Die Kehrseite der europäischen Freizügigkeit: existentielle Not
Jeder Unionsbürger, jede Unionsbürgerin hat das Recht, sich ohne Visum in einem anderen europäischen Land aufzuhalten, dort zu arbeiten und zu leben. Von dieser Möglichkeit machen nicht nur Menschen Gebrauch, die in Deutschland als Arbeitnehmer(innen) oder Selbstständige arbeiten, sondern auch Personen, die nicht erwerbstätig sind. So ist es zum Beispiel auch für Rentner(innen) möglich, ihren Lebensmittelpunkt nach Deutschland zu verlagern. Genauso wie Studierende oder Auszubildende aus EU-Ländern müssen sie über ausreichende Existenzmittel und eine Krankenversicherung verfügen, damit sie sich dauerhaft in Deutschland niederlassen können. Nach fünfjährigem rechtmäßigen Aufenthalt können Unionsbürger(innen) ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4 a Freizügigkeitsgesetz/EU erwerben. Erst dann ist eine weitgehende Gleichstellung mit deutschen Staatsbürger(inne)n gegeben, was zum Beispiel auch den Zugang zu staatlichen Hilfeleistungen betrifft. Leistungsausschlüsse sind dann nicht mehr ohne weiteres möglich.
Ausschluss von Leistungen als Lebensrealität
Anders als in den Medien oft dargestellt oder von Parteien des rechten Spektrums behauptet, ist der Bezug von Sozialleistungen für EU-Bürger(innen) nicht voraussetzungslos und für alle uneingeschränkt verfügbar. Ein sofortiger Bezug von Sozialleistungen nach Einreise, ohne Anbindung an eine Arbeit, ist so nicht ohne weiteres möglich. Von Hilfen vom Jobcenter sind alle Personen prinzipiell ausgeschlossen, die noch Arbeit suchen. Sie dürfen sich zwar in Deutschland aufhalten, erhalten jedoch keine staatlichen Hilfen in Notlagen. Für Menschen, die mittellos einreisen oder während der Arbeitssuche ihr Geld aufbrauchen, ist dies problematisch. Sie können zwar ein Darlehen für eine Rückfahrt ins Heimatland beantragen, erhalten jedoch keine finanzielle Unterstützung für die erste Zeit dort. Die Sozialsysteme in vielen europäischen Ländern sind unzureichend, gerade in Süd- oder Südosteuropa. Es wird deutlich, dass vor allem arme Unionsbürger(innen) sowohl in Deutschland als auch in ihren Herkunftsländern Gefahr laufen, Zeiten überbrücken zu müssen, in denen sie ihre täglichen Grundbedürfnisse nicht decken können und in denen der Staat sie nicht unterstützt. Oft bleiben für die Betroffenen nur noch bürgerschaftliche oder caritative/diakonische Hilfestrukturen.
Was passiert, wenn keine Freizügigkeit besteht?
Wenn die Ausländerbehörde feststellt, dass das Freizügigkeitsrecht nicht besteht, werden alle staatlichen Leistungen eingestellt. Viele Unionsbürger(innen), die im Niedriglohnsektor arbeiten und auf aufstockende Hilfe angewiesen sind, aber noch keinen Daueraufenthalt erworben haben, laufen damit Gefahr, dass ihnen die staatliche Hilfe zur Sicherstellung des Existenzminimums wegbricht. Auch diejenigen, die ihre Arbeit verlieren, stehen unter dem Druck, da Leistungen des Jobcenters in der Regel nach Verlust einer Beschäftigung nur für die Dauer von sechs Monaten gezahlt werden, wenn kein weiteres Arbeitsverhältnis zustande kommt und noch kein Daueraufenthaltsrecht erworben wurde. Die Folgen für die betroffenen Menschen und ihre Familien sind gravierend. In vielen Fällen ist schlagartig die Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht mehr gegeben. Miete, Strom, Krankenkassenbeiträge, Medikamente und Essen können nicht mehr bezahlt, Schulden nicht mehr beglichen werden.
Regelungsdefizit - fehlendes europäisches Sicherungsnetz
Diese Menschen, die in prekären Lebenssituationen gefangen sind, sind auf professionelle (muttersprachliche) Hilfe angewiesen. Vor allem arme EU-Bürger(innen) und ihre Familien leiden unter Regelungsdefiziten und fehlenden Zuständigkeiten. Auch die abrufbare Unterstützung durch Botschaften/Konsulate ist höchst unterschiedlich ausgestaltet und ist mit der Hilfepalette nicht vergleichbar, die deutsche Staatsbürger(innen) im Ausland erfahren. Die Europäische Union hat kein Rückkehr- oder Auffangprogramm für Menschen, die in ihr Herkunftsland zurückkehren, wie es zum Beispiel für Angehörige außereuropäischer Staaten der Fall ist. Dies wäre jedoch dringend nötig.
Ökumenische Anlaufstelle "Willkommen Europa!"
Dortmund ist Heimat für viele Zugewanderte aus EU-Mitgliedstaaten. Deren Zahl ist mittlerweile auf 36.057 Menschen gewachsen. Auffällig gestiegen ist die Anzahl der Dortmunder(innen) aus Spanien, Bulgarien und Rumänien. In Kooperation mit der Stadt Dortmund hat die freie Wohlfahrtspflege auf diese Entwicklungen reagiert und im Jahr 2014 die Ökumenische Anlaufstelle "Willkommen Europa!" in der Dortmunder Nordstadt ins Leben gerufen, die von einem Trägerverbund bestehend aus dem Caritasverband Dortmund, dem Diakonischen Werk Dortmund und Lünen, der Dortmunder Bildungs-, Entwicklungs- und Qualifizierungsgesellschaft (dobeq) und GrünBau getragen wird und professionelle muttersprachliche Hilfe unter einem Dach anbietet.
Für Familien aus Rumänien und Bulgarien bietet die "Muttersprachliche Familienbegleitung" konkrete, alltagspraktische Unterstützung an. Die Angebotspalette umfasst Einzelfallberatung der Familien, wenn benötigt auch im häuslichen Kontext, Begleitung zu Institutionen und Behörden und soziale Gruppenangebote für Eltern und Kinder. Die Familienbegleiter(innen) stellen ihr Know-how zur Verfügung, wenn es darum geht, gemeinsam Lösungen für Probleme zu finden. Dieses kommunal finanzierte Angebot fokussiert auf Fälle, wo prekäre Lebensbedingungen den Kinderschutz berühren. Wenn zum Beispiel ein alleinerziehender Vater mit drei Kindern keine Unterstützung erhält, das Geld nicht für das Essen reicht, die Wohnsituation unzumutbar ist und ein Sohn Verhaltensauffälligkeiten zeigt, sichten Familienbegleiter(innen) die Lage, vermitteln in das Hilfesystem und unterstützen bei Rechtsfragen und Arbeitssuche.
Auch wird seit neuestem der Ansatz einer Rückkehrberatung von der Caritas im Rahmen des Projekts "GIVE" erprobt. Diese wird von Menschen genutzt, die keine Ansprüche auf staatliche Leistungen haben und wieder in ihre Heimat zurückkehren möchten. "GIVE" wird vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) sowie dem Europäischen Hilfsfonds (EHAP) gefördert. Hilfestellungen zur Arbeitsmarktintegration werden durch das Förderprogramm "Starke Quartiere - starke Menschen" (SQsM) im Projekt "Willkommen in der Nordstadt!" angeboten. Arbeitssuchende werden von muttersprachlichen Fachkräften bei ihrer Integration in Arbeit begleitet. Hier arbeitet der Caritasverband mit Diakonie, GrünBau und dobeq an der Entwicklung und Implementierung von Ansätzen, die auch Menschen mit niedrigem Sprach- und Bildungsniveau unterstützen, eine Arbeit zu finden.
Für komplexe Probleme in der Praxis gibt es keine einfachen Lösungen. Die Stadtgesellschaft, das Land, der Bund, die EU und die Heimatländer sind gemeinsam gefragt, Lösungen zu entwickeln, die besonders benachteiligte Menschen unterstützen. Jeder Europäer und jede Europäerin muss die Möglichkeit auf ein gutes Leben haben und in der Sicherheit leben können, im Notfall das Notwendigste zum Leben zu erhalten.
Literatur
Der Paritätische Gesamtverband: Ausgeschlossen oder privilegiert? Zur aufenthalts- und sozialrechtlichen Situation von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen. 3. aktualisierte Auflage. Berlin, 2017, im Internet unter: www.der-paritaetische.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/doc/2017-11-13_broschuere_A4_unionsbuerger_auflage3_web.pdf
Deutscher Städtetag: Armutszuwanderung aus Südosteuropa braucht Lösungen durch Bund, Länder und EU, 2013. Im Internet unter: www.staedtetag.de/presse/mitteilungen/064517/index.html
Stadt Dortmund: Zuwanderung aus Ost- und Südosteuropa - Zuziehung von Sachverständigen des Integrationsausschusses am 8.5.2013 im Landtag NRW. Stellungnahme der Stadt Dortmund zum Fragekatalog, 2013. Im Internet unter: www.landtag.nrw.de/Dokumentenservice/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMST16-719.pdf;jsessionid=A6C21311F44255262F756D9198D7089F
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