Sexuelle Bildung professionalisieren
Die entlastende, präventive und kurative Wirkung nicht nur von Liebe, sondern auch von Sexualität sollte in die Sexualpädagogik mit einbezogen werden. Es ist zu unterstreichen, was in der christlichen Sexualethik beider Konfessionen enthalten ist: Eine auf Dauer von Beziehungstiefe isoliert gelebte Lust macht Probleme, und sexuelle Bildung sollte sich an der dynamischen Balance von Lust, Beziehung, Identität und Generativität1 als Ideal orientieren. Das schließt die Würdigung sexueller Erlebnisfähigkeit, also auch körperlicher Lust, als einen psychosozialen Gesundheitsfaktor mit ein. Sexuelle Lust kann im individuellen Erleben tatsächlich Unangenehmes und Frustrierendes kompensieren. Solche Erfahrungen sind in der Regel auch Teil der „Normalsozialisation": Babys zum Beispiel kompensieren durch lustvolle Befriedigung ihres Hauthungers den Verlust der intrauterinen Geborgenheit, Jugendliche ihre pubertären Selbstzweifel. Auch Erwachsene kennen lustvolle Körpererfahrungen und insbesondere sexuell erfüllende Liebeserlebnisse als Kompensation – manchmal auch zur langsamen Heilung – aktueller oder vergangener Verletzungen.
Bei Jugendlichen der Erziehungshilfe spielt schon die palliative Funktion eine große Rolle. Auch wenn das oft drastische Sexualverhalten die dahinter verborgenen Anerkennungs- und Liebesbedürfnisse nicht befriedigen kann, verschafft es zumindest kurzfristige Befriedigung und Entlastung. Eine christlich inspirierte Sexualerziehung kann sich langfristig auf das schwierigste Ziel, die kurative Funktion sexueller Liebeserfahrungen, beziehen. Sinnlich-lustvolle Erfahrungen werden dabei in vertrauensvollen und ganzheitlichen Liebesbeziehungen gemacht. Das ist bei Jugendlichen der Erziehungshilfe nicht so einfach, aber der Rat zur sexuellen Enthaltsamkeit, bis der/die richtige Partner(in) da ist, hilft nicht weiter. Das wird oft nur gefordert, wenn sexuelles Begehren grundsätzlich negativ besetzt ist.
Moralisches Verhalten erlernen
Integre Ich-Identität wird nur gelernt durch eigene Erfahrungen, und dazu gehören auch Grenzgänge zwischen Komfort- und Risikozone. Erste sexuelle Erfahrungen und die damit verbundenen Gefühle werden nicht nur als durchgehend „gut" oder „schlecht" identifiziert. Vieles muss ausprobiert werden, um zu wissen, was sich gut oder schlecht anfühlt und langfristig bewährt. Menschen lernen in einer Spirale von „Erfahrung machen" – „Rückmeldung bekommen"– „Bewertung"– „Beratung"– „Konsequenzen ziehen" und „sich neuen Erfahrungen aussetzen". In solchen Lernspiralen wird erfahren, was ganz persönlich und was auch für andere gut ist: Welche Körperzone, welcher Stimulus verbessern unter welchen Bedingungen mein Körpergefühl? Was will ich nicht noch einmal erleben? Auch das moralische Bewusstsein qualifiziert sich durch „Grenzgänge" einschließlich der Negativerfahrungen.
Es wird nicht immer so deutlich gefordert, aber dass „wahre Liebe wartet", steht als Botschaft und Haltungsempfehlung implizit hinter manchen Konzepten im kirchlichen Raum. Es ist meist richtig, das eigene Fühlen und Wollen gegen den Trend und erst recht gegen den Mitmachdruck der Peers zu stärken. Und doch ist die Lebenswirklichkeit der Kinder und Jugendlichen, erst recht die Notwendigkeit zu beachten, in die komplizierte Welt der Liebe und sexuellen Intimität hineinzuwachsen. Eine Bewahrstrategie deklariert sie aber zu bloßen Opfern einer als sexualisiert wahrgenommenen Welt. Die Entscheidung, sich psychosexuell erst dann zu betätigen, wenn die lebenslang angelegte Vertrauensbeziehung in erreichbare Nähe gerückt ist, soll als eine mögliche sexualmoralische Position hier nicht diskreditiert werden. Als dominante Botschaft verweigert ein solches Lebensmodell aber Jugendlichen die Chance des Kompetenzgewinns einschließlich des moralischen Lernens. Die später dann unvorbereiteten Negativerfahrungen können Abwehr und Ängste gegenüber allem Sexuellen und jeder Intimität befördern. Idealisierung der romantischen Liebe mit Blick auf die Ehe als eine sie schützende Institution kann notwendigen Lernprozessen und der hilfreichen Begleitung durch sexuelle Bildung entgegenstehen. Psychoanalytisch kurz gefasst: Das „Ich" kann nicht wachsen, wenn das „Es" nur durch das „Über-Ich" kontrolliert wird.
Ähnliches gilt für die Akzeptanz verschiedener sexueller und geschlechtlicher Identitäten. Gerade in der Jugendhilfe sind vom hetero-normativen Mainstream abweichende Verhaltensweisen existent und werden nicht selten dem zu korrigierenden Verhalten zugerechnet. Dabei sind homo-, trans- und intersexuelle Selbstdefinitionen und die dadurch erfahrenen Diskriminierungen oft der Auslöser für dissoziale und selbstschädigende Verhaltensweisen. Sexuelle Bildung kann dafür sorgen, dass die Vielfalt sexueller und geschlechtlicher Selbstverständnisse durch Akzeptanz und geschützte Sichtbarkeit in der jeweiligen Einrichtungskultur einen Resonanzraum bekommt.
Sexuelle Bildung unter erschwerten Bedingungen
Jugendliche in der stationären Erziehungshilfe haben oft sexuelle Erfahrungen in Gefahrenzonen gemacht, die dann manchmal Anlass für die außerfamiliäre Unterbringung waren. Sie haben kaum Gelegenheit gehabt, ein für sie angemessenes Selbstkonzept sexueller Integrität zu entwickeln. Intimgrenzen sind unklar und sie wissen kaum etwas von sexuellen Rechten, weder von den eigenen noch von jenen anderer. Einige kennen sie zwar, können sie aber nicht durchsetzen, weil ihnen nie vergönnt war, sich zu behaupten. Andere haben gelernt, sich ohne Rücksicht auf die Gefühle und Bedürfnisse anderer auch sexuell grenzüberschreitend zu verhalten. Fast allen fehlen beglückende Lust- und Liebeserfahrungen, die eingebettet sind in psychosoziale Anerkennungsbeziehungen.
Angesichts solcher Ausgangsbedingungen brauchen Einrichtungen der Jugendhilfe ein in die alltägliche Arbeit integriertes sexualpädagogisches Konzept. Fachkräfte sind gefordert, auch angesichts beschädigter sexueller Identitäten ein Stück Lebenswelt mit den Kindern und Jugendlichen zu teilen, manche nicht so schnell zu ändernde Einstellungs- und Verhaltensweisen auszuhalten und dennoch aufzuklären und neue, alternative Erfahrungsräume zu eröffnen.
Das heißt, den Jugendlichen zu ermöglichen, aus Gefahrensituationen herauszuwachsen und risikoarme sexuelle Erfahrungen mit sich und anderen aufzubauen. Es gilt, Wissensdefizite auszugleichen, auch unangenehme Fragen zu beantworten und sich als Fachkraft auch bei vermeintlich delikaten Themen und Problemsituationen als kompetent und vertrauenswürdig zu erweisen.
Ängstliche Distanz schadet den Jugendlichen
Fachkräfte der Erziehungshilfe brauchen eine kritische Distanz zum Verwahrlosungsdiskurs2, sollten sich aber nicht scheuen, eigene Haltung zu zeigen, ohne sie absolut zu setzen. Momentan besteht wegen der auch aus pädagogischen Einrichtungen bekannt gewordenen Missbrauchsfälle und eines mangelnden sexualpädagogischen „Standings" die Tendenz zur professionellen Distanz, obwohl professionelle Nähe bedacht und ausgeübt werden sollte. Ängstliche Distanz kann aufseiten der Jugendlichen als Ablehnung und Verweigerung von Zuwendung erfahren werden. Für Kinder und Jugendliche mit emotionalen Vernachlässigungserfahrungen wirkt das retraumatisierend und wird oft als Strafe erfahren. Destruktive Distanz dient auf diese Weise nur dem Selbstschutz von unsicheren Erziehenden und verhindert emotionale Nähe, an der die Jugendlichen wachsen können.
Dazu müssen die Fachkräfte aber ihre eigene sexuelle Geschichte kennen. Die Missbrauchsfälle gerade in kirchlichen Einrichtungen haben gezeigt, dass sexuell ungebildete Erziehende, die – symbolisch gesprochen – nur aus „Es" und „Über-Ich" bestehen, nicht verantwortlich agieren können. Die Institutionen sind gefordert, in geschützten Räumen und unter fachlicher Begleitung Selbstreflexionsprozesse anzubieten. Zudem muss ein sexualpädagogisches Konzept die Sexualkultur der ganzen Einrichtung und ihr Handlungskonzept berücksichtigen. Nur dann können die Jugendlichen aus ihrem „alten" Beziehungsmilieu der riskanten, stigmatisierenden und viktimisierenden Erfahrungen herauswachsen in sichere, nicht stigmatisierende Umgebungen.
Das alles klingt und ist auch anspruchsvoll. Dazu sind alle kirchlichen Entscheidungsträger zu ermutigen. Verantwortung für die Versäumnisse der Vergangenheit zu übernehmen bedeutet mehr als Entschuldigungsgesten. Es bedarf der Professionalisierung und Organisationsentwicklung zur (auch) sexuellen Bildung im kirchlichen Bereich.
Anmerkungen
1. „Generativität" meint die Funktion von Sexualität, neues Leben zu schaffen und dieses neue Leben zu umsorgen. Ebenso wie die Sorge der jüngeren für die ältere Generation.
2. Gemeint ist das dominante Reden über Jugendsexualität, insbesondere über Klient(inn)en der Jugendhilfe, unter dem Label „Verwahrlosung".
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