Unterstützte Entscheidungsfindung gehört in die Eingliederungshilfe
Das Bundeskabinett hat am 23. September 2020 einen Gesetzentwurf beschlossen, der das Vormundschafts- und Betreuungsrecht neu strukturiert und an die Bedürfnisse der Gegenwart anpasst. Hinsichtlich des Betreuungsrechts ist das Ziel der Reform vor allem, die Selbstbestimmung der betroffenen Menschen zu stärken und die Qualität der rechtlichen Betreuung zu verbessern. Die Wünsche der/des Betreuten sind dabei der zentrale Maßstab. Die Gesetzesänderungen sollen sicherstellen, dass der betreute Mensch in sämtlichen Stadien des Betreuungsverfahrens besser informiert und stärker eingebunden wird.
Vor allem die sogenannte unterstützte Entscheidungsfindung ist eine wichtige Schnittstelle für die Dienste und Einrichtungen für Menschen mit Behinderung. Der Gesetzgeber möchte dieses Instrument stärken. Der Bundesverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) hat jedoch Sorge, dass dieses Mittel wenig Anwendung in der Praxis findet. Denn der/die Betreute hätte bereits seit Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention bei der Entscheidungsfindung von seinem/seiner Betreuer(in) unterstützt werden müssen. Die Praxis zeigt jedoch, dass oftmals keine unterstützte Entscheidungsfindung stattfindet und der/die gesetzliche Betreuer(in) oftmals als Stellvertreter(in) entscheidet. Das führt im Rahmen der Betreuung zu erheblichen Umsetzungsproblemen und -defiziten, die das Selbstbestimmungsrecht beschränken. Daher setzt sich der CBP dafür ein, dass die Neuerung und die Stärkung des Selbstbestimmungsrechts nicht nur eine Reform auf dem Papier wird, sondern für die Betreuten zu spürbar mehr Selbstbestimmung und Autonomie führt.
Entscheidungsfindung als Teil des sozialrechtlichen Hilfesystems
Um dieses Anliegen zu befördern, schlägt der CBP gemeinsam mit dem Bundesverband evangelische Behindertenhilfe (BeB) im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses ein Modell vor, das den Kernbereich der rechtlichen Betreuung von der Unterstützung bei der Entscheidungsfindung trennt. Die unterstützte Entscheidungsfindung wird mit ihren hohen Anforderungen an Kommunikation und Wissensvermittlung und dem Gedanken der Ausübung von Assistenz eine Leistung des sozialrechtlichen Hilfesystems und dort verortet. Die ureigene rechtliche Betreuung mit dem Instrument des stellvertretenden Handelns verbleibt in den zivilrechtlichen Vorschriften zum Betreuungsrecht.
Für den Bereich der Eingliederungshilfe liegt dem Modell der Gedanke zugrunde, dass beim Großteil der rechtlich Betreuten eine wesentliche Beeinträchtigung vorliegt, so dass Leistungen aus der Eingliederungshilfe in Anspruch genommen werden können. Die Eingliederungshilfe regelt den Leistungstatbestand der Assistenzleistung in § 78 SGB IX. Die Assistenzleistungen dienen dem Ziel, dass die Klient(inn)en ihren Alltag und ihre Tagesstruktur selbstbestimmt leben können.
Die Unterstützung bei der Entscheidungsfindung könnte als Fachleistung in § 78 SGB IX verankert werden, zum Beispiel als "rechtliche Assistenz". Bei der "rechtlichen Assistenz" würde es mit Blick auf die Vorgaben des § 12 Abs. 3 UN-BRK um eine Assistenzleistung gehen, die vor allem das Selbstbestimmungsrecht von Menschen mit Behinderung bestmöglich wahrt. Diese "rechtliche Assistenz" würde Menschen mit Behinderung so weit wie möglich dazu befähigen, eigene Entscheidungen zu treffen und rechts- und handlungsfähig zu sein. Dafür wäre erforderlich, sich mit den Menschen mit Behinderung zu verständigen und ihnen die entsprechenden Inhalte zu vermitteln, damit ihre Wünsche und Präferenzen erkannt werden. Die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts kann nur gelingen, wenn alle Beteiligten dieselbe Sprache sprechen und beeinträchtigungsbedingte Bedarfe fachgerecht berücksichtigt werden, zum Beispiel durch das Dolmetschen in Deutsche Gebärdensprache, in Leichte Sprache oder durch computergestützte Kommunikation. Dieses hohe Maß an Fachlichkeit wird regelmäßig auch benötigt, um den Betroffenen individuell mit ausreichend Kenntnis und Erfahrung auszustatten und eine selbstbestimmte, autonome Entscheidung überhaupt erst zu ermöglichen.
Eine solche Assistenz wäre eine sehr persönliche, kontinuierliche und umfassende Form der Unterstützung, die die Bestellung eines rechtlichen Betreuers nicht erforderlich macht, beziehungsweise das Wirken des rechtlichen Betreuers auf ein Minimum beschränkt. Eine Assistenz würde den Menschen mit Behinderung bestärken und befähigen, eigene Entscheidungen im Rechtsverkehr zu treffen. Dafür sollte die Assistenz die Vorstellungen, Ideen und Wünsche der/des Betreuten im Hinblick auf mögliche Handlungsoptionen ermitteln und beispielsweise in einem Gespräch die verschiedenen Entscheidungsalternativen aufzeigen und deren Vor- und Nachteile abwägen. Der Prozess benötigt Zeit und ein vertrauensvolles Miteinander, gegebenenfalls muss berücksichtigt werden, dass die Aufmerksamkeitsspanne begrenzt ist. Da die Assistenz den Menschen in der Regel ohnehin eng begleitet, würde die Unterstützung bei der Entscheidungsfindung durch die vertrauensvolle Zusammenarbeit befördert werden.
Die Leitgedanken des Zivilrechts und auch die fachliche Ausrichtung des rechtlichen Betreuers sind für die beschriebene Unterstützung bei der Entscheidungsfindung nur bedingt geeignet.
Enge Kooperation muss sein
Im Betreuungsrecht selbst wäre nach dem Modell des CBP nur die rechtliche Betreuung mit dem Instrument des stellvertretenden Handelns geregelt. Wichtig wäre, zu gewährleisten, dass das System des Betreuungsrechts und die unterstützenden Hilfesysteme eng kooperieren, so dass der/die rechtliche Betreuer/in über den vorausgegangenen unterstützten Entscheidungsprozess der Eingliederungshilfe gut informiert ist.
Der Vorschlag, die rechtliche Betreuung und Unterstützung bei der Entscheidungsfindung nach diesem Modell zu trennen, bedeutet nicht, dass wesentliche Grundgedanken zur Verbesserung der Qualität der rechtlichen Betreuung, die im Gesetzesentwurf vorgeschlagen werden, entbehrlich wären. Auch und gerade nach diesem Regelungsmodell ist dafür Sorge zu tragen, dass die Wünsche des/der Betreuten bestimmender Maßstab des Betreuungsrechts sind, an die der/die rechtliche Betreuer(in) gebunden ist. Essenziell ist auch, dass die rechtliche Betreuung bei Betreuerbestellung und Betreuungsführung stets eng am Grundsatz der Erforderlichkeit auszurichten und der/die Betreute in allen Stadien des Verfahrens als zentrale Figur zu beteiligen ist.
Für die Fachleistung "rechtliche Assistenz" müssen professionelle Qualitätsstandards und Mechanismen entwickelt werden, die Konzepte und Methoden zur unterstützten Entscheidungsfindung beschreiben und identifizieren und ein Instrument zur Selbstevaluation bestimmen. Selbstverständlich müssten bei der Fachleistung "rechtliche Assistenz" ebenfalls die Wünsche des Menschen Maßstab für das Handeln sein.
Parallel dazu müssten andere Unterstützungsregelungen erweitert werden, damit auch für Betreute, die keinen Anspruch auf Eingliederungshilfe haben, eine unterstützte Entscheidungsfindung vor der Betreuerbestellung sichergestellt ist.
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