Geflüchtete an der griechischen Grenzen
Mit mehreren Pressemeldungen zur Situation der unbegleiteten Minderjährigen auf den griechischen Inseln hat der Deutsche Caritasverband (DCV) in den letzten Wochen Planken in der Debatte um die EU-Außengrenzen und die Situation der Flüchtlinge in Griechenland gesetzt. Für unsere politischen Gespräche und Bemühungen ist innerhalb dieser Flankierung der konsequente Einsatz für vulnerable Flüchtlingsgruppen von Maßstäben geprägt, die dieses Hintergrundpapier konkretisiert.
I. Hintergrund
Die Fluchtroute von der Türkei in die Europäische Union hat nicht zuletzt auch durch die jüngsten Entwicklungen in der Türkei wieder deutlich an Bedeutung gewonnen. Durch seit vielen Jahren andauernde Kriege und Terror in Afghanistan und Syrien befinden sich Millionen Menschen auf der Flucht. Durch die Kriegshandlungen in Nordsyrien sind allein in den letzten Monaten fast eine Million Menschen vertrieben worden. Die Ankunftszahlen von Migrant(inn)en und Schutzsuchenden in Griechenland waren laut UNHCR bereits im Jahre 2019 im Vergleich zu 2018 wieder angestiegen, wohingegen die Ankunftszahlen in Spanien und Italien im Vergleich zu 2018 gesunken sind.1
Laut Angaben von Caritas Griechenland2 sind im Jahre 2019 insgesamt knapp 75.000 Personen in Griechenland angekommen (circa 60.000 auf dem Seeweg und annähernd 15.000 auf dem Landweg). Ein signifikanter Anstieg war in den Monaten von August bis Oktober 2019 zu beobachten, in denen allein circa 31.000 Personen in Griechenland ankamen. Auch aktuell kommen weiterhin Menschen in Griechenland an, laut UNHCR waren es im Januar 2020 4106 Personen. Aktuell sind es laut IOM3 bereits 5554 Personen.
Die griechischen Inseln sind - von der Türkei auf dem Seeweg kommend - die erste Eintrittsmöglichkeit in die Europäische Union. Sie sind deshalb meist das erste Ziel der Schutzsuchenden und stehen im besonderen Fokus der Öffentlichkeit. Auf den griechischen Inseln Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos leben derzeit circa 41.000 Migrant(inn)en und Flüchtlinge4 (34 Prozent davon sind Kinder, von denen wiederum etwa 70 Prozent jünger als zwölf Jahre sind; circa 14 Prozent der Kinder auf den Inseln, also etwa 23005 - hier geben unterschiedliche Quellen abweichende Zahlen an - sind unbegleitet oder von ihren Eltern getrennt).6 Die griechischen Ankunftszentren (Hotspots) auf den Inseln bieten nur Platz für etwa 5400 Personen.7 Von den etwa 5300 unbegleiteten Minderjährigen (umF) in ganz Griechenland hat nur jedes fünfte Kind einen Platz in einer angemessenen Unterkunft.8
Angesichts der offensichtlichen Überforderung der griechischen Behörden und der verheerenden Aufnahmebedingungen auf den griechischen Inseln kann eine kindgerechte Unterbringung und Versorgung der unbegleiteten Minderjährigen für die Dauer des Asylverfahrens derzeit nicht geleistet werden. Gleiches gilt für begleitete Minderjährige. Auch für sie kann eine angemessene Unterbringung nicht ermöglicht werden. Hinzu kommt, dass durch die zunehmende Gewalt, insbesondere auf der Insel Lesbos, die Sicherheit der Minderjährigen nicht mehr gewährleistet werden kann. Neben diesen Personengruppen befinden sich außerdem weitere besonders schutzbedürftige Personengruppen auf den griechischen Inseln (beispielsweise Alte, Behinderte, Kranke, Traumatisierte, Schwangere, Frauen mit Neugeborenen, alleinreisende Frauen), die besondere Bedarfe haben, denen angesichts der Situation auf den griechischen Inseln in keiner Weise adäquat begegnet wird.
Mit Blick auf die Möglichkeit, Minderjährige in anderen EU-Staaten aufzunehmen, ist zu unterscheiden zwischen unbegleiteten Minderjährigen, die Familienangehörige in einem der Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben, und unbegleiteten Minderjährigen, die keine Familienangehörigen in der EU haben. Hiervon sind wiederum begleitete Minderjährige zu unterscheiden, die sich mit Familienangehörigen auf den griechischen Inseln befinden. Im derzeitigen politischen Diskurs werden die unterschiedlichen Gruppen von Minderjährigen regelmäßig nicht differenziert oder in der Diskussion vermengt.
Rechtlich ist wie folgt zu unterscheiden:
- Bei unbegleiteten Minderjährigen, die Familienangehörige in der EU haben, ist bei Asylantragstellung auf den griechischen Inseln nach derzeitiger Rechtslage im Rahmen des sogenannten Dublin-Verfahrens⁹ zu prüfen, ob diese im Wege der Familienzusammenführung in den Aufenthaltsstaat von Familienangehörigen in der EU überstellt werden müssen, um dort ihr Asylverfahren durchzuführen. Dies erfolgt angesichts der Überforderung der griechischen Behörden und auch angesichts von Verzögerungen in den um Aufnahme ersuchten EU-Mitgliedstaaten in der Praxis jedoch nur schleppend.
- Bei unbegleiteten Minderjährigen, die keine Familienangehörigen in den EU-Mitgliedstaaten haben, wäre nach derzeitiger Rechtslage Griechenland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig. In diesen Fällen könnten andere EU-Staaten die Personen auch im Rahmen der Dublin-Regelung auf freiwilliger Basis aufnehmen. Gleiches gilt für begleitete Minderjährige mit ihren Angehörigen.
II. Bewertung und Forderungen des DCV
Die menschenunwürdigen Bedingungen für Schutzsuchende auf den griechischen Inseln und an der griechisch-türkischen Außengrenze der Europäischen Union dürfen aus Sicht des DCV nicht länger hingenommen werden. Vielmehr braucht es solidarisches Handeln und gelebte Humanität anderer EU-Staaten. Den Menschen, insbesondere den Kindern, muss schnellstmöglich geholfen werden.
Im Einzelnen fordert der DCV:
- Die humanitäre Hilfe für Schutzsuchende auf den griechischen Inseln und an der griechisch-türkischen Grenze sowie die strukturelle Unterstützung für das Aufnahme- und Asylsystem in Griechenland sind dringend notwendig und müssen intensiviert werden.
Dies umfasst eine intensivierte Unterstützung der griechischen Behörden durch andere Mitgliedstaaten der EU und durch das Europäische Büro zur Unterstützung in Asylfragen (EASO). Weiterhin ist humanitäre Unterstützung durch andere EU-Mitgliedstaaten durch adäquate Grundversorgung in den Bereichen Unterbringung, Gesundheit, Hygiene, Bildung, Versorgung mit Lebensmitteln, Medikamenten, Decken etc. erforderlich.
Da dies aber aktuell nicht ausreicht, fordert der DCV darüber hinaus:
- Im Hinblick auf die gemeinsame Verantwortung der EU für die gegenwärtige Situation auf den griechischen Inseln sollte weiterhin eine gemeinsame Lösung anvisiert werden.
Dazu gehört bei unbegleiteten Minderjährigen mit Familienangehörigen in anderen EU-Mitgliedstaaten eine konsequente Familienzusammenführung in Anwendung der geltenden Dublin-Verordnung. Griechische Aufnahmeersuche müssen von EU-Mitgliedstaaten, in denen sich Familienangehörige aufhalten, schnell beantwortet und großzügig gehandhabt werden. Anschließend ist eine zügige Überstellung der unbegleiteten Minderjährigen in andere EU-Mitgliedstaaten erforderlich. Für die Dauer des Dublin-Verfahrens sollten unbegleitete Minderjährige auf das griechische Festland gebracht und dort adäquat untergebracht werden.
Für unbegleitete Minderjährige ohne Familienangehörige in anderen EU-Mitgliedstaaten, begleitete Minderjährige mit Familienangehörigen und weitere besonders schutzbedürftige Personengruppen kommt eine freiwillige Aufnahme durch Mitgliedstaaten der EU im Rahmen der humanitären Klausel der Dublin-Verordnung in Betracht. Denkbar wäre hier eine konzertierte anteilige Aufnahme durch die Einrichtung eines RelocationVerfahrens im Rahmen eines Zusammenschlusses mehrerer aufnahmebereiter EU-Mitgliedstaaten. Bis zur Überstellung im Rahmen eines solchen Relocation-Verfahrens sollten auch diese Personengruppen auf das griechische Festland gebracht und dort adäquat untergebracht werden.
- Solange eine gemeinsame Lösung der EU nicht zeitnah realisierbar ist, sollte Deutschland auch eine nationale Maßnahme in Betracht ziehen und Menschen aufnehmen.
Auch eine nationale Lösung wäre für unbegleitete Minderjährige ohne Familienangehörige in anderen EU-Mitgliedstaaten, begleitete Minderjährige mit Familienangehörigen und weitere besonders schutzbedürftige Personengruppen im Rahmen der humanitären Klausel der Dublin-Verordnung rechtlich möglich.
Für eine Aufnahme im Rahmen der humanitären Klausel der Dublin-Verordnung muss in Deutschland der Bund seine Zustimmung erteilen. Im Falle der Zustimmung könnten die Personen dann im Rahmen des Königsteiner Verteilungsschlüssels auf die Länder und dann weiter auf die Kommunen verteilt werden. Im Rahmen des Königsteiner Schlüssels wäre dies über eine Überquote für die bereiten Länder möglich. Dabei ist darauf zu achten, dass nur auf die Kommunen Flüchtlinge verteilt werden, die dazu bereit sind.
Die Caritas begrüßt in diesem Zusammenhang nachdrücklich die zahlreichen Initiativen von Kommunen, zivilgesellschaftlichen Organisationen und kirchlichen Akteuren in Deutschland und erklärt auch ihre eigene Bereitschaft zu unterstützen. Im Rahmen der Verteilung von im Mittelmeer in Seenot geretteten Personen auf die EU-Mitgliedstaaten hat sich unter anderem das Bündnis der "Städte Sicherer Häfen"10 gegründet. Es handelt sich um ein Bündnis von inzwischen mehr als 140 Kommunen, die sich bereiterklärt haben, über die Quote des Königsteiner Schlüssels hinaus zusätzliche Flüchtlinge aufzunehmen. Mehr als die Hälfte dieser Kommunen haben sich nun auch bereiterklärt, Personen von den griechischen Inseln aufzunehmen. Außerdem haben bereits zahlreiche Bundesländer ihre Bereitschaft signalisiert, zusätzlich Flüchtlinge aus Griechenland aufzunehmen.
- Um derart untragbare Verhältnisse an den Außengrenzen der EU künftig zu verhindern, braucht es unbedingt ein funktionierendes europäisches11Asylsystem, das solidarisch und humanitär ausgestaltet ist. Dies muss der Leitgedanke für die Überlegungen zu dem von der EU-Kommission angekündigten Europäischen Asyl- und Migrationspakt sein
Zu einem funktionierenden europäischen Asylsystem gehört auch, dass der Bruch europäischen Rechts keine Option zur Lösung von Asyl- und Migrationsfragen darstellt. Das derzeitige Vorgehen Griechenlands, für einen Zeitraum von zunächst einem Monat keine Asylgesuche an der griechischen Außengrenze der EU mehr anzunehmen, wird von der Caritas daher auf das Schärfste kritisiert. Durch dieses Verhalten Griechenlands wird der Kern des europäischen Flüchtlingsschutzes konterkariert.
- Darüber hinaus bleibt es eine dauerhafte Aufgabe, Fluchtursachen wirkungsvoll zu bekämpfen. Es sind umfassende politische Bemühungen erforderlich, um den Krieg in Syrien oder terroristische Attacken in Afghanistan zu beenden.
Anmerkungen
1. UNHCR - Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen: Desperate Journeys. January to September 2019.
2. Caritas Hellas: Refugee Crisis in Greece. January 2020.
3. International Organisation for Migration (IOM): Flow Monitoring Europe. Stand: 26.2.2020.
4. UNHCR: Aegean Islands - Weekly Snapshot, 27 January -02 February 2020.
5. UNHCR: Factsheet Greece, November 2019.
6. UNHCR: Aegean Islands - Weekly Snapshot. 27 January -02 February 2020.
7. UNHCR: Factsheet Greece. November 2019.
8. UNHCR: Factsheet Greece. November 2019.
9. Auch wenn sich das Dublin-Verfahren als rechtliche Grundlage zur Bewältigung der aktuellen Herausforderungen bei der Aufnahme von Geflüchteten als insgesamt ungenügend erweist, so ist die Dublin-Verordnung dennoch bis heute geltendes Recht. Sie bietet im Hinblick auf die Familienzusammenführung und die Möglichkeit zu humanitärer Aufnahme nach wie vor rechtliche Grundlagen für vereinfachte Verfahren, die in diesem Zusammenhang genutzt werden können und müssen.
10. Potsdamer Erklärung der "Städte Sicherer Häfen", 3. Juni 2019.
11. Ein "europäisches" Asylsystem muss nicht zwangsläufig von Anfang an alle Mitgliedstaaten in dieselbe Pflicht nehmen, sollte aber gemeinsam verantwortet werden.
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