Wenn Eltern psychisch krank sind, werden die Kinder oft vergessen
Zahlreiche Studien belegen, dass Kinder psychisch kranker Eltern eine Hochrisikogruppe darstellen, die stark gefährdet ist, selbst eine psychische Erkrankung zu entwickeln.1 Dies gilt auch für Familien, in denen Eltern(teile) eine Suchterkrankung oder -belastung aufweisen. Die Erkrankungen beziehungsweise Belastungen der Eltern prägen das Familienklima und das Alltagsverhalten in starkem Maße und können negative und dauerhafte Spuren in der psychischen Gesundheit der Kinder hinterlassen. Bundesweit sind mindestens vier Millionen Kinder betroffen. Aufgrund fehlender verlässlicher Daten muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass diese Zahlen eher konservative Schätzwerte sind, die wohl eher nur das obere Ende des Eisbergs darstellen. Trotz der hohen Relevanz ist eine bedarfsgerechte, flächendeckende Versorgung der betroffenen Kinder aktuell noch nicht ansatzweise etabliert. Eine Herausforderung besteht darin, dass die Kinder oft sozusagen die "vergessenen kleinen Angehörigen" sind, wenn Erwachsene bereits Leistungen der psychiatrischen oder psychotherapeutischen Versorgung in Anspruch nehmen.2 Das Modellprojekt "Chance for Kids" (CfK) wird vom Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln mit Fördermitteln einer Stiftung an verschiedenen Projektstandorten durchgeführt und zeigt Wege auf, wie eine effektive Versorgung der Zielgruppe gelingen kann. Über das Modellprojekt wurde bereits ausführlich in der neuen caritas berichtet.3 Es zielt durch zusätzlich finanzierte Stellenanteile insbesondere auf den nachhaltigen Aufbau von Kooperationsstrukturen an den Schnittstellen der Versorgungssysteme ab, vor allem zwischen der Jugendhilfe und dem Gesundheitswesen. Basierend auf einer Intensivierung der arbeitsfeldübergreifenden Zusammenarbeit bilden die Vernetzung, Sensibilisierung und Qualifizierung der Fachkräfte ebenso Schwerpunkte des Projekts wie die Etablierung und Weiterentwicklung der Hilfen für die Kinder und deren Eltern. Indem unterstützende Netzwerke geschaffen werden, soll zudem die Erreichbarkeit und Versorgung betroffener Kinder verbessert werden.
Welche Veränderungen hat es gegeben?
Begleitend wurden die Wirkungen und Wirkfaktoren des Modellprojekts im Rahmen einer umfassenden Evaluationsstudie durch das Institut für Kinder- und Jugendhilfe in Mainz (IKJ) untersucht. Dabei wurden 245 Hilfeverläufe in insgesamt 19 beteiligten Erziehungs- und Suchtberatungsstellen in den Blick genommen. Im Rahmen der längsschnittlichen Studie wurde auf den sogenannten "Capability Approach" nach Amartya Sen und Martha Nussbaum Bezug genommen. Hier stehen die im Zuge der Hilfen bei den Kindern, Eltern und Familien erreichten Veränderungen von Grundbefähigungen für ein gelingendes Leben im Fokus der Betrachtung.4 Dazu wurden, soweit möglich, jeweils bei Beginn und am Ende der Hilfen die Fachkräfte sowie die Eltern und jungen Menschen zu ihren individuellen Sichtweisen befragt.
Anhand einer differenzierten Auswertung von 245 Hilfeverläufen liegen nun belastbare Ergebnisse der Evaluation zur ersten Förderphase vor.
Der Umgang mit den Belastungen verbessert sich
Dabei zeigen sich im Mittel über alle Fälle und die unterschiedlichen Perspektiven hinweg auf mehreren Ebenen positive Veränderungen. So werden die Bewältigungsfähigkeiten sowohl der Kinder als auch der Eltern dahingehend gestärkt, dass diese besser mit belastenden Situationen umgehen können. Auch hinsichtlich der psychischen Gesundheit, dem familiären Zusammenleben sowie der Erziehungskompetenz sind im Zuge der Hilfen allgemein sehr positive Entwicklungen zu verzeichnen (s. Abb. unten).
Die Wirkfaktorenanalyse zeigt, Grundlage dieses Erfolgs ist die Qualität der Hilfe- beziehungsweise Beratungsstrukturen, der zielgruppenspezifischen Angebote, der Hilfe- und Beratungsprozesse sowie auch der arbeitsfeldübergreifenden Kooperationen. Im Hinblick auf die Kooperation erwiesen sich besonders formalisierte Kooperationsvereinbarungen als hilfreich, die Prozessbeschreibungen von Beratung, Vermittlung und Informationsweitergabe enthalten sowie Verantwortlichkeiten regeln. Generell spielen die gute personelle und finanzielle Ausstattung von "Chance for Kids" sowie der strukturierte und koordinierte Projektaufbau eine wichtige Rolle. So erlangen die Fachkräfte über passgenaue Fortbildungen fundierte Kenntnisse zum Problemkontext und werden für die Belange der Zielgruppe sensibilisiert.
Ein neues Problembewusstsein ist entstanden
Dementsprechend rücken die Kinder, aber auch die Eltern in den Fokus der Betrachtung und erhalten durch die Teams der Beratungsstellen einen neuen hervorgehobenen Stellenwert. Durch regelmäßigen Austausch und direkte Kooperationen in der Fallarbeit oder aus der Organisation gemeinsamer Fachtage entwickelt sich ein neues Verständnis über bestehende Hindernisse, insbesondere aber auch hinsichtlich möglicher Chancen zur Entwicklung neuer Kooperationsformen. Auf Grundlage dieser Neuorientierung gestalten die Beratungsstellen eine erweiterte Arbeitsweise und gezielte Hilfsangebote. Diese bringen außergewöhnliche Wirksamkeiten hervor.
Deren Besonderheiten werden im Vergleich mit der Regelversorgung offenkundig: Hierzu wurde auf anonymisierte Daten aus der bundesweiten "Wirkungsevaluation in der Erziehungsberatung" (Wir.EB) zurückgegriffen. Mit dem Wir.EB-Verfahren, das ab diesem Jahr in verstetigter Form angeboten wird, können Erziehungs- und Familienberatungsstellen die Qualität ihrer Beratungsarbeit sichtbar machen und vor Ort weiterentwickeln.5 Daneben können die Daten auch wissenschaftlich genutzt werden. Im vorliegenden Fall wurden zur Veranschaulichung der Wirksamkeit von "Regelangeboten" Daten aus 6000 Beratungsprozessen herangezogen, die bundesweit etwa 100 Beratungsstellen beigesteuert haben.6
Dabei handelt es sich um das komplette Spektrum von Beratungsanliegen und nicht ausschließlich um Familien mit psychischer Erkrankung beziehungsweise Suchtbelastung. Verglichen mit der absolut schon auf einem sehr respektablen Wirkungsniveau befindlichen "Regelversorgung" sind die Hilfen im Rahmen von "Chance for Kids" teils nochmals deutlich wirkungsvoller (s. Abb.). Insbesondere die Förderung der Kinder gelingt in einer hohen Bandbreite kindspezifischer Befähigungsbereiche in signifikant höherem Ausmaß. Dies gilt speziell für die Bewältigungsfähigkeiten, die sozioemotionalen Fähigkeiten, hinsichtlich der Autonomie und Eigenständigkeit sowie im Freizeitbereich.
Mehr Schutz, bessere Versorgung
Die stärksten positiven "Zusatzwirkungen" des Modellprojekts "Chance für Kids" gibt es im Bereich "Schutz und Versorgung", der die Gewährleistung der Grundversorgung oder den Schutz vor Vernachlässigung und Gewalt miteinschließt. Diese besonderen Wirksamkeiten sind selbst dann noch zu beobachten, wenn diese mit Fällen ähnlich gelagerter Beratungsanlässe aus den Regelangeboten verglichen werden.
Unter anderem durch eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit werden Familien mit psychisch kranken und suchtbelasteten Eltern(teilen) durch das Projekt gut erreicht. Zudem zeigen die Forschungsbefunde, dass die neu entwickelten Angebote auch Familien erreichen, die klassische Angebote der Beratungsstellen normalerweise nicht in Anspruch nehmen würden. So nehmen zum Beispiel deutlich mehr Bezieher von ALG II die Unterstützungsangebote wahr als in der Regelversorgung. Umso bedeutsamer sind hier die hohen Wirksamkeiten von "Chance for Kids" zu bewerten, da diese Familien in der Regel deutlich schwierigeren Ausgangsvoraussetzungen unterliegen. Es ist demzufolge herausfordernder, hier positive Wirkungen zu erzielen.
Sie fühlen sich aufgehoben
Die Evaluationsergebnisse liefern ebenfalls Hinweise, warum die Hilfen so erfolgreich sind. Unter anderem schätzen Kinder wie Eltern in überdurchschnittlichem Maße, dass sie sich gut aufgehoben fühlen, sie Fachkräfte mit deutlich erkennbarem Verständnis für ihre Situation vorfinden und ihnen zudem noch weitere Hilfemöglichkeiten aufgezeigt werden. Entscheidend ist, dass die Hilfen den Adressat(inn)en einen sozialraumnahen niederschwelligen Zugang mit zeitnahen und terminlich flexiblen Angeboten ermöglichen. Dabei erweist sich vor allem eine Optimierung der Zugangswege als zuträglich, etwa durch den Ausbau offener Angebote oder mobilitätsunterstützender Maßnahmen im ländlichen Bereich.
Die Evaluation wurde ergänzt durch den Einsatz qualitativer Forschungselemente. Mit relevanten Akteuren der regionalen Versorgungsnetzwerke wurden an ausgewählten Projektstandorten qualitative Gruppendiskussionen durchgeführt, im Rahmen derer die örtlichen Bedarfe oder die Qualität der Kooperationsstrukturen erörtert wurden. Dabei zeigte sich, dass speziell der Aufbau von Kooperationen mit dem Gesundheitswesen herausfordernd ist. Es müssen weitere Vertrauensbrücken zwischen Fachkräften und Institutionen, aber auch zwischen den Hilfesystemen gebildet werden. Damit erhöhen sich die Chancen, betroffene Familien erfolgreich in die Angebote einzubinden. Im Zuge der Gruppendiskussionen konnten hier weitergehende Impulse gesetzt werden.
Es kann festgehalten werden, dass im Rahmen von "Chance for Kids" zahlreiche positive Entwicklungen angestoßen wurden, die für die Zielgruppe passgenaue und hochwirksame Hilfen bereitstellen. Die vorliegenden Befunde belegen, dass eine Verstetigung der Hilfen sinnvoll ist. Kinder psychisch kranker und suchtbelasteter Eltern benötigen in arbeitsfeldübergreifende Kooperationen eingebettete gezielte Förder- und Unterstützungsangebote, die aus der "Regelversorgung" heraus nicht in vergleichbar effektiver Form bereitgestellt werden.
Es geht weiter
Vor diesem Hintergrund erfolgte eine Projektverlängerung von "Chance for Kids" bis Ende 2021. Die Angebote sollen weiterentwickelt und die Vernetzungsstrukturen ausgebaut werden. Damit verbunden ist die Fortsetzung der Sensibilisierung von Fachkräften und Öffentlichkeit. Neben Wissenstransfer liegt der Fokus zudem auf einer finanziellen Verstetigung, um die Erfolge des Projekts auf inhaltlicher und struktureller Ebene zu sichern. Dabei sollen die Ergebnisse der Evaluation aufgegriffen und im Zuge eines "Theorie-zu-Praxis-Transfers" und zielgerichteten Coachings der Projektstandorte in den Verstetigungsprozess zurückgekoppelt werden.
Literatur
1. Lenz, A.: Kinder psychisch erkrankter Eltern - Belastungen, Resilienzen und Basisinterventionen. In Witte, S. (Hrsg.): Erziehungsberatung. Standpunkte, Entwicklungen, Konzepte. Freiburg: Lambertus Verlag, 2018, S. 159-173.
2. Schrappe, A.: Kinder und ihre psychisch erkrankten Eltern. Kompetent beraten, sicher kooperieren (Basiswissen Beratung). Weinheim/Basel: Beltz Juventa, 2018.
3. Förster, B.: Mit vereinten Kräften Kinder und Eltern stärken. In: neue caritas Heft 18/2017, S. 17-20.
4. Otto, H.-U.; Ziegler, H. (Hrsg.): Capabilities - Handlungsbefähigung und Verwirklichungschancen in der Erziehungswissenschaft (2. Aufl.). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2010.
5. Siehe www.wireb.de
6. Arnold, J.; Macsenaere, M.; Hiller, S.: Wirksamkeit in der Erziehungsberatung. Ergebnisse der bundesweiten Studie Wir.EB. Freiburg: Lambertus Verlag, 2018.
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