Freizügigkeitsrecht als Errungenschaft
Staatsangehörige anderer EU-Staaten wandern seit Jahrzehnten nach Deutschland ein. Einige wie beispielsweise Italiener(innen) kamen zunächst als sogenannte Gastarbeiter(innen). Erst später stieg das Bewusstsein für die Freizügigkeit, die schon in den Römischen Verträgen von 1957 zur Gründung der damals noch als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) bezeichneten Union verankert war. Der freie Verkehr von erwerbstätigen Personen (Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit) ist neben dem freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital eine Säule des Binnenmarktes und gehört damit zu den Grundfreiheiten der EU.
Trotz Diskriminierungsverbot und Freizügigkeit gab es in der EWG zunächst noch den Vorrang inländischer Beschäftigter, da Deutschland und Frankreich fürchteten, dass zu viele Arbeitskräfte aus dem "Billiglohnland Italien" kommen könnten. Seit 1970 aber galt die Arbeitnehmerfreizügigkeit unbeschränkt. In den folgenden Jahren befeuerten die Beitritte von Spanien und Portugal sowie der mittel- und südosteuropäischen Staaten jeweils erneut Ängste, es könne zu einer zu großen Zuwanderung von Arbeitskräften kommen. Daher wurden die Beitritte jeweils durch eine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für bis zu sieben Jahre flankiert. Derzeit genießen alle Unionsbürger(innen) die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit.
Im Jahr 1992 wurde mit dem Vertrag von Maastricht die Unionsbürgerschaft eingeführt, zu deren Kernbestand die Freizügigkeit für alle EU-Bürger(innen)1 gehört. Die Mitgliedstaaten dürfen keine Regelungen erlassen, die den tatsächlichen Genuss dieses Rechts direkt oder indirekt verhindern. EU-Bürger(innen) können sich jederzeit in einen anderen Mitgliedstaat begeben und benötigen dafür nur einen Pass oder einen Personalausweis. Dieses bedingungslose Freizügigkeitsrecht gilt für drei Monate.
Auch Minijobber haben Erwerbstätigenstatus
Bei einem Aufenthalt von über drei Monaten müssen weitere Voraussetzungen erfüllt werden. Beschäftigte und Selbstständige sind als solche freizügigkeitsberechtigt. Die Erwerbstätigkeit muss dabei nicht lebensunterhaltssichernd sein. Nach EU-Recht haben auch Minijobber und Kleinstgewerbetreibende den Erwerbstätigenstatus. Die Arbeitssuche vermittelt für mindestens ein halbes Jahr Freizügigkeit. Danach können Nachweise über aktive Arbeitssuche und Erfolgsaussichten verlangt werden. Bei wirtschaftlich nicht aktiven EU-Bürger(inne)n (also solchen, die keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, keine Arbeit suchen und nicht Angehörige von Erwerbstätigen oder Arbeitssuchenden sind) muss die Existenz aus eigenen Mitteln gesichert sein. Fehlt es daran, geht das (materielle) Freizügigkeitsrecht verloren, Ausreisepflicht besteht aber erst dann, wenn die Ausländerbehörde dies formal festgestellt hat.
Die Freizügigkeit umfasst das Recht, Ehegatt(inn)en und Nachkommen bis zu deren 21. Geburtstag mitzunehmen beziehungsweise deren Nachzugsrecht. Die Kinder von Arbeitnehmer(inne)n haben unbeschränkten Zugang zu Schule und Ausbildung und können daraus ein eigenständiges Aufenthaltsrecht ableiten. Nach fünf Jahren freizügigkeitsberechtigtem Aufenthalt entsteht das Daueraufenthaltsrecht, das unabhängig ist von Erwerbstätigkeit oder Lebensunterhaltssicherung.
EU-Bürger(innen) mit Erwerbstätigenstatus und ihre Angehörigen sowie solche mit Daueraufenthaltsrecht haben vollen Zugang zu allen sozialen Leistungen. Zur Arbeitssuche eingereiste EU-Bürger(innen) und wirtschaftlich nicht aktive EU-Bürger(innen) sind von Leistungen des SGB II und SGB XII ausgeschlossen. Zu der umstrittenen Frage, ob dies gegen das Grundrecht auf Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums verstößt, steht eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts noch aus.
Vom Anwerbestopp im Jahr 1973 war das Freizügigkeitsrecht nicht betroffen. Dennoch sank auch die Zuwanderung aus den damaligen EWG-Staaten. In den 1980er- und 1990er-Jahren lag der Saldo durch die starke Abwanderung aus Deutschland in mehreren Jahren sogar im Minusbereich und im Mittel nur bei gut 1000. Ein ähnliches Bild zeigte sich auch noch Anfang der Nullerjahre.
Seit 2004 stieg die Zahl der zuwandernden EU-Bürger(innen) kontinuierlich an, wobei dies zunächst insbesondere zuwandernden Pol(inn)en geschuldet war. Ab 2008 kam es infolge der Banken- und der Eurokrise zu einer stark wachsenden Zuwanderung aus Spanien, Italien, Portugal und Griechenland. Mit den Beitritten von Bulgarien und Rumänien wanderten die Angehörigen dieser Staaten trotz beschränkter Arbeitnehmerfreizügigkeit in erheblichem Umfang zunächst vor allem nach Spanien und Italien und mit dem Beginn der Krisen in diesen Ländern verstärkt nach Deutschland.
Die meisten Zugewanderten sind aus Rumänien
Im Jahr 2013 überschritt die Zuwanderung aus anderen EU-Staaten insgesamt die Marke von 500.000 und erreichte 2015 einen vorläufigen Höchststand von 685.000. Seither sind die Zahlen etwas gesunken, lagen aber deutlich über 600.000 pro Jahr (im Jahr 2018 bei 635.000) (siehe Abbildung, links). Damit stellten EU-Bürger(innen) in den letzten zehn Jahren (außer 2015) immer die mit Abstand größte Zuwanderergruppe. Nachdem mehrere Jahre die meisten Zugewanderten aus Polen kamen, hat Rumänien 2014 diese Spitzenposition übernommen. 2018 folgten mit gehörigem Abstand Polen, Kroatien, Bulgarien und Italien.
Von den gut zehn Millionen Ausländer(inne)n in Deutschland haben 43 Prozent die Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaates. Die größte Gruppe stellen Pol(inn)en mit 860.145, die kleinste Gruppe sind die 710 Staatsangehörigen Maltas.
Viele EU-Bürger(innen) sind als Saisonkräfte nur einige Monate in Deutschland, viele bleiben nur einige Jahre. Die Abwanderungszahlen lagen in den letzten Jahren im Schnitt bei 340.000 und damit über dem jeweiligen Zuwanderungssaldo. Die große Fluktuation ist insbesondere auf die Staatsangehörigen Rumäniens und Bulgariens zurückzuführen. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer der hier lebenden 337.000 Bulgar(inn)en und der 696.000 Rumän(inn)en liegt derzeit bei lediglich fünf Jahren. Zum Vergleich: Die Verweildauer der 643.530 Italiener(innen) liegt im Schnitt bei über 26 Jahren.
Ausschluss von Leistungen führt oft zu mehr Verelendung
In der Öffentlichkeit wahrgenommen werden vor allem die EU-Bürger(innen), die in Deutschland schlecht Fuß gefasst haben. Sie leben in Schrottimmobilien oder in Obdachlosigkeit2 und arbeiten als Tagelöhner. Auch kommt eine erhebliche Zahl der Prostituierten in Deutschland aus östlichen EU-Staaten. Die Beratungsstellen und Einrichtungen der Kommunen und der freien Wohlfahrt sind teilweise überfordert. Der Deutsche Städtetag hatte im Februar 2013 reagiert und Lösungen gefordert3, die es aber bislang zu wenig gibt. Auch der Ausschluss bestimmter Gruppen aus Grundsicherungsleistungen führte nicht dazu, dass das Problem nennenswert kleiner wurde, sondern oft zu weiterer Verelendung.
Da EU-Bürger(innen) Freizügigkeit genießen, werden ihre Migrationsmotive nicht erfasst. Die Erfahrungen - auch in den Caritas-Migrationsdiensten - zeigen aber, dass die Mehrheit arbeiten will. Mobile EU-Bürger(innen) haben im Schnitt ein höheres Qualifikationsniveau als die jeweilige Herkunftsbevölkerung, was den Arbeitsmarktzugang erleichtert, und erreichen in den jeweiligen Zielstaaten sehr hohe Beschäftigungsquoten von rund 80 Prozent. Das gilt an sich auch in Deutschland, allerdings liegt hier die Beschäftigungsquote der hochqualifizierten EU-Bürger(innen) unter derjenigen von vergleichbar qualifizierten Deutschen. Auf der anderen Seite stammen überdurchschnittlich viele mobile EU-Bürger(innen) mit geringem Bildungslevel aus Rumänien, Bulgarien und Kroatien und damit aus Hauptherkunftsländern für die Zuwanderung nach Deutschland. Allerdings haben sie eine fast ebenso hohe Beschäftigungsrate wie die einheimische Bevölkerung mit vergleichbarem Qualifikationsniveau.
Dass es Fachkräften aus anderen EU-Staaten teils nicht gelingt, eine ausbildungsadäquate Beschäftigung zu finden, liegt unter anderem auch daran, dass die Anerkennung ausländischer Abschlüsse in Deutschland nach wie vor komplex und bürokratisch abläuft und/oder dass die notwenigen Kenntnisse der deutschen Sprache fehlen.
Insgesamt steigt die Beschäftigungsquote von EU-Bürger(inne)n in Deutschland seit Jahren. Bei den oft besonders kritisch gesehenen Bulgar(inn)en und Rumän(inn)en lag diese Quote mit 66 Prozent sehr nah an der Gesamtbevölkerung (68 Prozent) und deutlich über der anderer Ausländer(innen). Die Arbeitslosenquote aller EU-Bürger(innen) liegt mit 7,3 Prozent deutlich unter der aller Ausländer(innen): Diese ist bei den Ausländer(inne)n insgesamt mit 12,5 Prozent konstant doppelt so hoch wie in der Gesamtbevölkerung.
Trotz der an sich guten Arbeitsmarktdaten von EU-Bürger(inne)n - und obwohl einige Gruppen aus dem Bezug des SGB II ausgeschlossen sind - beziehen sie im Vergleich zur Gesamtbevölkerung überdurchschnittlich oft Leistungen nach dem SGB II. Dabei sind sie überdurchschnittlich oft Aufstocker(innen) - haben also trotz Arbeit kein lebensunterhaltssicherndes Einkommen.
Das Freizügigkeitsrecht bringt die Freiheit, in der EU mobil zu sein - um zu arbeiten, zum Studium oder auf der Suche nach Perspektiven. Dieses Recht wird vielfach genutzt: Fast vier Prozent der EU-Bürger(innen) im erwerbsfähigen Alter leben nicht in ihrem Heimatland, wobei das nur für ein Prozent der Deutschen, aber für 19 Prozent der Rumän(inn)en gilt. Dieses Recht wird als Errungenschaft der EU geschätzt und trägt so zu ihrem Zusammenwachsen bei.4
Quellen
Statistisches Bundesamt:
- www-genesis.destatis.de/genesis/online
- www.destatis.de > Ausländische Bevölkerung
- www.destatis.de > Wanderungen
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge:
- www.bamf.de > Forschung > Forschungsergebnisse> Migrationsberichte
- www.bamf.de > Infothek > Statistiken
Bundesagentur für Arbeit:
- https://statistik.arbeitsagentur.de/ > Statistik nach Themen > Migration > Personen nach Staatsangehörigkeiten
- IAB: Zuwanderungsmonitor Oktober 2019: www.iab.de/de/daten/zuwanderungsmonitor.aspx
Eurostat: EU citizens living in another Member State - statistical overview. Kurzlink: https://bit.ly/2PrdZA0
Anmerkungen
1. Im Folgenden sind mit EU-Bürger(inne)n nur die Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten gemeint.
2. www.bagw.de/de/themen/zahl_der_wohnungslosen/index.html
3. www.staedtetag.de/presse/mitteilungen/064517/index.html
4. Standard-Eurobarometer 89, Frühjahr 2018: Die europäische Bürgerschaft. Befragung: März 2018, S. 21.
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