Gemeinsam im Gymnasium
Larissa ist ein geistig behindertes Mädchen: Downsyndrom, Trisomie 21. Vor sieben Jahren rief ihre Mutter an, ob die zwölfjährige Larissa am Kurt-Schwitters-Gymnasium in Hannover-Misburg aufgenommen werden könne. Nach kurzer Bedenkzeit und Absprache in der Schulleitung sagte ich als damaliger Direktor die Aufnahme zu. Ein Wagnis? Neben unserer Schule wurden geistig beeinträchtigte Kinder nur noch an einem weiteren Gymnasium in Niedersachsen unterrichtet.
Das Gymnasium, Flaggschiff des deutschen Schulwesens, verweigert Kindern mit geistiger Behinderung in der Regel die Aufnahme. Dahinter verbirgt sich eine Grundsatzfrage: Sollen geistig behinderte Kinder am Unterricht allgemeinbildender Schulen teilnehmen können, auch wenn sie ihren Mitschüler(inne)n kognitiv nicht folgen und nicht zielgleich unterrichtet werden können? Ist Inklusion am Gymnasium, dem viele noch immer Exklusivität attestieren, überhaupt möglich? Dass Inklusion geistig behinderter Kinder gelingen kann, sofern die Rahmenbedingungen stimmen und die Ressourcen gesichert sind, zeigt das Kurt-Schwitters-Gymnasium in Hannover-Misburg.
Larissa war nicht das einzige beeinträchtigte Kind an der Schule. In ihrer Klasse zum Beispiel gab es noch weitere Schüler mit Behinderung. Sie lernten zusammen mit Jugendlichen, die das Bildungsziel Abitur anstrebten – allerdings nur bis zum Ende des zehnten Schuljahres. Nach Abschluss ihrer Schulzeit konnte man feststellen: Experiment geglückt, die Inklusion selbst geistig behinderter Schüler am Gymnasium gelungen. Larissas Mutter zog das Fazit, diese Zeit sei der wichtigste Abschnitt für die Persönlichkeitsbildung ihrer Tochter gewesen.
Wille, Zeit und Bereitschaft
Inklusion kann gelingen, wenn auf allen Seiten Wille und Bereitschaft vorhanden sind. Vor allem müssen auch die personellen und materiellen Voraussetzungen stimmen. Differenzierungsräume, behindertengerechte Zugänge, Sitzmöbel und Regale, Küchenzeilen und Computerarbeitsplätze gehören dazu, aber auch entsprechende Lern- und Fördermaterialien. Die vielleicht wichtigsten Bedingungen sind die Kooperationsbereitschaft und -fähigkeit der beteiligten Erwachsenen. Die Schulleitung sollte niemanden zwingen, in einer Klasse mit beeinträchtigten Kindern zu unterrichten, sondern auf Freiwilligkeit und Engagement setzen.
Inklusion beginnt im Kopf. Sie kann nur gelingen, wenn sie zu einer gemeinsamen Sache der Schüler und Schülerinnen, Eltern, der Lehrkräfte und Schulleitungen, der pädagogischen Mitarbeiter(innen) und Integrationsassistent(inn)en wird.
- Inklusion benötigt Zeit. Alle, die in der Inklusion arbeiten, brauchen Zeit für Gespräche und Absprachen. Daher müssen Lehrkräfte in der Inklusion entlastet werden.
- Inklusion erfordert Bereitschaft. Der Unterricht mit geistig beeinträchtigten Kindern unterscheidet sich vom traditionellen Gymnasialunterricht. In jeder Unterrichtsstunde befinden sich mehrere Erwachsene im Raum.
- Inklusiver Unterricht trägt aber auch dazu bei, sich als Gymnasiallehrkraft stärker mit Differenzierung auseinanderzusetzen und diese mit Hilfe der förderpädagogischen Fachkräfte zu erproben; dies kommt allen Schüler(inne)n zugute.
Die inklusiven Klassen werden von einem Klassenleitungsteam aus zwei Gymnasiallehrern, einer Förderschullehrkraft und einer pädagogischen Mitarbeiterin unterrichtet. Kontinuität ist erforderlich, damit verlässliche Strukturen sowie vertrauensvolle Bindungen entstehen können.
Der Weg ins Klassenzimmer als Lernziel
Morgens werden die Förderkinder mit dem Taxi zur Schule gebracht, manchmal legen sie den Schulweg auch selbstständig zurück. Lernziel ist die Förderung der Selbstständigkeit: alleine aussteigen, nichts liegenlassen, den Weg zum Klassenraum finden. Zu Beginn des Schuljahres gibt es ein Buddy-System; so wird organisiert, dass die Förderkinder gemeinsam mit anderen in die Pause gehen und zu verschiedenen Spiel- und Freizeitaktivitäten angeleitet werden. Dieses System wird je nach Bedarf schrittweise wieder abgebaut.
Bis zur zehnten Klasse werden die Förderkinder zieldifferent nach den curricularen Vorgaben der Förderschule unterrichtet. Diese können allerdings nicht in vollem Umfang angeboten werden. Um gemeinsam und zieldifferent zu lernen, wird ein Differenzierungsraum benötigt. Er dient der phasenweise notwendigen äußeren Differenzierung, bietet Rückzugsmöglichkeiten und Raum zur Bearbeitung aktueller Vorkommnisse. Der Unterricht wird so lange und so oft wie möglich gemeinsam, aber inhaltlich differenziert durchgeführt; dabei werden niveaugerechte Unterrichtsangebote gemacht. Um den individuellen Bedürfnissen der Kinder mit Behinderung und den Leistungsanforderungen der Gymnasiast(inn)en entsprechen zu können, kann phasenweise eine äußere Differenzierung vorgenommen werden. Dies wird umso notwendiger, je komplexer die Unterrichtsinhalte werden, etwa in Fremdsprachen oder Naturwissenschaften. Die Förderkinder arbeiten teilweise an Gruppentischen. Frontalunterricht kann sich mit Gruppen-, Partner- oder Einzel­arbeit abwechseln. Sie folgen ihrem eigenen Lerntempo; Freude am Arbeiten und Stolz auf die eigenen Lernergebnisse stehen im Mittelpunkt.
Fortschritte werden dokumentiert
Zweimal im Schuljahr gibt es Zeugnisse. Die Förderkinder erhalten einen Lernentwicklungsbericht. Zudem werden regelmäßig Förderpläne entwickelt, die auch den Erziehungsberechtigten zur Kenntnis gegeben werden.
Die Erfahrungen, die das Kurt-Schwitters-Gymnasium mit der Inklusion gemacht hat, sind überwiegend positiv: sowohl für die behinderten als auch für die nicht behinderten Kinder. Förderschüler(innen) profitierten vom umfangreichen Fächerangebot und der Möglichkeit entsprechender Teilhabe an der modernen Wissensgesellschaft. Sie bauten soziale Kontakte auf und lernten, sich in das Sozialgefüge einer Klasse einzuordnen. Sie wurden sicherer im Auftreten und selbstständiger in ihrem Arbeits- und Sozialverhalten. Insgesamt gelang ihre Persönlichkeitsentwicklung besser als in einer Förderschule. Die „normalen“ Gymna­siast(inn)en hingegen schulten vor allem ihre emotio­nale Intelligenz und ihre Sozialkompetenzen. Sie ent­wickelten Verständnis, Rücksichtnahme und Verantwortung und maximierten dabei den eigenen Lernerfolg.
Entscheidend für das Gelingen der Inklusion sind Rolle und Selbstverständnis der Schulleitung. Sie muss eine positive Einstellung zur Inklusion und den damit verbundenen Veränderungen entwickeln. Das heißt nicht, Schwierigkeiten und Hindernisse kleinzureden oder gar zu ignorieren; Probleme müssen offen benannt und Verbesserungen vehement eingefordert werden. Das Beispiel des Gymnasiums in Hannover zeigt aber deutlich, dass die Integrationskraft auch dieser Schulform groß genug ist, um Inklusion erfolgreich zu gestalten.
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