Sexualpädagogik fehlt in katholischen Einrichtungen
Es ist die Beschäftigung mit den systemischen Ursachen, den begünstigenden Faktoren sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche, die deutlicher denn je auf einen schon lange existierenden Notstand aufmerksam macht: Es gibt – von einzelnen Projekten abgesehen – keine breit verankerte Sexualpädagogik in katholischen Einrichtungen. Es fehlt an Konzepten und didaktisch- methodischen Umsetzungsideen und auch an einer sexualethischen Grundlegung. Damit steht die Kirche nicht allein, aber
in der Tradition und im Kontext katholischer Sexualnormen, die eher verbietenden und begrenzenden als fördernden und gestaltenden Charakter haben. Diese Nichtbeschäftigung führt nicht selten zu sexualitätsfeindlichen oder zumindest -skeptischen Grundhaltungen. Die Debatte um die sexualisierte Gewalt scheint diese Haltung noch zu bestätigen und lässt Praktiker(innen) häufig noch unsicherer und zögerlicher sein. Dabei stellen das Tabuisieren des Sexuellen und das Fehlen von entsprechenden Angeboten einen Risikofaktor für sexualisierte Gewalt dar. Und nicht nur das: Kindern und Jugendlichen in den Einrichtungen und Diensten wird so ein wichtiges Lernfeld in einer zentralen Lebensäußerung nicht eröffnet. Sie bleiben allein mit ihren Fragen und Anliegen zu sexueller Entwicklung, zu Beziehungsformen und deren Gestaltung, zu konkretem Sexualverhalten und sexueller Orientierung – um nur einige Themenfelder zu nennen.
Den Mitarbeiter(inne)n geht es häufig nicht besser. Sie sind verunsichert, was sie sagen und wie sie handeln dürfen, wo Grenzen zu setzen sind und was zu ermöglichen ist. All dies prägt ein Klima, das weniger von Zutrauen und selbstbestimmtem Handeln als vielmehr von Vermeidung und Verzagtheit geprägt ist. Die Zusage, Sexualität als „Geschenk Gottes"1 zu begreifen, steht etwas verloren im Raum. Ihr folgen keine Taten, keine Konkretionen, die lehramtliche Verkündigung tritt auf der Stelle und der notwendige Diskurs findet nicht statt.
Sexualpädagogik ist wirksam
Sexualpädagogik fördert Entfaltung von sexueller Entwicklung. Kinder und Jugendliche werden ermutigt, über sexuelle Dinge zu sprechen, Worte zu finden für das, was sie beschäftigt und unter Umständen auch bedrückt. Sie werden ermutigt, ihren eigenen sexuellen Weg zu gehen, wenn nötig, auch gegen Widerstand. Sie werden ermutigt, zunehmend sexuell selbstbestimmt zu leben und sich auch für das Selbstbestimmungsrecht anderer einzusetzen. Hinter einer solchen Sexualpädagogik steht die Überzeugung, dass Sexualität erlernt wird, dass sie geprägt wird durch gesellschaftliche, kulturelle, religiöse und auch geschlechtsspezifische Konstrukte, die zuweilen diesem Selbstbestimmungsrecht im Wege stehen. Den ganz eigenen, individuellen Ausdruck auch in der Sexualität zu finden, ist herausfordernd, braucht Mut und ist ein Prozess, der übrigens mit dem Ende der Pubertät nicht abgeschlossen ist. Kompetente und gleichzeitig sensible (sexual-)pädagogische Begleitung kann hier wertvolle Hilfestellung leisten.
Sexualpädagogik von Anfang an und für alle
Menschen sind sexuelle Wesen von Anfang an und auch sexuelles Lernen geschieht von Anfang an. Das heißt auch, für sexualpädagogische Angebote gibt es kein „zu früh", wohl braucht es alters- und zielgruppenspezifische Angebote. Diese Zielgruppen können Eltern sein, die die Entwicklung ihrer Kinder von klein auf prägen und begleiten. Sie setzen sich fort über die Erzieher(innen) in den Kindertagesstätten und in Einrichtungen der Jugendhilfe und bei Lehrer(inne)n aller Schulklassen und -formen und ebenfalls bei Haupt- und Ehrenamtlichen in der Jugendarbeit. Die Themen und methodischen Herangehensweisen sollten sich an den Fragen und Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen in den verschiedenen Altersstufen orientieren. Kinder in stationären Einrichtungen sollten genauso berücksichtigt werden wie Jugendliche mit Handicaps. Und dies sollte im besten Fall nicht aufhören, das heißt, auch junge Erwachsene bis hin zu älter werdenden Menschen sollten in den Blick genommen werden. Sexuelle Entwicklung ist ein lebenslanger Prozess, auch ein ebenso langer Lernprozess, der pädagogisch, erwachsenenbildnerisch und auch seelsorglich in ganz vielfacher Weise begleitet werden kann.
Auch in katholischen Einrichtungen möglich
Auf den ersten Blick scheinen Sexualpädagogik und „katholisch" kaum zusammen denkbar, aber diejenigen, die sich auf den Weg machen – und einige davon konnten wir in der längerfristigen Fortbildung des Deutschen Caritasverbandes (DCV) in den vergangenen Jahren ausbilden und begleiten – machen die Erfahrung, dass sexualpädagogische Angebote in katholischen Einrichtungen eine gute Resonanz erfahren. Ob es Kolleg(inn)en aus der Schwangerschaftsberatung sind, die schon seit vielen Jahren Projekte in Schulen anbieten, oder Kolleg(inn)en aus der stationären Jugendhilfe, die in ihren Gruppen oder für die ganze Einrichtung Projekte entwickeln: Sie alle erleben, dass Kinder und Jugendliche Fragen haben, offen gestaltete Gesprächsräume gut annehmen und eigene Ideen und Wünsche einbringen. Und sie machen die Erfahrung, dass der Handlungsspielraum größer ist als zuvor angenommen. Träger und Vorgesetzte reagieren häufig positiv und sind bereit, im Konfliktfall den Rücken zu stärken. Es ist möglich, sexualpädagogische Angebote zu machen, die sich an den Fragen und Themen der Kinder und Jugendlichen orientieren, sie in ihrer Selbstbestimmtheit fördern und die gleichzeitig christlich fundiert sind.
Die Sexualitätsvorstellungen der Kirche, auf die ihnen zugrundeliegenden Werte hin reflektiert und auf kommunikative Weise zur Verfügung gestellt, bieten Jugendlichen durchaus einen Rahmen, der als Orientierungsangebot genutzt werden kann und wird. Hier sind an verschiedenen Stellen Mut machende Schritte getan; diese sollten in Zukunft konsequent weiterentwickelt werden.
Es braucht Qualifikation und strukturelle Rahmung
Sexualpädagogische Angebote benötigen eine fundierte fachliche Qualifikation, die bislang in den pädagogischen Erstausbildungen gar nicht oder nur in sehr geringem Umfang vermittelt wird; das heißt, Aus- und Fortbildung sind notwendig. Pädagogisch Tätige, die als Ansprechpartner(innen) für sexualitätsbezogene Fragen zur Verfügung stehen wollen, sollten die Möglichkeit erhalten, sich in vier zentralen Bereichen fortzubilden. Zunächst geht es um eine persönlich-biografische Kompetenz; das heißt, das eigene sexuelle Gewordensein und die daraus resultierenden Haltungen sollten angeschaut und kritisch reflektiert werden.
Zweitens geht es um thematisch-fachliche Kompetenz; das heißt, angeeignet werden sollte sich zunächst einmal Basiswissen über Körperaufklärung, Fruchtbarkeit und Verhütung, dann zur psychosexuellen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, über Formen sexualisierter Gewalt auch unter Kindern und Jugendlichen sowie über den Umgang mit Medien.
Um all diese Inhalte auf geeignete Weise Kindern und Jugendlichen zur Verfügung stellen zu können, ist drittens pädagogische Kompetenz erforderlich. Eine Sexualpädagogik, die sexuelle Selbstbestimmung und Identitätsentwicklung fördern will, braucht eine Didaktik, die ein- und nicht ausschließt, die sich weniger in den Kategorien von richtig und falsch bewegt, sondern vielmehr zu Verschiedenheit und Akzeptanz ermutigt. Ethische Kompetenz schließlich ist erforderlich, weil Sexualität immer auch mit Werten und Normen zu tun hat, die nicht nur persönlich, sondern auch gesellschaftlich, geschlechtsspezifisch und auf die jeweilige Zielgruppe hin reflektiert werden müssen.
Die vier genannten Kompetenzbereiche spannen einen anspruchsvollen Bogen, der entsprechende zeitliche wie finanzielle Ressourcen erfordert. Die erworbenen Qualifikationen sollten regelmäßig vertieft und aktualisiert und durch das Angebot zur Supervision ergänzt werden. Hier sind die Träger gefordert, für einen guten und verlässlichen Rahmen zu sorgen, in dem sie die entsprechenden Mittel bereitstellen. Konzepte für die sexualpädagogische Arbeit dienen der notwendigen fachlichen Orientierung und können im Konfliktfall Rückendeckung bieten.
Hier zu investieren ist wichtig und notwendig, weil nur so eine qualifizierte Sexualpädagogik zu gewährleisten ist. Eine Sexualpädagogik, die wirksam und möglich ist, die für Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene ein wertvoller Baustein in ihrer sexuellen Entwicklung sein kann, leistet auch einen Beitrag zu einer Kultivierung des Sexuellen in der Gesellschaft insgesamt.
Anmerkung
1. Amoris laetitia, Nr. 61, Kurzlink: https://bit.ly/2swXsSi
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