Sexualpädagogik – Jugendliche stark machen
Fachkräfte, die im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe tätig sind, stehen vor der Herausforderung, Jugendliche in ihrer sexuellen Entwicklung begleiten zu müssen, gleichzeitig jedoch mit zahlreichen Unsicherheiten konfrontiert zu sein.
Eine klare Haltung zum Umgang mit Sexualität bei Jugendlichen trägt einerseits zu einer Profilschärfung caritativer Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe bei und schafft andererseits Orientierung und Sicherheit für Jugendliche wie Fachkräfte.
Wie können katholische Träger pädagogischer Institutionen Kindern und Jugendlichen eine an der Entwicklung und den Bedürfnissen orientierte Sexualentwicklung ermöglichen?1 Für eine empirische, qualitative Studie zur Situation der Sexualpädagogik im Kontext katholischer vollstationärer Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe wurden im Bistum Hildesheim (im Untersuchungszeitraum: 617.097 Katholik(inn)en / 18 Dekanate / 176 Kirchengemeinden) Daten erhoben. Für den vorliegenden Artikel wurden sieben Einrichtungen der Stiftung katholischer Kinder- und Jugendhilfe mit 331 vollstationären Plätzen in den Fokus genommen. Zielgruppe waren Jugendliche von 14 bis 18 Jahren sowie pädagogische Fachkräfte. Anhand von leitfaden-gestützten Interviews wurden im Rahmen der qualitativen Pilot- und Hauptstudie 30 Interviews mit der Auswertungstechnik „Grounded Theory" nach Glaser und Strauß2 bearbeitet.
Laut einer Studie der Universität Tübingen verteilen sich die Gründe für die Aufnahme in die stationäre Jugendhilfe wie folgt: rund 82 Prozent familiäre Defizite im Erziehungsbereich, 67 Prozent Beziehungsstörungen in der Herkunftsfamilie, 56 Prozent häusliche Gewalt, 51 Prozent Trennungs-, Paarkonflikte, 42 Prozent Suchtprobleme.3 Die defizitäre Situation hinsichtlich der Erziehung von Kindern und Jugendlichen zeigt, dass die Erziehenden im Prozess der Arbeit mit Jugendlichen auf keinen Fall außer Acht gelassen werden dürfen. Eigene biografische Erfahrungen der Eltern sind hier ein wichtiger Aspekt in der pädagogischen (Eltern-)Arbeit. Beziehungsstörungen, die aufgrund dieser Ursachen entstanden sind, können erkannt und bearbeitet werden. Die Themen Urvertrauen4 und Bindungsstörungen5 werden unmittelbar tangiert. Nur mit Urvertrauen kann sich eine gesunde Bindungsfähigkeit entwickeln. Diese ist geprägt von den Bindungserfahrungen, die ein Kind mit seinen primären Bezugspersonen erlebt hat.6 Die Erfahrung von Liebe, klaren Grenzen und notwendiger Freiheit konnten die Kinder und Jugendlichen in zahlreichen Familien nicht machen, so dass auch ihre Themen, insbesondere hinsichtlich der Sexualität, nicht ausreichend Aufmerksamkeit erfahren haben. Die Kompensation dieser Tatsache erfolgt bei Jugendlichen über die Zuwendung in einer „Beziehung", meist in Verbindung mit Geschlechtsverkehr. Die eigentliche Sehnsucht nach Liebe wird damit selten erfüllt.
Pubertät – eine Zeit großer Veränderungen
Laut den Aussagen der Jugendlichen in der Altersklasse I (14- und 15-Jährige) unterliegen sie durch die Pubertät körperlich und psychisch großen Veränderungen. Sich auf das Gegenüber bezogen auszuprobieren wird auf die Frage nach dem „Typischen der Jugendphase" ebenso benannt wie die Abgrenzung über äußerliche Merkmale, zum Beispiel Haarfarben.
In der sensiblen Phase der Pubertät ist der wohl eindrücklichste Part der Ergebnisse im Wert des Vertrauens und der Sicherheit zu verorten. Für alle befragten Jugendlichen spielen soziale Kontakte eine bedeutende Rolle.
Im Gespräch über Beziehungen lassen alle Jugendlichen deutlich das Bedürfnis nach Treue durchblicken. Sie äußerten eine Sehnsucht nach Sicherheit, Achtsamkeit und Fürsorge.
Als wesentliche Themen werden von nahezu allen Jugendlichen in der Altersklasse der 16- bis 18-Jährigen Sexualität und Liebeskummer benannt. Neugier und Interesse am Gegenüber stehen im Vordergrund. Stimmungsschwankungen prägen die Jugendphase.
Hinsichtlich der Freizeitgestaltung sind die Jugendlichen der Altersklasse II (16- bis 18-Jährige) in besonderem Maße an der Ausgestaltung mit Gleichaltrigen interessiert.
Der Zugriff auf ihre Ressourcen ist für die männlichen Jugendlichen in der Altersklasse II noch schwierig. Auf die Frage, welche Stärken sie bei sich sehen, antworteten die Jugendlichen eher mit Äußerlichkeiten oder Charaktereigenschaften, als selbstbewusst und mit Überzeugung den eigenen Wert zu benennen.
Die Fachkräfte sind engagiert
Alle befragten Fachkräfte sind formal konfessionell gebunden, da dies eine Einstellungsvoraussetzung darstellt. Idealismus und Leidenschaft werden durchaus bei der Hälfte der Befragten deutlich. Die Pädagog(inn)en sehen Authentizität als einen wesentlichen Wert ihrer Arbeit an. Die Begleitung und Gestaltung des Alltags von Jugendlichen erfordern Kreativität, Aktivität und Weitsicht bei gleichzeitiger Abgrenzung und Befähigung der Jugendlichen. Das Erlernen einer achtsamen Grundhaltung sowohl für sich selbst als auch für andere ist ein Hauptaugenmerk der Fachkräfte. Orientierung und Sicherheit haben die Jugendlichen in ihren Familien laut der Betreuenden meist nicht erfahren.
Die Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Beziehungen für Jugendliche ist für die Fachkräfte herausfordernd. Der Wunsch nach Sicherheit, Harmonie und Treue ist bei den Jugendlichen vorhanden, wird jedoch durch biografische Kompensationen häufig überladen. Die Peergroup und die Medien erzeugen einen Erwartungsdruck, der das Verhalten der Jugendlichen beeinflusst. Dieser Druck muss durch die Fachkräfte reguliert werden.
Mit dem Thema Sexualität setzen sich die Jugendlichen laut den Pädagog(inn)en noch mit Spaß und Humor auseinander, einhergehend mit noch fehlender Reife und Sicherheit. Ethische und moralische Einstellungen sprechen die Fachkräfte den Jugendlichen ebenso ab wie sexuelle Erfahrungen, ohne dies jedoch mit Sicherheit sagen zu können.
Empfehlungen für die praktische Arbeit
- Die Pädagog(inn)en sollten Jugendliche befähigen, ihre eigenen Kompetenzen zu erkennen und für sich nutzbar zu machen – der Kern dieser Bemühungen fußt auf dem Persönlichkeitslernen: Das Konzept der Selbstwirksamkeitserwartung des Psychologen Albert Bandura⁷ kann hier ein Ansatzpunkt sein. Es geht um die subjektive Überzeugung, neue oder schwierige Anforderungssituationen aufgrund eigener Kompetenzen bewältigen zu können (sozial-kognitive Theorie). Der Vorteil dieses Ansatzes ist die Freiheit, die Jugendliche über das Lernen am Modell erhalten. Gleichzeitig liegt beim Erwachsenen eine hohe Verantwortung beziehungsweise ein hoher Beeinflussungsgrad.
- Es ist wichtig, einer heterogenen Gruppe Jugendlicher Rahmenbedingungen und Orientierungshilfen zu bieten – es geht um die Freiheit, konfessionsunabhängig zu agieren und gleichzeitig eine Profilschärfung christlicher Einrichtungen zu forcieren: Das Konzept der religionssensiblen Erziehung (religionspädagogische Praxistheorie) kann hierbei als Grundlage genutzt werden. Das Sehnen, Hoffen und die Ängste Jugendlicher werden aufgegriffen. Religiöse Ansätze erhalten Raum, in dem Nährboden für neue Erfahrungen geschaffen wird. Sozialraum und Lebenswelt werden anregungsfreundlich gestaltet. Feste und Feiern und eine Vernetzung zur Schaffung neuer Ressourcen stehen im Mittelpunkt der pädagogischen Arbeit.⁸
- Die strategische Ausrichtung des Trägers muss deutlich sein, um eine inhaltliche Arbeit der Ausführenden zum Thema Sexualpädagogik ableiten zu können: Es geht um das Leitbild und den grundsätzlichen Umgang miteinander, die vom Träger vorgegeben werden müssen. Daraus erwachsen Konzepte für die sozialpädagogische Arbeit. Die Eingabe von Jugendlichen und Fachkräften ist immer wieder Spiegel für die Reflexion von Konzepten und Vorgehensweisen und für neue Entscheidungen. Hierzu sind Fragestellungen zur Identität/Profilschärfung (Wer sind wir? Wofür stehen wir?), zur Zielgruppe (Wer ist Adressat(in)?) und zu den Ausführenden (Wie steht es um mein persönliches/dienstliches Selbstverständnis zum Thema Sexualität? Welche Themen/Fragen sind für uns offen? Welche Personen/Institutionen können uns behilflich sein?) zu beantworten.
Achtsamkeit9 und Spiritualität10 sind dabei als Grundlage einer ganzheitlichen Sicht auf den Menschen hilfreich: Die vorgeworfene Leibfeindlichkeit in der katholischen Kirche soll sich zu einer Leibachtsamkeit entwickeln. Die spirituelle Sozialisation Jugendlicher kann von Fachkräften individuell genutzt werden, um dort anzusetzen, wo Hilfestellung bei der Suche nach dem Sinn und der Bedeutung für das Leben gebraucht wird.
Das weltliche Umfeld wird mit dem Transzendenten verbunden.11 Erfahrungen Jugendlicher in diesem Prozess können helfen, Antworten auf die Fragen nach dem Sinn des Lebens zu geben. Gleichzeitig fungiert Moral als wohlwollende Grenzsetzung, die Orientierung und Sicherheit im Umgang mit Sexualität bieten kann.
Anmerkungen
1. Mit dieser Fragestellung hat sich die Autorin des Themas im Rahmen ihrer Promotion über einige Jahre beschäftigt.
2. Vgl. Bortz, J.; Döring, N.: Forschungsmethoden und Evaluation. Heidelberg: Springer Verlag, 2006, Seiten 332–334.
3. Vgl. Hamberger, M.; Hardege, B.; Henes, H.; Krumbholz, M.; Moch, M.: Das ist einfach eine richtige Familie. Zur aktuellen Entwicklung von Erziehungsstellen als Alternative zur Heimerziehung. Reihe Praxis und Forschung, 1. Auflage, Regensburg: Walhalla Fachverlag, 2001, Seite 64.
4. Mit Urvertrauen ist eine natürliche Verbindung des Menschen zu seiner Umwelt gemeint, die über die Beziehungsqua­lität zu den Eltern im Säuglingsalter entsteht.
5. Eine Bindungsstörung liegt vor, wenn es Jugendlichen nicht gelingt, intime Beziehungen und Liebesbeziehungen einzugehen, indem sie sich von ihren Eltern und primären Bindungspersonen abnabeln und gemäß der zentralen Entwicklungsaufgabe autonom werden. Vgl. Schleiffer, R.: Der heimliche Wunsch nach Nähe. Weinheim: Beltz Juventa, 2009, Seiten 55–56.
6. Vgl. Schleiffer, R.: Ebd., S. 38.
7. Vgl. Pervin, L.A.: Persönlichkeitstheorien. München: Ernst Reinhardt Verlag, 1993, Seiten 397–421.
8. Vgl. Lechner, M.; Gabriel, A. (Hrsg.): Brenn-Punkte. Religionssensible Erziehung in der Praxis. München: Don Bosco Verlag, 2011. Siehe dazu auch Lechner, M.: Jugendlichen mit Religion gerecht werden. In: neue caritas Heft 15/ 2011 ( Kurzlink: https://bit.ly/347VW5W ).
9. „Meint das bewusste Lenken der Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment, das vorurteilslose und wertfreie Erleben des Hier und Jetzt." Bishop, S. R. et al.: Mindfulness: A proposed operational definition. Clinical psychology: Science und practice 11 (3), 2004, Seiten 230–241. In: Frey, D.: Psychologie der Werte. Heidelberg: Springer Verlag, 2016, Seite 14.
10. „Die Verbundenheit mit etwas Heiligem, die Bezogenheit auf ein größeres Ganzes." Friedrich, N. et al.: Diakonielexikon. 2016, Seite 418.
11. Vgl. Büssing, A.; Kohls, N. (Hrsg.): Spiritualität transdisziplinär. Heidelberg: Springer Verlag, 2011, Seiten 39–43.
Rechtspopulismus – Jugendliche stärken
Sexualpädagogik – Jugendliche stark machen
Sexualität mit Verantwortung und Lebensfreude
Nichtdiskriminierung ist ein Grundpfeiler des Evangeliums
Die Wahrheit über Migration
Vieles drehte sich um Reformen
Hinterlassen Sie einen Kommentar zum Thema
Danke für Ihren Kommentar!
Ups...
Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite erneut und wiederholen Sie den Vorgang.
{{Reply.Name}} antwortet
{{Reply.Text}}