Familienehre, Haushalt, Partnerwahl: vom Umgang mit Rollenbildern
Zusammen mit seiner Mutter bereitet der siebzehnjährige Kaan das Abendessen vor. Danach deckt er fein säuberlich den Abendtisch. Der Vater kommt in den Raum, begrüßt beide und setzt sich an den Esstisch. Nun betritt Maryam, Kaans ein Jahr ältere Schwester, den Raum und begrüßt die Familienmitglieder. Sie setzt sich ebenfalls, und die Familie beginnt zu essen. Die Familie unterhält sich über das vergangene Fußballspiel von Maryam, bei dem sie ihre Mannschaft fast zum Sieg geführt hätte. Dann klingelt ihr Handy. Sie geht ran und bespricht mit einer Freundin die anstehende Abendplanung. Abrupt bricht sie das gemeinsame Abendessen ab und verabschiedet sich von den Eltern, um sich für ihr Treffen zurechtzumachen. Sichtlich genervt von der Situation, beschwert sich Kaan über das Verhalten seiner Schwester, was bei der Mutter jedoch auf taube Ohren stößt. Er selber wollte sich ebenfalls am Abend mit Freunden zum gemeinsamen Videospielezocken treffen, was ihm jedoch verwehrt wird. Stattdessen muss er zu Hause bleiben, um seiner Mutter beim Abwasch zu helfen. Resigniert fügt er sich seinem Schicksal.
"Was habt ihr in dieser Situation gesehen, und was fällt euch auf?", fragt Yusuf die anwesenden Schüler(innen). Einige schauen verwundert, andere lächeln verschmitzt. Zwei Jungen melden sich. Wir befinden uns in einem Workshop des "Heroes"-Projekts der Brücke Augsburg in der achten Klasse einer Augsburger Mittelschule. Die beiden jungen Männer Yusuf und Jeremia möchten mit den Anwesenden über die Themen Geschlechtergerechtigkeit und Rollenbilder sprechen. Yusuf, der in Deutschland geboren ist und dessen Eltern in den neunziger Jahren aus Afghanistan nach Deutschland kamen, und Jeremia, dessen kulturelle Wurzeln in Ghana liegen, sind Teilnehmer im Projekt "Heroes" und beide in ihren späten Teenager-Jahren. Sie engagieren sich bereits seit mehreren Jahren in dem Augsburger Projekt, um sich für Gleichberechtigung der Geschlechter und gegen Gewalt im Namen der Ehre starkzumachen.
Dazu gehen sie zusammen mit einem "Heroes"-Gruppenleiter in örtliche Schulen und versuchen, die dortigen Schüler(innen) sensibel und dennoch zielgerichtet zum Nachdenken, Diskutieren und Hinterfragen tradierter Wertvorstellung anzuregen. Beide haben eine einjährige Ausbildung in dem Projekt abgeschlossen, das in Augsburg seit 2012 vom Freistaat Bayern sowie der Stadt Augsburg gefördert wird und das es auch in mehreren anderen deutschen Städten gibt (unter anderem Berlin, Duisburg oder München). Während dieser Zeit haben sie sich in regelmäßigen wöchentlichen Gruppenstunden mit anderen Jungen in ähnlichem Alter getroffen, um über Themen wie Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern, Ehre und Gewalt oder Diskriminierung in Deutschland zu sprechen. Neben der Wissensaneignung haben die jungen (Post-)Migranten in dieser Zeit gelernt, andere Blickwinkel einzunehmen, um auf diese Weise tradierte Rollenvorstellungen kritisch zu hinterfragen und sich von dogmatischen Ehrvorschriften zu emanzipieren.
Rollenbilder werden in den Familien weitergegeben
Auf rigide Vorstellungen eines sozial konstruierten Ehrbegriffs treffen die Jungen häufig, die nach ihrer „Heroes“-Ausbildungsphase in der Lage sind, Schulworkshops durchzuführen. Betroffen davon sind deutsche Jugendliche sowie Jugendliche mit ausländischem Pass. Insbesondere Teenager mit Zuwanderungsgeschichte transportieren klassische Rollenbilder und starre Ehrvorstellungen. Oftmals in Deutschland sozialisiert, übernehmen sie dennoch Wertvorstellungen aus dem Herkunftsland der Eltern. Vermittelt werden diese Normen zum einen durch die Familie, zum anderen durch Peergroups oder über Vorbilder in den sozialen Medien. Da in den Gruppen meist ein Konsens über bestimmte soziale Verhaltensweisen herrscht, besteht für die jungen Menschen nur selten die Möglichkeit, den Blickwinkel zu hinterfragen oder gar zu ändern.
Aus diesem Grund passiert es in den Workshops regelmäßig, dass Wertvorstellungen, vor allem hinsichtlich einer klar definierten Familienehre, als Legitimation für vermeintliche Ungleichheiten zwischen Mädchen und Jungen und die damit einhergehende ungleiche Behandlung angeführt werden. Dies zeigt sich in vielen Bereichen der Lebenswelt junger Menschen, so zum Beispiel in der Freizeitgestaltung (Mädchen müssen früh zu Hause sein, da es sonst ein schlechtes Bild auf die Familie wirft), der Partnerwahl (wenn ein Mädchen schon mehrere Freunde hatte, ist sie eine "Schlampe") oder der Teilhabe in der Familie (die Schwester muss natürlich mehr im Haushalt helfen, da das schon immer so war).
Dass solche Einstellungen männlicher Familienmitglieder zu massiven Einschränkungen der Selbstentfaltung bei Mädchen/Frauen bis hin zu Unterdrückung im Namen der Ehre führen können, ist dabei (leider) wenig verwunderlich. Die Fronten sind jedoch nicht immer so eindeutig, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Die vermeintlichen Profiteure klassischer Rollenbilder, Jungen und Männer, befinden sich meist ebenso in einem Korsett starrer und klar definierter Stärke- und Männlichkeitsnormen. So sehen es manche junge Männer als ihre Pflicht an, die Familienehre, auch mit Gewalt, zu verteidigen, wenn beispielsweise die eigene Mutter beleidigt wird. Dieser Pflicht können sie sich aufgrund eines gewissen gesellschaftlichen Drucks selbst nur schwer entziehen, auch wenn sie eine andere Einstellung zu diesem Rollenverständnis haben. Mütter und ältere Schwestern hingegen, obgleich sie am stärksten von diesen Strukturen betroffen sind, akzeptieren oft vorgegebene Familien- und Geschlechterhierarchien und geben diese aktiv weiter.
Aus der Rolle auszusteigen ist schwer
Eine komplexe und nicht immer leicht zu durchdringende Problemlage, auf die die jungen, ehrenamtlichen (Post-)Migranten in ihrer Arbeit bei "Heroes" treffen.
Jedoch bringen sie die Ressourcen mit, um andere junge Menschen anzusprechen. Sie haben durch ihr Alter und durch ihre Herkunft die optimalen Voraussetzungen, andere junge Menschen als potenzielle Rollenvorbilder emotional zu erreichen. Zudem haben sie durch ihre Sozialisation in zwei Kulturen das interkulturelle Wissen und Verständnis, um andere für mögliche Probleme zu sensibilisieren. Nicht zuletzt hat die "Heroes"-Ausbildung ihren Blick für bestimmte Konflikte geschärft und ihre kommunikativ-didaktischen Fähigkeiten verbessert, um die Problemstellungen adäquat vermitteln zu können. Durch diese Herangehensweise sind die besten Voraussetzungen geschaffen, Jungen wie Mädchen dazu zu bewegen, über gesellschaftliche und kulturelle Geschlechterungerechtigkeit zu reflektieren und diese offen zu diskutieren. Damit schaffen sie die Grundlage für Veränderungen.
Lernen, über Rollenbilder zu sprechen
Um zum Anfang zurückzukommen: Einer der beiden Schüler, die sich zum Video gemeldet hatten, sagt: "Es ist doch ganz klar, hier sind die Rollen zwischen Jungen und Mädchen getauscht worden. Der Bruder muss alles machen und darf nicht raus, und die Schwester hat alle Freiheiten der Welt. Das finde ich schon sehr unfair!"
Leider wird die unfaire Lebensrealität vieler Mädchen oft nicht so offensichtlich als ungerecht wahrgenommen. Deshalb ist es umso wichtiger, gerade mit jungen
Menschen in den Dialog zu treten, um mit ihnen über gemeinsame Werte zu sprechen und ihnen Alternativen aufzuzeigen, die ihnen sonst in ihrem alltäglichen
sozialen Umfeld verwehrt blieben.
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