Europa muss sozialer und gerechter werden
Demokratie, Solidarität und gesellschaftlicher Zusammenhalt sind untrennbar miteinander verbunden. Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist die Basis für eine stabile Demokratie, und das gilt umgekehrt genauso. Dies schafft ein Gefühl gemeinsamer Zugehörigkeit. Und nur Bürger(innen), die sich zugehörig fühlen, werden sich aktiv in Entscheidungsprozesse einbringen. Wie sehr dies in Europa notwendig ist, ist heute klarer denn je.
Noch immer ist fast ein Viertel der Bevölkerung der EU von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht.1 Trotz verschiedener positiver wirtschaftlicher Signale ist die Arbeitslosigkeit in einigen Regionen Europas sehr hoch, vor allem für viele Jugendliche. Auch prekäre Beschäftigungsverhältnisse nehmen zu, ob Teilzeit, befristet oder Null-Stunden-Verträge. Angesichts dieser wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen und der noch weit darüberhinausgehenden Abstiegsängste haben einige den Glauben an eine bessere Zukunft verloren und wenden sich ab von Europa, das für die befürchtete Verschlechterung der Lebensverhältnisse verantwortlich gemacht wird.
Auch wenn Europa nicht perfekt ist, ist es der einzig wünschenswerte Weg, sich den großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu stellen. Allerdings nur unter ein paar Bedingungen.
So müssen die Städte und Regionen als vollwertige Akteure auf europäischer Ebene anerkannt werden. Und Europa muss sich auf seine Gründungsverträge besinnen. Denn dort ist das Ziel des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts festgeschrieben. Die sozialen Rechte müssen auf einer Stufe mit den wirtschaftlichen Freiheiten stehen. Dies wurde auch immer wieder in den vom Europäischen Ausschuss der Regionen geführten Bürgerdialogen der letzten Jahre gefordert. Ohne eine starke soziale Säule wird die Europäische Union nicht bestehen können.
Die neue EU-Kommission muss die sozialen Rechte stärken
Im November 2017 wurde die Europäische Säule sozialer Rechte in Göteborg angenommen. Auch wenn es sich zunächst einmal nur um eine Erklärung ohne verpflichtende Mittel, Ziele oder Indikatoren handelt, ist dies dennoch ein Meilenstein, dessen Rolle gefestigt werden muss. Die neue Europäische Kommission wird dafür einen Aktionsplan vorschlagen. Sie muss beweisen, dass sie es ernst meint mit dem sozialen Europa, und es bestehen in diesem Zusammenhang hohe Erwartungen.
Die Europäische Kommission will die Fortschritte bei der Umsetzung der Säule der sozialen Rechte auch über das sogenannte sozialpolitische Scoreboard im Rahmen des Europäischen Semesters überwachen.
Die makroökonomischen Analysen des Scoreboard sagen allerdings nichts über regionale Ungleichheiten innerhalb der Mitgliedstaaten aus. Die Region Brüssel ist dafür ein gutes Beispiel. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) war diese Region 2015 die viertreichste Europas, die Arbeitslosigkeit war aber gleichzeitig mit 17,3 Prozent extrem hoch.2 Der Europäische Ausschuss der Regionen, der die 100.000 Kommunen und 274 Regionen Europas in Brüssel vertritt, weiß um die Bedeutung der regionalen und lokalen Ebene für die Umsetzung der Säule der sozialen Rechte. Gerade in der Sozialpolitik ist ein Bottom-up-Ansatz wichtig, damit Ressourcen dort zugewiesen werden können, wo sie am meisten benötigt werden. Der Europäische Ausschuss der Regionen hat daher einen Vorschlag für ein regionales sozialpolitisches Scoreboard entwickelt. Dieses soll das bereits existierende Scoreboard mit regionalen Indikatoren ergänzen. Es ist zu hoffen, dass dieser Vorschlag, das sozialpolitische Scoreboard mit dem regionalen Scoreboard zu vervollständigen, von den anderen Institutionen angenommen und weiterverfolgt wird, damit das Europäische Semester auf genaueren Daten basiert und die soziale Realität in den Regionen besser berücksichtigt wird.
Jetzt wird über den neuen Finanzrahmen verhandelt
Außerdem beginnt jetzt, da die neu besetzten Institutionen ihre Arbeit aufnehmen, die wichtigste Phase der Verhandlungen über den neuen mehrjährigen Finanzrahmen. In den europäischen Verträgen steht, dass "die Union darauf hinwirkt, Ungleichheiten zu beseitigen". Der Europäische Ausschuss der Regionen setzt sich in den Verhandlungen für einen Haushalt ein, der dies möglich macht. Die Kohäsionspolitik ist - als wichtigstes Investitionsinstrument der Europäischen Union - für ein soziales Europa unabdingbar. Sie zeigt ihre Wirkung vor Ort und fördert Investitionen, die die Europäer brauchen.
Für die gemeinnützigen Träger ist der Europäische Sozialfonds (ESF) besonders wichtig. Der ESF hat in der noch laufenden Programmierungsperiode bereits 7,4 Millionen Menschen geholfen, Arbeit zu finden, und 8,9 Millionen Menschen haben sich neue Kompetenzen angeeignet.3 Des Weiteren wird der ESF in den kommenden Jahren eine wachsende Rolle bei der Umsetzung der Säule der sozialen Rechte spielen. Dennoch sieht der Vorschlag für den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen Kürzungen vor. Aber wie soll ein soziales Europa verwirklicht werden, wenn die Hauptinvestitionspolitik der EU gekürzt wird? Man kann nicht mehr mit weniger Mitteln erreichen, dies entbehrt schlicht jeder Logik. Eine echte Vision für Europa muss mit angemessenen Finanzmitteln einhergehen. Zur Sicherung der Kohäsionspolitik hat der Ausschuss der Regionen daher in Zusammenarbeit mit europäischen regionalen Verbänden die sogenannte #CohesionAlliance ins Leben gerufen.4
Aber nicht nur die europäischen Kohäsionsfonds, sondern auch die europäischen Regeln für Haushalt und Buchhaltung sollten dazu beitragen, öffentliche Investitionskapazitäten auf allen Ebenen freizusetzen. Investitionen in soziale Infrastruktur sind seit 2009 um 20 Prozent gesunken und die Investitionslücke in diesem Bereich wird auf 150 Milliarden Euro pro Jahr für die nächsten zehn Jahre geschätzt.5
Vorsicht vor der schwarzen Null!
Die Daseinsvorsorge muss gesichert werden können. Daher setzt sich der Europäische Ausschuss der Regionen für mehr Flexibilität im Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt ein sowie dafür, die öffentlichen Investitionsausgaben und die nationale Kofinanzierung der Strukturfonds aus den Defizitberechnungen auszuschließen. In den letzten Wochen war zu hören, dass die Kommission ebenfalls über flexiblere Haushaltsregeln nachdenkt. Man muss abwarten, wie weit die Kommission bereit ist zu gehen, aber es wäre eine erfreuliche Nachricht, wenn Investitionen in Menschen und soziale Infrastruktur nicht mehr der schwarzen Null zum Opfer fallen würden.
Wir brauchen ein Europa, das nicht nur wirtschaftlichen Wohlstand bringt, sondern sich auch voll und ganz den Zielen von Gerechtigkeit und sozialem Fortschritt verschreibt. Nur so kann Nationalismus zurückgedrängt und ein friedliches, solidarisches Europa geschaffen werden, das von einem starken wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt geprägt ist. Wir sollten uns jetzt mit vereinten Kräften für die sozialen Themen in der neuen Legislaturperiode und im nächsten Finanzrahmen einsetzen, damit die gemeinnützigen Träger weiterhin gemeinsam mit den Regionen für den Zusammenhalt in Europa arbeiten können. In dieser für die zukünftige EU so entscheidenden Zeit ist es wichtig, den Schulterschluss zu suchen, um den Mut zu finden, die Vision zu verwirklichen, die die Gründerväter für die Union hatten.
Anmerkungen
1. Eurostat: People at risk of poverty or social exclusion. Zuletzt abgerufen am 15. Oktober 2019 unter: https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=People_at_risk_of_poverty_or_social_exclusion
2. European Commission, EURES: Labour market information. Zuletzt abgerufen am 15. Oktober 2019 unter: https://ec.europa.eu/eures/main.jsp?lang=en&acro=lmi&catId=7552&countryId=BE®ionId=BE1
3. European Commission: Seventh Report on Economic, Social and Territorial Cohesion. Zuletzt abgerufen am 15. Oktober 2019 unter: https://ec.europa.eu/regional_policy/en/information/cohesion-report/
4. European Committee of the Regions: Cohesion Alliance. Zuletzt abgerufen am 15. Oktober 2019 unter: https://cor.europa.eu/en/engage/Pages/cohesion-alliance.aspx
5. European Commission and the European Association of Longterm Investors: Boosting Investment in Social Infrastructure in Europe. Report of the High-Level Task Force on Investing in Social Infrastructure in Europe. Zuletzt abgerufen am 15. Oktober 2019 unter: https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/economy-finance/dp074_en.pdf
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