Sockel-Spitze-Tausch sichert Lebensstandard von Pflegebedürftigen
Die Einführung der Pflegeversicherung
diente vor allem dazu, Menschen davor
zu bewahren, aufgrund von Pflegebedürftigkeit
in die Sozialhilfeabhängigkeit abzurutschen.
So wollte sie dem Anspruch eines konservativen
Wohlfahrtsstaates gerecht werden,
seine Bürger(innen) gegen die Wechselfälle
des Lebens abzusichern, so dass der erreichte
Lebensstandard auch bei Alter, Krankheit
und eben auch Pflegebedürftigkeit erhalten werden kann. Mit ihrer faktischen Vollübernahme
der (stationären) pflegebedingten
Kosten sorgte die Pflegeversicherung bei
ihrer Einführung dafür, dass erstmals eine
weitgehende Statussicherung der Bürger(innen)
gegen das Lebensrisiko Pflegebedürftigkeit
installiert wurde.
Ihr Ziel der Lebensstandardsicherung
kann die Pflegeversicherung ohne eine strukturelle
Weiterentwicklung in Zukunft aber nicht mehr erreichen. Während die Versicherungsleistungen
Mitte der 1990er-Jahre zur
Deckung der durchschnittlichen pflegebedingten
Aufwendungen in Pflegeheimen ausgereicht
haben, ist der durchschnittliche
Eigenanteil der Pflegebedürftigen für diese
pflegebedingten Kosten inzwischen auf über
600 Euro pro Monat angewachsen.1
Ausschlaggebend hierfür sind vor allem vier Effekte. Die Mechanik der in Euro ausgewiesenen und begrenzten Leistungshöhen führt erstens
- zwangsläufig dazu, dass Differenzen zwischen den Pflegesätzen (für die pflegebedingten Kosten) und den pauschalen Leistungen der Pflegeversicherung durch die Pflegebedürftigen selbst getragen werden.
Wenn nun – wie in den vergangenen Jahrzehnten geschehen – zweitens
- die Pflegesätze der Einrichtungen ansteigen, parallel jedoch die Leistungsbeträge nicht entsprechend angepasst werden, steigen die Eigenanteile kontinuierlich.
Dies wird drittens
- in absoluter Höhe dadurch verstärkt, dass Pflegebedürftige in stationären Einrichtungen die pauschalen Kosten für die Versorgung mit Leistungen der medizinischen Behandlungspflege tragen müssen, während diese Kosten im ambulanten Setting durch die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) getragen werden.
Letztlich führen diese Mechanismen viertens
- dazu, dass jede (kostenverursachende) Verbesserung in Ausstattung, Personaleinsatz oder Leistungsumfang und jede Gehaltssteigerung für Pflegekräfte direkt durch die Pflegebedürftigen, ihre Angehörigen oder subsidiär durch die Sozialhilfe zu übernehmen ist.
Dem kann dadurch entgegengetreten werden, dass die medizinische Behandlungspflege in Pflegeheimen umfinanziert und das Verhältnis von Pflegeversicherungsleistungen und Eigenanteilen umgedreht wird. Daran anschließende Reformoptionen wurden durch ein Gutachten zur alternativen Ausgestaltung der Pflegeversicherung2 im Auftrag der Initiative Pro-Pflegereform in den Fokus der Diskussionen über die weitere Entwicklung der Pflegeversicherung gerückt.
Heim: medizinische Behandlungspflege umfinanzieren
Nach der aktuellen Ausgestaltung der Pflegeversicherung werden behandlungspflegerische Leistungen je nach Setting unterschiedlich finanziert: Während diese Leistungen für einen ambulant betreuten Pflegebedürftigen per Einzelabrechnung als „häusliche Krankenpflege“ aus Mitteln der Krankenkasse abgegolten werden, gelten diese, als „medizinische Behandlungspflege“ tituliert, im stationären Setting als in den Pflegesätzen enthalten.
Da die Pflegesätze die Leistungssätze der Pflegeversicherung regelmäßig übersteigen, gehen die Kosten der Behandlungspflege faktisch vollständig zulasten der Pflegebedürftigen und sind somit in den Eigenanteilen der Pflegebedürftigen enthalten. De facto verliert ein Pflegebedürftiger also beim Umzug aus einer ambulanten in eine stationäre Wohnumgebung seinen Versicherungsanspruch gegenüber der Krankenkasse und muss die behandlungspflegerischen Leistungen selbst finanzieren.
Zwei Ungerechtigkeiten werden beseitigt
Die naheliegende Homogenisierung der Finanzierungskompetenz nach Leistungsbereich und nicht mehr nach Versorgungssektor ist also geeignet, zwei wesentliche Ungerechtigkeiten für stationär versorgte Pflegebedürftige zu beseitigen. Es wird systematisch dafür gesorgt, dass über das ganze Leben bestehende Versicherungsansprüche nicht aufgrund eines neuen, oftmals nicht freiwillig bezogenen Wohnortes verloren gehen. In direkter Folge davon werden die aktuellen Eigenanteile massiv gesenkt, auf etwa die Hälfte der heutigen Höhe.
Die Umfinanzierung der medizinischen Behandlungspflege weist in der vorgeschlagenen Form keine gravierenden Umsetzungsprobleme auf, verursacht allerdings aufseiten der Krankenversicherung jährliche Mehrausgaben in Höhe von rund drei Milliarden Euro3, wenn die in der Pflegeversicherung eingesparten entsprechenden Beträge – wie vorgeschlagen – genutzt werden, um die Pflegebedürftigen zu entlasten. Das scheint jedoch bei der momentanen konstanten Überschuss-Situation der GKV unschädlich.
In der heutigen Ausgestaltung der Pflegeversicherung werden – in beiden Sektoren – pauschalisierte monatliche Versicherungsleistungen gezahlt, die nur über die fünf Grade der Pflegebedürftigkeit differenziert werden. Dies entspricht pflegegrad-spezifischen Sockelzahlungen durch die Pflegeversicherung. Diese Sockel sind in der Regel nicht kostendeckend.
Kombiniert mit der Tatsache, dass bei keinem Pflegebedürftigen zuvor bekannt ist, über welchen Zeitraum diese monatlichen Kosten zu tragen sind, reduziert die Pflegeversicherung die Heimkosten zwar um einen pauschalen Sockel, sichert das Risiko der Pflegebedürftigkeit über die Lebenszeit jedoch nicht ab und gewährleistet so keine Lebensstandardsicherung.
Bedarfsgerechte Leistungshöhen: Sockel-Spitze-Tausch
Notwendig ist es daher, die Pflegeversicherung so umzugestalten, dass sowohl das Risiko extremer monatlicher Kosten als auch das Risiko einer langen Zahlungsdauer durch einen Sockel-Spitze-Tausch eliminiert oder durch eine zusätzliche Versicherung eliminierbar gemacht wird (s. Abb.).
Hierzu wird das bestehende Verhältnis von Versicherungsleistung
(des Sockels) und Eigenfinanzierung
(der Spitze) umgekehrt: Anstelle der bisherigen Zahlung
eines pauschalierten, nicht bedarfsdeckenden
Zuschusses mit einer Selbstbeteiligung von 100 Prozent
für darüber hinausgehende Kosten wird nun von allen
Pflegebedürftigen, die formelle Pflegeleistungen in
Anspruch nehmen, ein einheitlicher Sockelbetrag
gezahlt, während darüber hinausgehende Kosten – bis
zu einer individuell bedarfsgerechten Leistungsmenge
– von der Pflegekasse übernommen werden.
Der Sockelbetrag wird zudem zeitlich begrenzt, so dass ein absoluter Höchstbetrag definiert ist, der im Falle einer Pflegebedürftigkeit maximal privat aufzubringen ist. Dieser kann angespart, privat versichert oder in die Sozialversicherung integriert werden, so dass erstmals das individuelle finanzielle Risiko der Pflegebedürftigkeit vollständig abgesichert wird.
Ein fester monatlicher Eigenanteil wird für alle Pflegebedürftigen festgesetzt, der nur zeitlich begrenzt (in der Abbildung bis zum Zeitpunkt t*) zu zahlen ist. Die Höhe des Sockelbetrags und die Dauer, in der dieser längstens zu zahlen ist, sind dabei Gegenstand politischer Festlegungen und abhängig von den beabsichtigten Wirkungen auf die Pflegebedürftigen und die gesamte Pflegeversicherung. Dies kann von einer – für die Pflegeversicherung – zum Umstellungszeitpunkt ausgaben-neutralen Ausgestaltung bis zu einer Vollversicherung mit einem Sockel in Höhe von null Euro variiert werden. Dabei haben Modellrechnungen4 auf Basis der Eigenanteils-Werte im Jahre 2017 ergeben, dass eine für die Pflegeversicherung ausgabenneutrale Umstellung, die mit der Rückverlagerung der Behandlungspflege kombiniert wird, monatliche Eigenanteils-Sockel von weniger als 350 Euro (bei drei Jahren Laufzeit) beziehungsweise weniger als 290 Euro (bei vier Jahren Laufzeit) erfordert und eine Vollversicherung durch eine Beitragssatz-Erhöhung von rund 0,5 Prozentpunkten – (ebenfalls unter Rückverlagerung der Behandlungspflege) gegenfinanziert werden könnte. Um Lebensstandard-Sicherung zu erreichen, ist lediglich die stabile Festschreibung der Eckdaten Sockel und Laufzeit entscheidend. Ein dynamisches Element kann höchstens im Sinne eines Inflationsausgleichs eingebaut werden. Jede flexiblere Anpassung würde die Sicherungsfunktion hingegen wieder negieren.
Allerdings erzeugt die Individualisierung der Leistungshöhen bei festem Eigenanteilssockel einen Anreiz, die Pflegekosten zu erhöhen, da das Eigeninteresse der Pflegebedürftigen, die Ausgaben zu begrenzen, entfällt. Eine Ausgabenbegrenzung kann aber durch die weiterhin stattfindenden Preisverhandlungen der Akteure der gemeinsamen Selbstverwaltung realisiert werden. In Bezug auf die Menge der Leistungen ist es zudem erforderlich, die Versicherungsleistungen zwar bedarfsgerecht am Einzelfall zu orientieren, jedoch von einer vollkommen offenen Leistungsgewährung Abstand zu nehmen. Dies erfordert die Einführung individual-bezogener Leistungszuordnungen im Rahmen eines verbindlichen Case Managements, bei dem die notwendigen Pflegeleistungen bestimmt werden.
Eigenanteile würden künftig kalkulierbar
Die Umgestaltung der Pflegeversicherung zu einer funktionierenden Sozialversicherung erfordert auf Finanzierungsseite somit zwei Schritte. Erstens sind die Kosten der medizinischen Behandlungspflege von der Pflege- in die Krankenversicherung zu verschieben, um so die Eigenanteile der stationär versorgten Pflegebedürftigen zu reduzieren. Zweitens werden die Maximalkosten einer möglichen Pflegebedürftigkeit durch den Sockel-Spitze-Tausch für jede(n) Bürger(in) zusätzlich begrenzt und kalkulierbar gemacht.
Unabhängig davon, ob die Eigenanteile ebenfalls in der Sozialversicherung abgedeckt oder über private Versicherungen abgesichert werden, ist eine abschließende Sicherung gegen das Risiko pflegebedingter Kosten möglich. Hierdurch werden auch die politisch angekündigten Lohn- und Personalsteigerungen leichter umsetzbar, ohne dass – wie das heute der Fall ist – eine direkte und spürbare Erhöhung der Sozialhilfe-Quoten erwartet werden muss. Letztlich ist aus dieser ganzheitlichen Perspektive die alternative Ausgestaltung der Pflegeversicherung unerlässlich, um den bereits seit Anfang der Legislaturperiode angekündigten Verbesserungen für Pflegekräfte einen tragfähigen Boden zu bereiten.
Anmerkungen
1. Rothgang, H.; Müller, R.: Barmer Pflegereport 2018.
Berlin, S. 33.
2. Gutachten: Rothgang, H.; Kalwitzki, T.: Alternative Ausgestaltung der Pflegeversicherung – Abbau der Sektorengrenzenund bedarfsgerechte Leistungsstruktur. Initiative
Pro-Pflegereform: Stuttgart, 2017.
3. Fortschreibung der Ergebnisse aus Rothgang, H.; Müller,
R.: Verlagerung der Finanzierungskompetenz für Medizinische Behandlungspflege in Pflegeheimen von der Pflege- in die
Krankenversicherung – Ökonomische Expertise. Bremen, 2013.
4. Berechnungen aus dem Gutachten Rothgang, H.;
Kalwitzky,
T., a. a. O.
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