Die Folgen des Brexits
Ende des Jahres 2019 wird das Vereinigte Königreich aller Voraussicht nach nicht mehr der Europäischen Union (EU) angehören. Denn vor gut drei Jahren entschieden sich 52 Prozent der britischen Wähler(in-
nen) per Volksentscheid für den EU-Austritt. Nachdem die EU bisher nur das Szenario der Erweiterung kannte, schlägt nun zum ersten Mal ein Mitgliedstaat den entgegengesetzten Weg ein. Rechtspopulist(inn)en aus ganz Europa bejubelten die Nachricht über den Ausgang der britischen Volksabstimmung und forderten als nächstes eine Abstimmung über den "Nexit", "Frexit oder "Italexit", also den Austritt der Niederlande, Frankreichs oder Italiens aus der EU beziehungsweise Währungsunion.
Zwar gibt es in Europa nicht erst seit der Brexit-Abstimmung Anhänger(innen) eines "Europas der Nationen", also ohne EU. Doch gibt es nun einen Präzedenzfall, der zeigt, dass die Existenz der EU nicht selbstverständlich ist und dass nationalistische Bewegungen durchaus in der Lage sind, sich im öffentlichen Diskurs durchzusetzen. Gleichzeitig könnte der Brexit ein Weckruf sein, der zeigt, welchen Wert die Europäische Union für die Menschen hat.
Der EU-Austritt war für die Anhänger(innen) der Brexit-Kampagne gleichbedeutend mit der Lösung wirtschaftlicher und sozialer Probleme. Untersuchungen der britischen sozialpolitischen Joseph-Rowntree-Stiftung zeigen, dass gerade Menschen mit geringem Einkommen und geringeren Bildungsabschlüssen für die Versprechen der Brexit-Befürworter(innen) empfänglich waren.1
Ob sich deren Hoffnungen mit dem Brexit erfüllen, ist jedoch fraglich. Ein Hauptargument der Brexit-Kampagne war beispielsweise eine bessere Finanzierung des britischen nationalen Gesundheitssystems (NHS), das angeblich dank EU-Austritt mit wöchentlich 350 Millionen Pfund gestützt werden könnte. Dieses Versprechen wurde am Tag nach dem Referendum von Nigel Farage, dem Brexit-Befürworter und ehemaligen Vorsitzenden der UK-Independence Party, einkassiert. Boris Johnson, ehemaliger britischer Außenminister und prominenter Brexit-Anhänger, der mit dieser Zahl für den Brexit warb, ruderte ebenfalls zurück. In einer Umfrage kurz vor der Abstimmung gab fast die Hälfte der Befragten an, sie glaubten Johnsons Versprechen.2,3 Tatsächlich rechnen Angestellte aus dem Gesundheitssektor nach dem Brexit nun mit Kürzungen, Personalmangel und längeren Wartezeiten für Patient(inn)en.4 Statt ins Gesundheitssystem zu investieren, musste der britische Finanzminister jedoch erst einmal eine notwendige Rücklagenbildung von mindestens drei Milliarden Pfund ankündigen, um etwaige Folgenkosten des Brexits aufzufangen.5
Frieden in Nordirland gefährdet
An der nordirischen Grenze werden die Probleme des Brexits in Form von sozialen und wirtschaftlichen Unsicherheiten sowie administrativen Hürden besonders deutlich. Doch geht es gerade hier nicht nur um wirtschaftliche Einschränkungen - wie zum Beispiel für Bauern, die wegen etwaiger Grenzbestimmungen nicht mehr ihre Felder bestellen können. Denn das Karfreitagsabkommen von 1998 zur Befriedung des Nordirlandkonflikts wurde auch dank der EU-Mitgliedschaft der Republik Irland und des Vereinigten Königreichs möglich. Die Nordiren haben mehrheitlich für den Verbleib in der EU gestimmt. Der Brexit gefährdet nun den seit 20 Jahren herrschenden fragilen Frieden.6
Bürger sind verunsichert
Soweit im Rahmen des Austritts zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU keine Regelungen zur künftigen Koordinierung der sozialen Sicherheit vereinbart werden, treten an die Stelle geltender EU-Verordnungen zukünftig vermutlich bilaterale Abkommen aus der Zeit vor dessen EU-Beitritt oder neue nationale Gesetze. So arbeitet die Bundesregierung derzeit an einem Gesetzesentwurf zu Übergangsregelungen im Bereich Arbeit, Bildung, Gesundheit, Soziales und Staatsangehörigkeit nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU.
Ein Beispiel: Dank geltendem EU-Recht kann derzeit eine Deutsche mit ihrem britischen Partner nach London ziehen, sich dort zur Arbeitssuche aufhalten und weiterhin bis zu sechs Monate Arbeitslosengeld aus Deutschland beziehen. Sollte sie später im Vereinigten Königreich ihre Rente beziehen wollen, kann sie sich ihre zuvor in Deutschland geleistete Arbeitszeit anrechnen lassen. Falls sich das Paar trennt, kann sich die deutsche Staatsbürgerin bei Rechtsstreitigkeiten, zum Beispiel über das Sorgerecht für gemeinsame Kinder, auf das europäische Familienrecht stützen.7 Doch was, wenn ihr britischer Partner plötzlich kein EU-Bürger mehr ist?
Derzeit leben circa 900.000 Briten in einem anderen EU-Mitgliedstaat8 und rund drei Millionen EU-Bürger(innen) im Vereinigten Königreich. Rund 100.000 unter ihnen haben eine deutsche Staatsangehörigkeit.9 Für sie alle ergeben sich erhebliche Unsicherheiten.
Laut Plänen der britischen Regierung sollen EU-Bürger(innen), die bis 2020 einen ständigen Aufenthalt von mindestens fünf Jahren nachweisen können, einen permanenten Aufenthaltsstatus inklusive des Zugangs zu den Systemen der sozialen Sicherheit erhalten. Voraussetzung dafür wird eine kostenpflichtige Antragstellung über ein Onlineformular sein. Einige Gruppen, wie ältere Menschen, Menschen mit Behinderung oder Menschen ohne Internetzugang, sind jedoch bei diesem Verfahren benachteiligt, wie die Oxford-Universität in einem Bericht feststellt.10
Verschärfte Aufenthaltsbedingungen nach dem Brexit
Die Einreise ins Vereinigte Königreich zum Zweck der Arbeitssuche oder Arbeitsaufnahme wird allerdings schwerer. Premierministerin Teresa May stellte beim Parteitag der britischen Konservativen im Oktober 2018 klar, dass Arbeitsuchende aus den EU-Staaten künftig ein bestimmtes Gehaltsniveau überschreiten müssen und ihre unmittelbaren Familienangehörigen nur bei einer finanziellen Unterstützung durch den Arbeitgeber mitbringen dürfen.11 Die Verunsicherung um den bevorstehenden Brexit hat bereits Auswirkungen: Innerhalb eines Jahres (Sommer 2017 bis Sommer 2018) fiel die Zahl der im Vereinigten Königreich Beschäftigten EU-Bürger(innen) um 132.000 auf 2,25 Millionen - der stärkste jemals gemessene Rückgang.12
Studienaufenthalte werden teuer
Auch der Austausch und die Völkerverständigung zwischen den europäischen Staaten könnten unter dem Brexit leiden. So ist das Vereinigte Königreich zum Beispiel ein beliebtes Zielland für Studierende. Die Anzahl deutscher Studierender dort liegt seit Jahren bei circa 13.000.13 Studierende, die im Rahmen des Erasmus-Programms ins Vereinigte Königreich gingen, mussten bislang keine Studiengebühren zahlen.14 Sollten Studierende nach dem Brexit wie Drittstaatsangehörige behandelt werden, wären künftig Studiengebühren von bis zu 21.000 Pfund im Jahr fällig.15 Auch die Förderung durch Bafög für ein Studium außerhalb der EU ist nur eingeschränkt möglich.16 Die Bundesregierung arbeitet zurzeit an einem Gesetzentwurf, um den vom Brexit betroffenen Studierenden zumindest bis zum Abschluss des laufenden Studienabschnitts eine finanzielle Sicherheit zu geben.
Änderungen für Touristen
Wie genau sich die Einreisebedingungen für Tourist(inn)en ändern werden und ob man zukünftig nicht nur den Personalausweis, sondern wieder einen Pass benötigt, steht noch nicht fest. Beispielsweise können Tourist(inn)en innerhalb der EU ohne Probleme die Europäische Krankenversicherungskarte für Behandlungen nutzen. Nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs könnte es nötig werden, eine Reisekrankenversicherung abzuschließen. Außerdem könnten Gebühren für Roaming und für bargeldloses Zahlen steigen. Für Reisende mit Behinderung muss geklärt werden, ob der Sonderparkausweis für Schwerbehinderte auch im Vereinigten Königreich gültig ist.17
Die Probleme, die durch den Brexit entstehen, sind vielseitig und treffen die Menschen auf beiden Seiten des Ärmelkanals. Auf die Frage angesprochen, wie er sich die zukünftigen Beziehungen zur Europäischen Union vorstelle, antwortete Brexit-Politiker Nigel Farage: "Nach dem Brexit wird die EU nicht mehr existieren." Offensichtlich ist der britische (Noch-)Europaabgeordnete Farage für populistische Polemik weiterhin zu haben. Verantwortung für die Folgen seiner Politik scheint er jedoch nicht übernehmen zu wollen. Der Brexit könnte ein Weckruf sein, der zeigt, welchen Wert die Europäische Union für die Menschen hat. Ob Politiker(innen) eines anderen Schlags in das nächste Europäische Parlament gewählt werden, kann jeder mitentscheiden: Am 26. Mai 2019 sind Europawahlen.
Anmerkungen
1. Joseph Rowntree Foundation, 2016, www.jrf.org.uk/report/brexit-vote-explained-poverty-low-skills-and-lack-opportunities
2. The Independent, Kurzlink: https://ind.pn/2MUjjZp
3. The Guardian, Kurzlink: https://bit.ly/2L6rYrb
4. www.theguardian.com/politics/2018/oct/13/brexit-doctors-and-nurses-nhs-will-get-worse
5. Aus "FAZ", Kurzlink: https://bit.ly/2EovZGP
6. Deutschlandfunk, Kurzlink: https://bit.ly/2Edz8IM
7. www.stowefamilylaw.co.uk/blog/2018/04/16/ecj-case-illustrates-family-law-issues-raised-by-brexit
8. "What information is there on British migrants living in Europe?", Office for National Statistics, ONS, Januar 2017, Kurzlink: ttps://bit.ly/2C1qH1t
9. ONS, 2017: Population of the UK by country of birth and nationality, Kurzlink: https://bit.ly/2cvl6Sh
10. Oxford University 2018, Kurzlink: https://bit.ly/2Deoa63
11. Euractiv, 2018: https://bit.ly/2QGx5nc
12. ONS, 2018: https://bit.ly/2K1o02c
13. UK Council for International Student Affairs, 2018: https://bit.ly/2Gbjsbs
14. Der Tagesspiegel 2016: https://bit.ly/2B6WsVn
15. www.welt.de/wirtschaft/article178902494/Brexit-trifft-auch-deutsche-Studenten-in-England.html
16. www.xn--bafg-7qa.de/de/auslandsfoerderung-384.php
17. https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/brexit_files/info_site/travelling.pdf
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