Eingliederung und Pflege müssen gleichrangig sein
Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff, der ab dem 1. Januar 2017 gelten wird, führt mit den pflegerischen Betreuungsmaßnahmen eine neue Regelleistung in das bisher auf körperbezogene Verrichtungen konzentrierte System der Pflegeversicherung ein. Dieser von den Wohlfahrtsverbänden seit langem geforderte und nun begrüßte Schritt verursacht eine weitere Schnittstelle zwischen Pflegeversicherung und Eingliederungshilfe.
Um Teilhabe zu erreichen, ist im Kontext der Eingliederungshilfe häufig Betreuung erforderlich. Wenn Menschen mit Behinderung zugleich pflegebedürftig sind und Betreuungsleistungen in Anspruch nehmen, wird sich daher künftig verstärkt die Frage stellen, welcher Sphäre die Betreuungsleistung zuzurechnen ist: der Pflege oder der Eingliederungshilfe?
Dieses Problem hat den Gesetzgeber veranlasst, das Verhältnis von Pflegeversicherung und Eingliederungshilfe in den Blick zu nehmen und neu zu ordnen. Bisher regelt § 13 Abs. 3 SGB XI, dass die Leistungen der Eingliederungshilfe im Verhältnis zu Leistungen der Pflegeversicherung nicht nachrangig sind. Dies versucht der Gesetzgeber nun zu ändern, indem er den Nachrang der Eingliederungshilfe gegenüber der Pflegeversicherung und dem diese ergänzenden Sozialhilfesystem der Hilfe zur Pflege statuiert. Die Neuordnung des Rangverhältnisses beider Leistungen erfolgt im Rahmen der Gesetzgebungen zum Dritten Pflegestärkungsgesetz (§ 13 Abs. 3 Satz 3 SGB XI, § 63b Abs. 1 SGB XII des Gesetzentwurfs) sowie zum Bundesteilhabegesetz (§ 91 Abs. 3 SGB IX des Gesetzentwurfs). Die Neuregelung erfolgt dabei in beiden Gesetzen wortgleich.
Der Nachrang der Eingliederungshilfe soll allerdings nur im häuslichen Umfeld gelten. Das häusliche Umfeld wird im Sinne des § 36 SGB XI bestimmt. Der Nachrang soll allerdings nicht gelten, wenn bei der Leistungserbringung die Erfüllung der Aufgaben der Eingliederungshilfe im Vordergrund steht. Außerhalb des häuslichen Umfelds sollen die Leistungen der Eingliederungshilfe den Leistungen der Pflegeversicherung vorgehen.
Die Regelung ist in mehrfacher Hinsicht problematisch: Zum einen ist nicht geklärt, was unter "häuslichem Umfeld" zu verstehen ist. Die Definition des Gesetzgebers, das häusliche Umfeld im Sinne des § 36 SGB XI zu beschreiben, hilft nicht weiter, denn § 36 beschreibt die ambulante Pflegesachleistung und nicht den Leistungsort: Die ambulante Pflegesachleistung kann sowohl in der eigenen Häuslichkeit erbracht werden als auch in der Häuslichkeit eines Dritten - zum Beispiel der Schwiegertochter -, in Kindertagesstätten oder Werkstätten für Menschen mit Behinderung. § 36 SGB XI ist also nicht geeignet, das häusliche Umfeld zu definieren. Ebenso offen bleibt, was der Gesetzgeber mit dem Bereich "außerhalb des häuslichen Umfelds" versteht. Fallen in diesen Bereich nur stationäre Einrichtungen der Behindertenhilfe - oder auch alle Orte außerhalb des eigenen Haushalts, in denen Pflegesachleistungen durch einen Pflegedienst erbracht werden, also zum Beispiel Werkstätten für Menschen mit Behinderung oder Kindertagesstätten, in denen Kinder mit Behinderung Pflegeleistungen erhalten? Die Definition des Gesetzgebers wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet.
Zuordnung von Betreuungsleistungen bleibt diffus
Das Hauptproblem ist jedoch, dass die vorgesehene Regelung die zentrale Abgrenzungsfrage zwischen Leistungen der Eingliederungshilfe und jenen der Pflegeversicherung nicht zu lösen vermag. Da Betreuung sowohl eine Leistung der Pflegeversicherung als auch der Eingliederungshilfe sein kann, wird es regelmäßig strittig sein, welcher der beiden Sphären sie zuzuordnen ist. Der Eingliederungshilfeträger wird sich auf den Vorrang des beitragsfinanzierten Systems der Pflegeversicherung berufen und darauf drängen, dass Betreuungsleistungen als pflegerische Betreuungsmaßnahmen aus dem SGB XI in Anspruch genommen werden. Nicht von der Pflegeversicherung abgedeckte Kosten der Betreuung müssten dann aus der Hilfe zur Pflege und nicht aus der Eingliederungshilfe finanziert werden. Der Eingliederungshilfeträger wird die Menschen mit Behinderung vermutlich darauf hinweisen, dass nach § 45a SGB XI die Möglichkeit besteht, die häusliche Pflegesachleistung nach § 36 SGB XI im Umfang von 40 Prozent der Leistungshöhe im jeweiligen Pflegegrad in niedrigschwellige Betreuungs- und Entlastungsleistungen nach § 45a SGB XI umzuwandeln. Das sieht ausdrücklich auch die entsprechende Regelung in der Hilfe zur Pflege (§ 64b Abs. 1 Satz 4 SGB XII) vor.
In der Gesamtschau können diese Regelungen zu einer erheblichen Kostenentlastung des Eingliederungshilfeträgers führen, da er somit fast keine Betreuungsleistungen aus dem eigenen Budget mehr gewähren müsste. Die Pflegeversicherung hingegen wird bei Menschen mit Behinderung darauf verweisen, dass Betreuungsleistungen mit dem Ziel der Ermöglichung von Teilhabe keine pflegerischen Leistungen sind. Rechtsstreitigkeiten, die dann auf dem Rücken der betroffenen Personen ausgetragen werden, sind somit programmiert. Dies kann nicht im Sinne des Gesetzgebers sein.
Eingliederung nicht gegen Pflege ausspielen
Die Vorrang-Nachrang-Regelung - so der Gesetzgeber - gilt nun aber nicht, wenn bei der Leistungserbringung die Aufgaben der Eingliederungshilfe im Vordergrund stehen. Hier hat der Gesetzgeber allerdings versäumt zu bestimmen, wann dies der Fall ist. Aus Sicht der Caritas ist dies immer dann der Fall, wenn der Teilhabebedarf eines Menschen mit Behinderung im Rahmen eines Gesamtplans oder eines Teilhabeplans, den der Eingliederungshilfeträger zu erstellen hat, ermittelt werden muss. In den Gesamt- oder Teilhabeplan einzubeziehen ist nämlich auch der pflegerische Bedarf. Dennoch gibt die Formulierung des Gesetzentwurfs begründeten Anlass zu der Vermutung, dass auch hier der Träger der Eingliederungshilfe und die Pflegekasse darüber streiten werden, wo der Schwerpunkt der Aufgabenerfüllung liegt.
Worin kann also die Lösung liegen? Aus Sicht des Deutschen Caritasverbandes (DCV) sollen die Leistungen der Eingliederungshilfe und die der Pflegeversicherung nicht in einem Vorrang-Nachrang-Verhältnis geregelt werden, sondern weiterhin gleichrangig sein. Sie sollen gleichwertig nebeneinander bestehen, und die jeweiligen Bedarfe sollen in einem transparenten Bedarfsermittlungsverfahren erhoben werden.
Denn die Zielsetzungen der Leistungen der Pflegeversicherung einerseits und der Eingliederungshilfe andererseits sind wesensverschieden: So sind Leistungen der Pflege darauf auszurichten, die körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte der Pflegebedürftigen wiederzugewinnen oder zu erhalten (§ 2 Abs. 1 Satz 2 SGB XI). Aufgabe der Eingliederungshilfe hingegen ist es, Leistungsberechtigten eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen und ihre volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern. Die Leistungen der Eingliederungshilfe sollen sie befähigen, ihre Lebensplanung und -führung möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich wahrnehmen zu können (§ 91 Abs. 1 SGB IX des Gesetzentwurfs). Auch nach dem geltenden Recht steht im Mittelpunkt der Eingliederungshilfeleistung, dem Leistungsberechtigten die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihm die Ausübung eines Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen und ihn so weit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen (§ 53 SGB XII Abs. 3 des geltenden Rechts).
Die Eingliederungshilfe verfolgt somit einen sozialpädagogischen Ansatz der Befähigung, während es der Pflegeversicherung um Wiedergewinnung oder Erhalt von Fähigkeiten geht. Da die Zielsetzung beider Leistungssysteme unterschiedlich ist, können und sollen aus Sicht des DCV die Leistungen beider Systeme wie bisher auch gleichrangig nebeneinander gewährt werden. Das bedeutet auch, dass die Leistungen der Eingliederungshilfe im Verhältnis zur Hilfe zur Pflege vorrangig zu gewähren sind.
Künstliche Grenzziehung im ambulanten Wohnen
Ein weiterer Bauplatz zur Schnittstelle Eingliederungshilfe/Pflege ist durch eine Neuregelung im Kabinettsentwurf zum Dritten Pflegestärkungsgesetz entstanden. Gemäß § 43a SGB XI gilt bisher, dass Pflegeleistungen für Menschen mit Behinderung, die in stationären Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe leben, von der Eingliederungshilfe umfasst sind und durch einen Zuschuss aus der Pflegeversicherung refinanziert werden. Dieser ist auf maximal 266 Euro begrenzt. Schon heute haben Menschen mit Behinderung und hohem Pflegebedarf, wie zum Beispiel in Pflegestufe 3, daher Schwierigkeiten, einen Platz in einer stationären Wohneinrichtung zu finden. Die Regelung wird nun auf den Bereich des ambulanten Wohnens ausgedehnt und soll für ambulante Wohngruppen gelten, die unter das Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz fallen (§ 71 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI). Dies ist immer dann der Fall, wenn der Anbieter der Fachleistungen der Eingliederungshilfe gleichzeitig der Vermieter des Wohnraums des Leistungsberechtigten ist oder zwischen diesen beiden Parteien vertragliche Beziehungen bestehen. Laut Gesetzesbegründung entsprechen solche ambulant betreuten Wohngruppen stationären Wohneinrichtungen, sie seien daher im erwähnten § 43a einander gleichzustellen. Als weitere Begründung für diese Neuregelung führt der Gesetzgeber an, auf diese Weise werde sichergestellt, eine Weiterentwicklung der Versorgungskonzepte für Menschen mit Behinderung unter Geltung des neuen Rechts der Eingliederungshilfe zu ermöglichen, ohne dass dies zu ungewollten Lastenverschiebungen zwischen Eingliederungshilfe und Pflegeversicherung führe.
In der Tat lässt sich die Neuregelung nur durch die politische Intention der Kostenersparnis für die Pflegeversicherung begründen: Denn fachlich gibt es keinen Unterschied zwischen solchen ambulanten Wohngruppen, in denen Wohnraum und Fachleistung aus einer Hand angeboten werden, und jenen, in denen Wohnraumüberlassung und Fachleistung getrennt sind. In beiden Fällen handelt es sich um ambulantes Wohnen, in dem Leistungen der Eingliederungshilfe erbracht werden. Des Weiteren weitet der Gesetzgeber den Anwendungsbereich des bisherigen § 43a aus, indem er die Regelung, die bisher nur für vollstationäre Einrichtungen galt, auf teilstationäre Einrichtungen ausweitet. Darunter könnten auch Tagesförderstätten oder Werkstätten fallen. Für die dort betreuten Menschen könnte dies beispielsweise bedeuten, dass die pflegebedingten Aufwendungen und die gegebenenfalls erforderliche medizinische Behandlungspflege auf einen Zuschuss von 266 Euro begrenzt werden.
Der DCV setzt sich seit vielen Jahren für eine Änderung des § 43a SGB XI ein, da der Zuschuss von bis zu 266 Euro schon lange nicht mehr ausreicht, um die Pflegekosten der erfreulicherweise immer älter werdenden Menschen mit Behinderung in stationären Einrichtungen zu decken. Der DCV plädiert für eine deutliche Anhebung des Betrags bis auf das Niveau der ambulanten Pflegesachleistung. Letztlich handelt es sich um eine Verschiebung der Kosten von der beitragsfinanzierten Pflegeversicherung zulasten der steuerfinanzierten Eingliederungshilfe. Der DCV kritisiert daher die Ausweitung auf den ambulanten Bereich deutlich. Diese ist umgehend rückgängig zu machen.
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