritas.
Welche Träger beteiligten sich an der Umfrage?
Die Zentrale des Deutschen Caritasverbandes (DCV) hat neben den Diözesan- und Orts-Caritasverbänden auch alle Fachverbände aufgefordert, sich an der Umfrage zu beteiligen. Insgesamt haben 120 Träger den umfangreichen Fragebogen ausgefüllt. Die meisten Rückmeldungen kamen aus den Diözesen Aachen, Essen, Freiburg, Köln, Mainz, Münster, Osnabrück, Paderborn und Rottenburg-Stuttgart (in der Summe 81 Prozent). Auf Ebene der Bundesländer war die Beteiligung in Nordrhein-Westfalen (NRW) und Baden-Württemberg (BW) am höchsten (gemeinsam knapp 70 Prozent).
Knapp die Hälfte der Umfrageteilnehmer (46 Prozent) sind Beschäftigungs- beziehungsweise Bildungsträger, zehn Prozent haben ihren Schwerpunkt in der Altenhilfe. Auch Einrichtungen der Behindertenhilfe und solche mit Angeboten für Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten haben an der Umfrage teilgenommen (zum Beispiel Beratungsstellen, Wohnungslosenhilfe, existenzunterstützende Dienste). Viele Einrichtungen haben mehrere Schwerpunktbereiche, so dass eine eindeutige Zuordnung nicht möglich ist.
Wie sehen die Verträge aus?
Von den 120 teilnehmenden Trägern haben 99 Träger Personen eingestellt, die nach § 16 i SGB II gefördert werden.2 In der Summe haben die befragten Träger 664 geförderte Arbeitsverträge geschlossen. Fast genau die Hälfte der Verträge ist auf zwei Jahre befristet (51 Prozent)3 , bei einem Fünftel (22 Prozent) wird die maximale Förderdauer von fünf Jahren ausgeschöpft.4 Die vereinbarte Arbeitszeit beträgt bei 43 Prozent der Fälle 31 bis 40 Stunden pro Woche. Mit 41 Prozent liegen Teilzeitverträge mit einem Umfang von 25 bis 30 Wochenstunden nahezu gleichauf. Nur bei 15 Prozent der Verträge ist eine Arbeitszeit von 15 bis 24 Stunden pro Woche vorgesehen.
Mit 54 Prozent zahlen mehr als die Hälfte der Träger den Teilnehmenden ein Entgelt nach den Richtlinien für Arbeitsverträge in den Einrichtungen des Deutschen Caritasverbandes - kurz AVR. Von der Ausnahmeregelung nach § 3d AVR (Allgemeiner Teil) machen 24 Prozent Gebrauch.5 In diesen Fällen wird in der Regel der gesetzliche Mindestlohn gezahlt. Bei einem geringen Anteil kommen auch andere Arten der Entlohnung zur Anwendung, wie zum Beispiel branchenoder ortsübliche Entlohnung, der Pflegemindestlohn oder der Garten- und Landschaftsbau-Tarif.
Bei der Berechnung des Lohnkostenzuschusses wird eine Bindung an Tarifrecht oder kirchliche Arbeitsrechtsregelungen berücksichtigt, nicht aber Sonder- beziehungsweise Einmalzahlungen wie Weihnachts- oder Urlaubsgeld. Die Rückmeldungen der Träger zeigen, dass diese gesetzlichen Vorgaben umgesetzt werden. Bei der Anwendung des kirchlichen Arbeitsrechts/Tarifrechts berichten 53 Träger (58 Prozent) davon, dass bestimmte Gehaltsbestandteile nicht anerkannt werden, insbesondere die Beiträge zur betrieblichen Altersvorsorge (KZVK) werden hier genannt. Hier ist zu beachten, dass zwischenzeitlich eine Klarstellung durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) erfolgte, wonach diese Beiträge ebenfalls refinanziert werden.
In den ersten Jahren der Förderung wird der Lohn zu 100 Prozent bezuschusst. Da die Teilnehmenden aber regelmäßig umfassend angeleitet und unterstützt werden müssen - auch über das begleitende Coaching hinaus - entstehen dem Arbeitgeber ungedeckte Overheadkosten. Nur 14 Prozent der Arbeitgeber erhalten eine weitere, über den Lohnkostenzuschuss nach §16 i SGB II hinausgehende Förderung. In erster Linie handelt es sich in diesen Fällen um kommunale Mittel aus dem Passiv-Aktiv-Transfer (PAT)6 , in Einzelfällen werden kirchliche oder auch Landesmittel zur Verfügung gestellt.
Wie kommen die Verträge zustande?
Die Mehrzahl der Verträge (60 Prozent) kam dadurch zustande, dass sich Träger beim Jobcenter nach der Möglichkeit einer § 16 i-Förderung für eine bestimmte Person erkundigt haben. Rund ein Viertel der Träger hat sich mit einem konkreten Arbeitsplatzangebot an das Jobcenter gewandt. Nur bei 14 Prozent der Rückmeldungen ging die Initiative vom Jobcenter aus. Die große Mehrheit (84 Prozent) der geförderten Arbeitnehmer(innen) war in den letzten sechs Monaten vor Beginn der Förderung nach § 16 i SGB II bereits in einer anderen Fördermaßnahme.
Welche Tätigkeiten werden ausgeübt?
Die geförderten Arbeitnehmer(innen) üben vor allem Tätigkeiten in den Bereichen Verkauf, Hausmeisterdienste, Verwaltung/Büro, Handel/Logistik sowie Hauswirtschaft aus. Viele sind in Stromspar-Check-Projekten oder einer Tafel beziehungsweise Kleiderkammer angestellt, wo sie neben dem Verkauf oder Lager häufig auch Fahrdienste übernehmen. Wie sieht das Coaching aus? Die beschäftigungsbegleitende Betreuung kann das Jobcenter entweder selbst durchführen oder einen externen Dritten damit beauftragen. Es ist jedoch nicht vorgesehen, dass der Arbeitgeber das Coaching selbst sicherstellt. Bei der Frage, wer das Coaching durchführt, haben elf von 98 antwortenden Trägern mehr als eine Antwortoption gewählt. Das kann zum Beispiel daran liegen, dass sie mehrere Standorte haben, die jeweils unterschiedlichen Jobcentern zuzuordnen sind. Diese elf Träger vereinen 23 Prozent der zurückgemeldeten Förderfälle auf sich, bei denen folglich die eindeutige Zuordnung zur coachenden Institution nicht möglich ist. In 26 Prozent der geförderten Fälle coacht das Jobcenter, in 41 Prozent ein freigemeinnütziger Träger und in zehn Prozent ein privat-gewerblicher Anbieter (s. Tabelle).
Sind Träger mit dem Coaching zufrieden?
Die Umsetzung der beschäftigungsbegleitenden Betreuung beurteilen 60 Prozent der Träger als sehr gut beziehungsweise eher gut, 33 Prozent als eher schlecht und sieben Prozent als sehr schlecht (s. Diagramm).
Die Rückmeldungen der Träger machen deutlich, dass für den Erfolg des beschäftigungsbegleitenden Coachings viele Faktoren wichtig sind. Die fachliche Qualifikation des Coachs ist unabdingbar, ebenso eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Coach und zu betreuender Person. Hinzu kommen organisatorische Absprachen zwischen allen Beteiligten: Zeit, Ort, Rhythmus, Räumlichkeiten etc. müssen geklärt sein.
Auch wenn die Teilnehmenden nicht immer ohne Einschränkung zur Teilnahme am Coaching bereit sind, etwa weil sie für sich keinen Bedarf erkennen können, stellen die Arbeitgeber fest, dass grundsätzlich ein sehr großer Anleitungsbedarf besteht. Die gesetzlichen Vorgaben zur Zielgruppe des § 16 i SGB II lassen dies erwarten. Der große Bedarf wird vom beschäftigungsbegleitenden Coaching nur zum Teil aufgefangen. 41 Prozent der Träger schätzen den über das Coaching hinausgehenden Aufwand der Anleitung und Betreuung arbeitgeberseitig auf bis zu zwei Stunden pro Woche, 40 Prozent auf drei bis fünf Stunden. Faktisch coachen die fachpraktischen Anleiter(innen) in den Einrichtungen der Caritas folglich bereits jetzt. Diese Leistung wird jedoch nicht refinanziert. Viele Träger plädieren nicht zuletzt deshalb dafür, dass die Einrichtungen das Coaching selbst durchführen, sofern sie vor Ort über qualifizierte Fachkräfte verfügen.
Die organisatorische Umsetzung gelingt nach den Berichten der Träger nicht immer zufriedenstellend. Manchmal meldet sich der Coach überhaupt nicht beim Arbeitgeber, auch nicht auf Nachfrage. In einigen Fällen findet das Coaching dagegen immer beim Arbeitgeber statt, zum Beispiel aufgrund fehlender Räumlichkeiten beim coachenden Träger. Nicht selten fühlen sich die geförderten Teilnehmer(innen) gegenüber der "normalen" Belegschaft dann stigmatisiert. Einige Coaches bestehen nach den Rückmeldungen der Träger auf einem festen zeitlichen Rhythmus von beispielsweise zwei Wochen. Der individuelle Bedarf kann davon abweichen beziehungsweise ändert sich je nachdem, ob zum Beispiel eine akute Krise zu bewältigen ist.
Sind Weiterbildung und Praktika möglich?
Im Rahmen von § 16 i SGB II sind angemessene Zeiten einer erforderlichen Weiterbildung oder eines betrieblichen Praktikums bei einem anderen Arbeitgeber förderfähig. Auch wenn der Bedarf an Weiterbildung offenbar vorhanden ist - vor allem in den Bereichen Soft Skills, tätigkeitbezogene Qualifizierung, Führerschein, IT und Sprache - sind die Zahlen verhältnismäßig niedrig: Nur 28 Prozent der Träger haben angegeben, dass bereits eine Weiterbildung stattfand, nur bei fünf Prozent der Träger absolvieren die geförderten Teilnehmer(innen) gerade ein Praktikum. Es kann vermutet werden, dass eine Weiterbildung am Beginn der Förderung regelmäßig nicht im Vordergrund steht, sich dies aber mit fortschreitender Dauer ändert.
Wie gelingt die Umsetzung insgesamt?
Die große Mehrheit der Caritas-Träger ist zufrieden bis sehr zufrieden mit der Umsetzung des neuen Teilhabeinstruments (88 Prozent). Viele berichten von einem großen Engagement ihres Jobcenters, insbesondere bei Auswahl und Vorbereitung der Teilnehmer(innen) und Arbeitgeber. Besonders erfolgversprechend erscheint in diesem Zusammenhang eine vorgeschaltete Maßnahme zur "Erprobung" in Form einer Arbeitsgelegenheit oder eines Praktikums.
Aber nicht alle Jobcenter räumen der neue Fördermöglichkeit einen hohen Stellenwert ein. Mancherorts sei die Förderung nur sehr schleppend angelaufen und nach wie vor gestalte sich vor allem die Besetzung von potenziellen Stellen schwierig, berichten manche Träger. Bei einigen Trägern kommt die Vermittlung primär auf Initiative der Langzeitarbeitslosen zustande. Zum Teil konnten Stellen nicht besetzt werden, weil die Fördervoraussetzungen kontrovers beurteilt wurden.
Die Umsetzung hängt vom jeweiligen Jobcenter ab
Für eine abschließende Bewertung des neuen Förderinstruments "Teilhabe am Arbeitsmarkt" ist es noch zu früh. Die Umfrage macht allerdings deutlich: Die Startphase kann ein richtungsweisendes Indiz dafür sein, wie groß die Bereitschaft der Jobcenter vor Ort ist, sich für besonders weit vom Arbeitsmarkt entfernte Menschen zu engagieren. Während einige Jobcenter die Umsetzung offenbar langfristig vorbereitet haben, scheinen andere Jobcenter deutlich zurückhaltender. So sind manche Caritas-Träger als Netzwerkpartner der Jobcenter bereits eng in Umsetzung und Monitoring eingebunden, während andere vergeblich auf eine Rückmeldung zu Arbeitsplatzangeboten warten. Einige Jobcenter haben bereits so viele Förderungen bewilligt, dass sie angesichts der mehrjährigen finanziellen Bindungen schon jetzt auf die Bremse treten müssen. Um dieses Problem zu lösen, müsste der Gesetzgeber die Bundeshaushaltsordnung ändern, die mehrjährige Budgets momentan nicht vorsieht.
Viele Verträge sind auf zwei Jahre befristet. Ein Grund dafür können Zeiten von Vorförderungen sein, die angerechnet werden. Ein anderer Grund ist vermutlich die Degression des Lohnkostenzuschusses nach zwei Jahren. Noch ist nicht absehbar, ob die Träger die Förderungen verlängern. Der Unterstützungs- und Anleitungsbedarf bleibe in der Regel hoch und Fortschritte bei der Leistungsfähigkeit stellten sich oft nur langfristig ein, so die Rückmeldungen; die oft zu spürende anfängliche Euphorie und große Motivation der Teilnehmenden dürfe darüber nicht hinwegtäuschen. Die Träger der Caritas sprechen sich deshalb dafür aus, für eine bestimmte Zielgruppe eine zeitlich unbegrenzte Förderung zu ermöglichen.
Anmerkungen
1. Siehe auch Bösel, S.: Vom Siedlungshelfer bis zu den rollenden Hausmeistern gibt es viele Jobs. In: neue caritas Heft 10/2019, S. 9 ff.
2. Zwischen der Gesamtzahl der Rückläufe insgesamt und der Gesamtzahl bei einzelnen Fragen können sich Abweichungen ergeben. Dies kann unter anderem daran liegen, dass nicht alle Teilnehmer alle Fragen beantwortet haben.
3. Abweichungen von 100 Prozent sind rundungsbedingt.
4. 15 Prozent der Verträge laufen drei Jahre, neun Prozent nur ein Jahr. Lediglich zwei Prozent sind auf vier Jahre befristet; einen unbefristeten Vertrag hat kein Träger abgeschlossen.
5. Abweichungen von 100 Prozent sind rundungsbedingt.
6. Weil die Leistungsberechtigten im Rahmen von § 16 i SGB II Einkommen erzielen, verringert sich ihre Hilfebedürftigkeit. Die auf diese Weise eingesparten Regelbedarfe (sogenannte passive Mittel) können mittels des Passiv-Aktiv-Transfers beziehungsweise -Tauschs zur Finanzierung von Arbeitsmarktdienstleistungen eingesetzt werden. Dies regelt jede Kommune selbst.
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