Sexualität mit Verantwortung und Lebensfreude
Sexualität und die Auseinandersetzung damit ist ein spannendes Thema. Sexuelles Verhalten beschäftigt die Menschen existenziell – ob Kind, Jugendlicher, junger Erwachsener oder erwachsene Fachkraft, ob Mann oder Frau. Entgegen der Annahme, dass wir in einer Epoche sexueller Offenheit und „Unverklemmtheit" denken und leben, sind viele der dem Raphaelshaus anvertrauten Mädchen und Jungen nur rudimentär aufgeklärt worden und hatten manchmal sogar schlechte mediale oder menschliche Vorbilder. Die Selbsteinschätzung der Jugendlichen aus einer Studie zur Jugend­sexualität der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) im Jahr 20151 können die Pädagog(inn)en des Raphaelshauses so nicht bestätigen. In der Studie hatte das Gros der 14- bis 17-Jährigen sich für ausreichend aufgeklärt erachtet. Die Erhebung wies mit 85 Prozent bei den Mädchen und 83 Prozent bei den Jungen deutscher Herkunft die höchsten bisher gemessenen Werte auf.2
Das Raphaelshaus in Dormagen ist eine Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe mit integrierter Förderschule mit Schwerpunkt soziale und emotionale Entwicklung. In der Einrichtung werden circa 260 Kinder und Jugendliche in stationären, teilstationären sowie ambulanten Hilfen betreut und pädagogisch gefördert. Seit dem Jahr 2014 existieren im Raphaelshaus die „Leitlinien Sexualpädagogik". Sie sollen den Auftrag gegenüber den Jungen und Mädchen mit einer beruflichen Haltung füllen, die nicht der Beliebigkeit ausgesetzt ist, sondern dem Leben, der Lebensfreude und einer altersadäquaten Sexualität zugewandt.
Sexualpädagogik gehört zum Erziehungsauftrag
Die pädagogischen Fachkräfte aus den Gruppen formulierten vermehrt Verhaltensunsicherheiten im Umgang mit sexualpädagogischen Fragen. Wie so oft in solchen Fällen wurde der Ruf nach „Spezialisten" laut, Expert(inn)en sollten „eingekauft" werden. Die Leitung allerdings war dagegen, weil deren Haltung eine andere war und ist: Sexualpädagogik ist ein wesentlicher Bestandteil des Erziehungsauftrags und deshalb von allen pädagogischen Fachkräften zu leisten. Dies bedeutet im Umkehrschluss natürlich nicht, dass das Raphaelshaus Beratungsstellen wie beispielsweise die Caritas-Schwangerschaftsberatung „Esperanza" in Dormagen nicht weiter für sich nutzt. Außerdem räumten die Veratwortlichen den Mythos aus, dass das Sprechen über Sexualität, wie oft fälschlicherweise vermutet, für mehr sexuelle Aktivität sorgt.
Zeitgleich zur Problemanzeige dieser Verhaltensunsicherheiten implementierte das Raphaelshaus die Präventionsschulung zum Thema „sexualisierte Gewalt". Eine Ebene der Prävention ist die offensive Sexualerziehung. Dementsprechend wurde überprüft, welche Interventionen beziehungsweise Angebote in den Gruppen existierten. Dies war – wie erwartet – sehr unterschiedlich. Als weiterer Aspekt kam die Auswertung der Evaluation der Hilfeverläufe durch EVAS (Evaluation erzieherischer Hilfen) hinzu. Diese ergab, dass das Raphaelshaus jedes Jahr Kinder und Jugendliche aufnimmt, von denen circa jede(r) fünfte eine „Auffälligkeit im Sexualverhalten" in unterschiedlichen Ausprägungen zeigt.
Diese drei Aspekte – Verhaltensunsicherheiten der pädagogischen Fachkräfte, Präventionsebenen mit Bestandsaufnahme und die Auffälligkeiten der aufgenommenen Kinder und Jugendlichen – führten dazu, dass die Einrichtung sich einen Kooperationspartner für eine abgestimmte Fortbildung suchte. Mit dem Institut für Sexualpädagogik in Dortmund wurde eine entsprechende Schulung entwickelt. Module waren hier Grundlagen der Sexualität und der Sexualpädagogik, Sexualität in der Jugendzeit und Fragen der Verhütung sowie Umgang mit Grenzen und Übergriffen. Abgerundet wurde die Schulung durch einen Praxistag, an dem das wechselseitige Lernen im Vordergrund stand und die Teilnehmenden ihre Projekte vorgestellt haben.
Entgegen den Erwartungen der Fachkräfte haben sich die Verantwortlichen bewusst dafür entschieden, das Thema Übergriffigkeit sehr kompakt und kurz zu fassen. Die Intention war, Sexualpädagogik als präventive Maßnahme und Aufklärungsarbeit zu sehen und nicht in erster Linie als Verhinderung von sexueller Gewalt unter Kindern und Jugendlichen.
Nach dem ersten Durchgang – insgesamt bildete sich die Hälfte der pädagogischen Mitarbeitenden fort – gab es die Rückmeldung der Kolleg(inn)en: „Jetzt sind wir zwar schlauer, aber wissen immer noch nicht, was von uns erwartet wird!" Die Verhaltensunsicherheiten blieben. Daraufhin wurde ein Qualitätszirkel mit allen Teilnehmenden des ersten Durchgangs der Fortbildung gebildet. Darin bearbeiteten die Teilnehmer(innen) das Thema sehr handlungsorientiert. Die Kolleg(inn)en nannten Bereiche, in denen sie sich Sicherheiten wünschten, und zu allen Bereichen wurden möglichst konkrete Regelungen getroffen. Die Leitlinien Sexualpädagogik enthalten Orientierungen zu den Themen „Pädagogische Haltungen", „Zuständigkeiten", „Einbeziehung der Sorgeberechtigten", „Aufklärung", „Pubertät/körperliche Veränderungen", „Nähe/Distanz", „Kulturelle Hintergründe", „Rahmen für Partnerschaft", „Sexualität leben und verantworten", „Verhütung", „Schwangerschaft – Vater und Mutter werden", „Schwangerschaft – Pille danach/Abtreibung" und „Missbrauch". Zusätzlich enthalten die Leitlinien noch Informationen zum Thema „Recht und Sexualität" sowie zu Arbeitsmaterialien und Links.
Aufklärung durch die Eltern findet immer weniger statt
In der erwähnten Studie zur Jugendsexualität der BZgA ist ein Ergebnis, dass die Aufklärungsarbeit im Elternhaus immer noch von hoher Relevanz ist. „Die Rolle der Eltern befindet sich aber im Abwärtstrend beziehungsweise wird von Peers (…) und professioneller Aufklärung im schulischen Rahmen stärker als bislang substituiert."3 Hinzu kommt, dass die Bedeutung des Mediums Internet bei der Aufklärung Jugendlicher deutlich zugenommen hat. 47 Prozent der Jungen und 39 Prozent der Mädchen benannten das Internet als eine wesentliche Quelle ihrer Aufklärung.4
Das Ziel in allen Fragen der Erziehung ist eine gute und partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Sorgeberechtigten, geprägt durch eine wechselseitige Transparenz und Offenheit. Deshalb sind die Leitlinien den Sorgeberechtigten bekannt. Selbstverständlich werden die Sorgeberechtigten in besondere Entscheidungen (zum Beispiel Verschreibung der Pille) mit einbezogen. Durch die Vielzahl an beteiligten Personen werden Haltung und Wertefragen in gewisser Weise verkompliziert. Werte sind für die Kinder und Jugendlichen aber existenziell wichtig. In der Regel behandelt die Aufklärung in der Schule die „technischen Fragen" (zum Beispiel Zyklus der Frau oder Schwangerschaft). Viel spannender und wichtiger sind jedoch die damit verbundenen Wertefragen: Ab wann soll ich mit meiner Freundin/meinem Freund schlafen? Darf ich zu Sexpraktiken auch „Nein" sagen? Wie oft ist Selbstbefriedigung noch normal?
Die Jugendlichen haben ein Recht auf eine Antwort
Die Beantwortung dieser Fragen hat auch etwas mit den persönlichen Erfahrungen der Kolleg(inn)en und damit mit ihrem eigenen „Rucksack" zu tun. Fatal wäre die Antwort: „Frag deine Eltern!" oder „Frag einen anderen Kollegen!". Wenn ein Jugendlicher seinen Lebensmittelpunkt in der Jugendhilfe hat, Beziehung und so viel Vertrauen aufgebaut hat, solche Fragen zu stellen, dann hat er auch ein Recht auf eine Antwort. Sexualpädagogik bedeutet also auch, sich im Team auf solche Fragen und damit auf den Prozess einzulassen. Dies ist eine Voraussetzung für eine gelingende Sexualpädagogik in der Jugendhilfe. In der Leitungskonferenz haben wir zum Beispiel die Frage diskutiert, ab wann es die Kolleg(inn)en erlauben würden, dass der Freund/die Freundin des eigenen Kindes über Nacht bleibt. Eine spannende Diskussion!
Sich mit der eigenen Sexualität auseinanderzusetzen, eine Haltung im Team zu entwickeln, die professionelle Nähe und Distanz zu wahren und möglichst die Sorgeberechtigten mit einzubeziehen – dies sind die Herausforderungen, die es zu lösen gilt. Die Leitlinien „Sexualpädagogik" sind zu einem Sicherheit gebenden Rahmen geworden, der den pädagogischen Fachkräften einerseits Sicherheiten im Umgang mit dem Thema vermittelt und andererseits die Erlaubnis gibt, dieses Thema im Erziehungsalltag offensiv anzugehen.
Wie bei allen Themen besteht die Kunst auch darin, das Thema „am Leben zu halten". Dies benötigt klare Vorgaben. Alle Gruppen sind verpflichtet, jedes Jahr mindestens ein sexual- und ein medienpädagogisches Projekt zu organisieren. Durch Themen wie Sexting5 und die Bedeutung des Internets für die Aufklärung gibt es beispielsweise bei diesen beiden Themenkomplexen eine Überschneidung.
Zwei Prämissen sind nicht zu vergessen: Sexualpädagogik beginnt bei den Jüngsten mit dem Thema Grenzsetzung und -achtung. Und: Wir sollten als Erwachsene professionelle Garanten für eine von Verantwortung und Lebensfreude gekennzeichnete Sexualpädagogik sein.
Anmerkungen
1. Heßling, A.; Bode, H.: Jugendsexualität 2015. Die Perspektive der 14- bis 25-Jährigen. Ergebnisse einer aktuellen repräsentativen Wiederholungsbefragung. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2015.
2. A. a. O., Seite 5.
3. Ebenda.
4. A. a. O., Seite 6.
5. „Dirty Talk" per Messenger.
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