Soziale Teilhabe-durch oder trotz Hilfen zur Erziehung?
Die Kinder- und Jugendhilfe kann soziale Teilhabe sowohl fördern als auch einschränken, wie Berichte von Care Leavern zeigen. Für den Fachtag "Was leisten die stationären Hilfen? Heimerziehung und soziale Teilhabe" im vergangenen Jahr in Frankfurt am Main wurden mehrere Mitglieder vom Verein Careleaver zum Thema soziale Teilhabe befragt.1
Soziale Teilhabe ist ein wichtiges Thema, auch im Hinblick auf die Zeit nach der Kinder- und Jugendhilfe. Sie trägt zur Chancengerechtigkeit von jungen Menschen bei. Deshalb sollte sich die Kinder- und Jugendhilfe kritisch hinterfragen, ob sie zur sozialen Teilhabe von jungen Menschen in Pflegefamilien und Einrichtungen beiträgt, so dass diese jungen Erwachsenen mit denselben Chancen ins Leben gehen wie jene, die in Familien aufwachsen. Das eigene Taschengeld und die Kostenheranziehung sind zwei Themen, die aus Sicht der Care Leaver mit sozialer Teilhabe verbunden werden.
Care Leaver berichten, dass das Taschengeld es ihnen ermöglichte, unterschiedlichen Freizeitaktivitäten mit Freundinnen und Freunden nachzugehen. Mit den Taschengeldsätzen waren die meisten Care Leaver zufrieden. Sie kritisierten jedoch, dass bei Fehlverhalten Taschengeld entzogen wurde. Die Gründe sind sehr unterschiedlich und die Investition der eingezogenen Taschengelder ist durchaus zu hinterfragen. Eine Care Leaverin (25) berichtete: "Beim Rauchen musste man 25 Euro an die Kinderkrebsstiftung spenden." Eine andere Care Leaverin (24) erzählte, dass das eingezogene Taschengeld in Gruppenaktivitäten investiert wurde.
Bereits Grundschulkinder recherchieren Informationen im Internet
Kein Verständnis haben sie für die Kostenheranziehung, laut der junge Menschen 75 Prozent ihres Einkommens an den öffentlichen Träger der Jugendhilfe abgeben müssen (SGB VIII, § 92 ff.). Die Kostenheranziehung hat einen großen Einfluss auf die soziale Teilhabe, weil sie den jungen Menschen suggeriert, dass sich Arbeiten nicht lohnt. Außerdem verhindert sie, Geld für die Zeit nach der Jugendhilfe anzusparen. Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wird dadurch erschwert, dass die jungen Menschen sich weniger leisten können. Auch existenziell sind sie bedroht: Sie finden kaum Wohnraum, weil sie keine Kaution zahlen oder finanzielle Engpässe nicht überbrücken können. Weder auf finanzielle Unterstützung ihrer Familie noch auf Ersparnisse können sie zurückgreifen.
Handys und soziale Netzwerke bedeuten Teilhabe
Mit sozialer Teilhabe wird auch die Nutzung unterschiedlicher Medien verbunden. Das Handy und soziale Netzwerke sind wichtige Kommunikationsmittel, die nicht nur dazu dienen, sich privat auszutauschen, sondern auch schulische Angelegenheiten zu organisieren. Der Zugang zu einem Computer und zum Internet ist heute nicht mehr wegzudenken und sollte auch in der Kinder- und Jugendhilfe selbstverständlich sein, damit sich nicht vorab Chancenungleichheiten festigen. Care Leaver, die noch in der Jugendhilfe aufwachsen, machen diesbezüglich ganz unterschiedliche Erfahrungen. Die Spannbreite reicht von Medienkonzepten mit geschulten Pädagog(inn)en, die den Jugendlichen in der Gruppe Zugang zu Computern und Internet ermöglichen, bis hin zu Einrichtungen, die keinen PC zur Verfügung stellen und die Handynutzung beschränken, so dass junge Menschen selten das Internet nutzen können. Sicherlich gibt es in Einzelfällen Gründe, die Computernutzung zu begrenzen und beispielsweise das Handy über Nacht abzunehmen. Schwierig wird es jedoch, wenn diese Entscheidungen nicht im Einzelfall getroffen werden, sondern systembedingt sind. Eine Care Leaverin berichtete, dass sie in einer Gruppe lebte, in der es einen Stufenplan für die Handynutzung gab. Zu Beginn durften die jungen Menschen das Handy 15 Minuten am Tag nutzen und zuletzt mussten sie es nur nachts abgeben. Eine andere Care Leaverin erzählte, dass sämtliche Gruppen aus Kinderschutzgründen und aufgrund zu hoher Kosten keinen Internetzugang hatten. In Zeiten, in denen davon ausgegangen wird, dass Jugendliche Präsentationen am Computer erstellen und bereits Grundschulkinder Informationen im Internet recherchieren, sollte auch die Kinder- und Jugendhilfe digitalisiert werden. Dafür braucht es mancherorts ein Umdenken sowohl auf Leitungsebene als auch bei Pädagog(inn)en. Ansonsten besteht die Gefahr, dass fehlende Zugänge zu unterschiedlichen Medien Bildungsverläufe und somit auch soziale Teilhabe negativ beeinflussen.
Ein Care Leaver (16) berichtete von einem sehr positiven Beispiel. In seiner Einrichtung werden die Jugendlichen zu Medienscouts geschult, um ihr Wissen an jüngere Mitbewohner(innen) weiterzugeben und umso eine gesunde und zeitgemäße Mediennutzung für alle Bewohner(innen) zu gewährleisten.
Bildungsverläufe positiv gestaltenEine weitere Einschränkung sozialer Teilhabe sehen viele Care Leaver im Hinblick auf die Förderung von Bildungsverläufen junger Menschen in der Kinder- und Jugendhilfe. Zwar werden im Rahmen der Hilfeplanung Ziele vereinbart, wie bestimmte Bildungsabschlüsse zu erreichen und junge Volljährige in den Arbeitsmarkt zu integrieren sind, doch bleiben die Ziele oft hinter den Potenzialen vieler junger Menschen in der Jugendhilfe zurück. Die Tatsache, dass in einigen Regionen Nachhilfeunterricht vom Jugendamt erst dann gewährt wird, wenn Schüler(innen) bereits versetzungsgefährdet sind, und stationäre Hilfen bereits vor Erlangung höherer Bildungsabschlüsse beendet werden, erschwert die Möglichkeit, qualifiziertere Bildungsverläufe einzuschlagen und die gesellschaftliche Vorstellung von Heim- und Pflegekindern als bildungsferne und finanziell schlechter gestellte Personengruppe zu durchbrechen.
Übergangsmodelle von Jugendamt und Jobcenter fragwürdig
Besorgniserregend ist der Trend, Übergangsmodelle und Kooperationen zwischen Jugendamt und Jobcentern aufzubauen, ohne zu berücksichtigen, dass Jugendhilfe über das 18. Lebensjahr hinaus ein Dasein im ALG-II-Bezug (Hartz IV) vermeiden könnte. Sicherlich wird es immer junge Menschen geben, die nach der Jugendhilfe von weiteren Sozialhilfen abhängig sind. Doch sollte es nicht zum Selbstverständnis der Jugendhilfe gehören, junge Menschen aufgrund von mangelnder Mitwirkungsbereitschaft oder einer zu hohen Selbstständigkeit und somit fehlenden Hilfebedarfs zum Jobcenter zu verweisen. Eltern wünschen sich, dass sich ihre Kinder entfalten und am gesellschaftlichen Leben teilhaben und nicht mit 18 Jahren Hartz-IV-Empfänger(innen) werden. Warum sollte die Jugendhilfe den jungen Menschen in Pflegefamilien und Einrichtungen mit einer anderen Haltung entgegentreten?
Die genannten Themen zeigen, dass aus Sicht der Care Leaver die Kinder- und Jugendhilfe einen wichtigen Beitrag zur sozialen Teilhabe leisten kann, aber an einigen Stellen die Erwartungen an eine qualitativ hochwertige Kinder- und Jugendhilfe nicht erfüllt. Dennoch besteht kein Zweifel, dass die Kinder- und Jugendhilfe die soziale Teilhabe im besonderen Maße fördern kann, wenn die Rahmenbedingungen stimmen und an der einen oder anderen Stelle ein Umdenken stattfindet. Viele Care Leaver haben in ihren Berichten auch zum Ausdruck gebracht, dass sie sich bewusst sind, dass die Kinder- und Jugendhilfe sie gefördert hat. Sei es, dass sie überhaupt Taschengeld und Nachhilfe bekommen haben oder die Pflegefamilie oder Einrichtung einen sicheren Lebensraum geboten hat, der es ihnen überhaupt erst ermöglichte, sich mit Bildungszielen und Zukunftsplänen auseinanderzusetzen.
Doch es muss auch gesagt sein, dass Taschengeldentzug, Kostenheranziehung, eingeschränkte Zugänge zu Medien, zu spät bewilligte Nachhilfen und zu früh endende stationäre Hilfen hausgemacht sind und von der Kinder- und Jugendhilfe und dem Gesetzgeber revidiert werden können. Nicht ohne Grund fordert der Verein Careleaver, dass die Kostenheranziehung abgeschafft und § 41 SGB VIII von einer Soll- zu einer Muss-Vorschrift wird.
Anmerkung
1. Der Autor befragte mehrere Care Leaver am virtuellen Stammtisch (ViSta), einer bundesweiten Whatsapp-Gruppe mit 100 Mitgliedern, die größtenteils im Verein Careleaver aktiv sind. An der Gruppendiskussion nahmen um die 20 Care Leaver im Alter von 16 bis 50 Jahren teil.
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