Nichtdiskriminierung ist ein Grundpfeiler des Evangeliums
Im Jahr 2016 veröffentlichten Michael Ebertz, Professor an der Katholischen Hochschule Freiburg, und Lucia Segler, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Katholischen Hochschule Freiburg, die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung unter hauptamtlichen Mitarbeiter(inne)n der Caritas Würzburg (siehe neue caritas Heft 20/2016, Seite 26 ff.). Sie zeigen, dass die gegenwärtigen religiösen Umbrüche die Mitarbeiter(innen) der Caritas zwar vielleicht etwas später und in etwas geringerem Maß erreichen als andere Menschen, jedoch mit derselben Stetigkeit und Richtung. Wie kann die Caritas unter diesen Bedingungen ein Profil entwickeln und verständlich machen, das nach innen die größtmögliche Zahl an Mitarbeiter(inne)n verbindet und nach außen als „Markenkern" erkennbar ist? Und wie kann sie dieses Profil so entwickeln, dass es in Stellenausschreibungen zum Kriterium gemacht werden kann, ohne anschließend vor Gericht verworfen zu werden?1
Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in den letzten Jahren in zwei Fällen des kirchlichen Arbeitsrechts um eine Auslegung der Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG ersucht. Beide wurden 2018 vom EuGH im Grundsatz entschieden und vom BAG auf die konkreten Fälle angewandt (siehe auch neue caritas Heft 9/2019, Seite 9 ff.).
Der Fall Egenberger gegen das Evangelische Werk für Diakonie und Entwicklung (EWDE): 2012 hatte sich die konfessionslose Vera Egenberger beim EWDE auf eine Stelle beworben, war aber nicht zum Hearing eingeladen worden. Gemäß Stellenausschreibung mussten die Bewerber(innen) Mitglied einer evangelischen oder einer der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland angehörenden Kirche sein. Egenberger vermutete, dass dies der Grund für ihre Nichteinladung war, und klagte beim BAG auf Entschädigung.
Der Fall JQ gegen IR: Dem Chefarzt für Innere Medizin eines katholischen Krankenhauses wurde von seinem Arbeitgeber gekündigt, als er nach einer Ehescheidung eine zweite Zivilehe schloss. Das Krankenhaus sah darin einen Verstoß gegen die dienstvertraglich geforderte Loyalität entsprechend der (mittlerweile überholten) Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse von 1993. Der Chefarzt klagte dagegen beim BAG wegen Ungleichbehandlung: Ein evangelischer oder konfessionsloser Chefarzt hätte ein zweites Mal heiraten können, ohne die Kündigung zu riskieren.
In beiden Fällen rief das BAG den EuGH an, der beiden Klagenden Recht gab. Denn die gerichtliche Überprüfung, ob kirchlich geforderte Kriterien für eine Position „wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt" (Artikel 4 (2) der EU-Richtlinie) sind, sei möglich, ja sogar geboten. Die Antwort auf diese Frage hänge von der „Art" der fraglichen Tätigkeiten und den „Umständen" ihrer Ausübung ab. Die Beweislast liege aufseiten der Kirche und nicht aufseiten der kirchlichen Mitarbeiter(innen).
Antidiskriminierung als neuer Trend
Der Paradigmenwechsel, den die beiden EuGH-Urteile markieren, liegt auf der Hand: Während die Kirchen ihre Anforderungen an die Mitarbeiter(innen) früher als interne Angelegenheit und als alleinigen Ausdruck ihres Selbstbestimmungsrechts betrachten konnten, müssen sie jetzt für diese die Messlatte der EU-Richtlinie und damit letztlich des Menschenrechts auf Nichtdiskriminierung (Artikel 7 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte) anlegen. Selbstbestimmung, so der Gedanke, ist individuell wie institutionell nur im Rahmen der Menschenrechte möglich. Sie ist nicht grenzenlos.
Dieser Paradigmenwechsel hat sich ungefähr ein Jahrzehnt lang angebahnt. Nichtdiskriminierung ist jedoch auch ein Grundpfeiler des Evangeliums: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus." (Galater 3,28) Die Kirche lernt also gegenwärtig von der Welt, was Galater 3,28 in letzter Konsequenz bedeutet. Paulus hat einen Keim gesät, der auf fremdem Boden offenbar besser aufgegangen ist als auf kirchlichem Terrain. Wenn die Kirche daher Macht abgeben muss, um dieses Anliegen im eigenen Bereich zu realisieren, sollte sie diesen Machtverlust als Befreiung erleben.
Doch kann unter diesen Umständen überhaupt noch von einem „Proprium christlicher Moral" gesprochen werden? Gibt es eine spezifisch „christliche" Professionalität?
Alfons Auer und sein Ansatz einer „Autonomen Moral"
Inspiriert von Thomas von Aquin und aufbauend auf den Ausführungen des II. Vatikanischen Konzils, entwickelt der Moraltheologe Alfons Auer (1915–2005) Ende der 1960er-Jahre seine Theorie der „Autonomen Moral", die nach harten und schmerzvollen Auseinandersetzungen mittlerweile zum festen Bestand deutschsprachiger Moraltheologie zählt.
Bei der Frage nach einem „Proprium christlicher Moral" unterscheidet Auer zunächst zwischen Heils- und Weltethos. „Heilsethos" ist das Ethos, das den ausdrücklich religiösen Bereich normiert. Die Pflicht zum Gottesdienst am Sonntag, zum regelmäßigen Beten, zum Fasten in der Fastenzeit und zum Empfang der Sakramente sind Elemente des Heilsethos. Es bindet klarerweise nur die Gläubigen. „Weltethos" hingegen ist das Ethos des zwischenmenschlichen und zwischengeschöpflichen Zusammenlebens. Es bindet nicht nur die Gläubigen, sondern alle Menschen.
Auf Basis dieser Unterscheidung formuliert Auer seine These: Die christliche Botschaft enthält in Bezug auf das „Weltethos" keine materialen Propria. „Das Menschliche ist menschlich für Heiden wie für Christen." Ethische Forderungen des Christentums sind für alle Menschen vernünftig einsehbar und verbindlich. Wohl aber öffnet der Glaube den Christ(inn)en einen neuen Sinnhorizont, der die ethische Normfindung und -begründung integriert, stimuliert und kritisiert.
- Integriert: Der Glaube bietet einen weiteren Horizont an. So ist die Forderung, die Würde jedes Menschen bedingungslos zu achten, auch ohne Glauben als Forderung der Gerechtigkeit einsehbar. Aber wenn Christ(inn)en in jedem Menschen ein geliebtes Kind Gottes und einen Bruder oder eine Schwester ­Christi erkennen, öffnet sich der Blick für tiefere Zusammenhänge.
- Stimuliert: Gerade anschauliche Erzählungen können zur intensiveren Suche nach der sittlichen Wahrheit stimulieren. Im Kontext der Caritas kann man zum Beispiel an die Motivationskraft der Gleichnisse Jesu vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37) und vom Weltgericht (Mt 25,31–46) denken. Ohne diese beiden Gleichnisse wäre christliche Caritas gar nicht vorstellbar.
- Kritisiert: Ethische Urteilsbildung ist immer in Gefahr, sich mit dem Mittelmaß zufriedenzugeben. Der Glaube hingegen nährt den Hunger nach der je „größeren Gerechtigkeit" (Mt 5,20). Er kritisiert bestehende Ungerechtigkeiten und Defizite. Man denke nur an die kirchliche Kritik an der Abschottungspolitik gegen Flüchtlinge.
- Wenn Auer hier von „dem christlichen Glauben" spricht, dann meint er nicht nur und nicht vorrangig die einzelnen Glaubensinhalte, sondern vor allem den gelebten Glaubensvollzug, man könnte auch sagen: „das Glauben" der Christ(inn)en. Richtig verstanden beruht daher jede Moral – eine religiöse genauso wie eine säkulare – auf Grundhaltungen wie denen, die Paulus in 1 Kor 13 nennt: Glaube, Hoffnung, Liebe.
- Glaube heißt Vertrauen in die Gutheit2 des Lebens und der Welt.
- Hoffnung ist die Herzensweite, die über das eigene Leben hinausschaut auf den größeren Zusammenhang der Schöpfung und seine Sinnhaftigkeit.
- Liebe meint die Bereitschaft zur Hingabe, zum Dasein für andere.
Diese Grundhaltungen sind Herzmitte christlicher Caritasarbeit – und jedes humanen Ethos. Sie einzufordern grenzt niemanden aus, sondern baut potenziell zu allen Mitarbeiter(inne)n wie Klient(inn)en eine Brücke. Daher geht es um die Offenheit aller in der Caritas Aktiven, sich auf den überlieferten Schatz kirchlicher Zeugnisse von Glauben, Hoffen und Lieben einzulassen. Er ist im Sinne Auers die Quelle der Horizonterweiterung, Motivation und Kritikfähigkeit – durch das Erzählen von (biblischen und nichtbiblischen) Geschichten, das Singen von Liedern, das Vollziehen von Ritualen, das Sprechen von Gebeten, das Erleben von Gemeinschaft. Auf diese Quelle sollte sich jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter der Caritas einlassen können, weil sie eine Quelle der Humanität ist – und Humanität gehört unbezweifelbar zum professionellen Handeln im Dienst am Menschen.
Konsequenzen für die Caritas als Dienstgeberin
Bisher war das kirchliche Arbeitsrecht stark auf „hard facts" aufgebaut: Gefragt wurde für die meisten Arbeitsplätze – wie in den beiden Eingangsbeispielen – nach der Kirchenmitgliedschaft oder einer kirchlich gültigen Ehe. Für Berufe im unmittelbaren Bereich des Heilsethos mag das angehen. Für Berufe im mittelbaren Bereich des Heilsethos oder im Bereich des Weltethos hingegen nicht. Hier braucht es Kriterien im Bereich der Soft Skills. Hans Jörg Millies, Finanz- und Personalvorstand im Deutschen Caritasverband, schlägt deshalb 2018 in Reaktion auf die Urteile des EuGH und des BAG vor, in Stellenausschreibungen der Caritas weitgehend auf das Kriterium der Zugehörigkeit zur katholischen Kirche zu verzichten und stattdessen die „Identifikation mit den Aufgaben, Zielen und Werten der katholischen Einrichtung" zu fordern. Grundsätzlich ist dieser Idee zu folgen. Sie sollte aber ausdifferenziert und präzisiert werden.
Für Berufe im unmittelbaren Bereich des Heilsethos, die Verkündigung, Liturgie und Seelsorge im engen Sinne zur Aufgabe haben, sind sowohl die Konfessionszugehörigkeit als auch eine hohe Übereinstimmung des persönlichen Lebenswandels mit den kirchlichen Lehren unverzichtbar, und zwar sowohl wegen der Art der Tätigkeiten als auch aufgrund des Kontextes ihrer Ausübung im Namen der Kirche. Allerdings kann „hohe Übereinstimmung" nie „volle Übereinstimmung" bedeuten. Vielmehr geht es hier um Fragen der Verhältnismäßigkeit und beim Ethos auch um Fragen der Barmherzigkeit. Das hat die kirchliche Praxis prinzipiell auch stets bejaht.
Schon für Berufe im mittelbaren Bereich des Heilsethos (zum Beispiel hauptberufliche Mesner(innen) oder Dombaumeister(innen)), aber erst recht für Berufe im unmittelbaren Bereich des Weltethos, zu denen die Kernberufe der Caritas gehören, ist die Konfessionszugehörigkeit keine notwendige Voraussetzung, ebenso wenig die Übereinstimmung des persönlichen Lebenswandels mit den kirchlichen Lehren. Loyalität ist nur erforderlich, soweit sie die Berufsausübung betrifft. So darf zum Beispiel der Arzt eines kirchlichen Krankenhauses nicht nebenbei in einer Abtreibungsklinik oder einer Sterbehilfeorganisation mitarbeiten. Darüber hinaus kommen die Soft Skills ins Spiel. Plausiblerweise wird man die Bereitschaft verlangen, sich auf spirituelle Fragen einzulassen, um am Teamspirit der Institution teilzunehmen, sowie die Bereitschaft, die eigene Urteilsbildung in beruflichen Fragen vom christlichen Glauben inspirieren, kritisieren und weiten zu lassen – selbst für den Fall, dass der oder die Mitarbeiter(in) diesen Glauben nicht teilt. Für Berufe im mittelbaren Bereich des Weltethos (zum Beispiel Hausmeister, Reinigungsservice, Küche etc.) wird die Arbeitgeberin ohnehin nur die Soft Skills einfordern können.
Wie aber kann der Kriterienkatalog der Soft Skills im Bewerbungsgespräch erfragt werden? Man sollte die Bewerber(innen) eine berufliche Erfahrung erzählen lassen, in der ihre Spiritualität spürbar wird. Das kann ein besonders beglückendes Erlebnis aus der bisherigen Berufstätigkeit sein, aber auch ein besonders bedrückendes oder sprachlos machendes. Über dieses Erlebnis ins Gespräch zu kommen und seine Tiefenschichten zu entdecken wäre dann die Aufgabe des Bewerbungsgesprächs. – Zugegeben: Ein solches Bewerbungsgespräch ist anspruchsvoll für beide Seiten. Aber so würde das Ethos der Bewerber(innen) schnell und klar zutage treten.
Anmerkungen
1. Dieser Beitrag ist die Kurzfassung eines Referats im Rahmen des Theologischen Forums „Christliche Professionalität in der Caritas – Anforderungen formulieren und Entwicklung fördern", veranstaltet von der Fortbildungs-Akademie des Deutschen Caritasverbandes am 12. und 13. Februar 2019 in Frankfurt am Main.
2. In modernen philosophischen Texten wird oft der fachsprachliche Ausdruck „Gutheit" verwendet (Wikipedia).
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