Ein Radiosender für Ernesto junior
Ernesto Nina Mamani schließt die Tür des kleinen Containers auf, nimmt hinter dem Mischpult Platz und strahlt. Hier, in einem Vorort der peruanischen Stadt Arequipa, betreibt er seinen eigenen winzigen Radiosender. Die himmelhohe Antenne nebenan macht es möglich.
Regelmäßig schiebt der 42-Jährige den Regler hoch, plaudert auf Quechua und spielt Musik aus dem heimischen Hochland. Er macht das für seine Nachbarn im Viertel. Nur sie können „Radio Espinar“ empfangen. Er macht das aber auch für seinen Sohn. Ernesto junior ist 14 Jahre alt und seit seiner Geburt geistig behindert. Motorisch ist er recht fit: Er kickt mit den anderen Jungs auf dem Fußballplatz, hilft im Haushalt und geht geschickt mit Säge und Pinsel um. Doch das Sprechen fällt ihm schwer. „Was ich hier mache, ist Anreiz für meinen Sohn, deutlicher zu sprechen“, erzählt Ernesto im Gespräch mit den deutschen Gästen aus Kirche und Caritas, die die Familie im Rahmen einer Dialogreise mit Caritas international besuchen.
Dass Ernesto und seine Frau Maximiliana Nina Mamani die Bedürfnisse ihres Sohnes so gut im Blick haben, ist auch Angela Rodríguez Valdivia zu verdanken. Die Studentin der Sozialen Arbeit besucht die Familie seit mehr als zwei Jahren wöchentlich im Rahmen eines Inklusionsprojektes der Caritas Peru. Zwei hauptberuflich Mitarbeitende und zwölf Freiwillige wie Angela Rodríguez Valdivia betreuen hier im Großraum Arequipa rund 140 Familien. Im gesamten Südwesten Perus werden durch das Projekt sogar mehr als 300 Kinder mit Behinderung mit ihren Familien erreicht.
Die Studentin unterstützt Ernesto junior auf seinem Weg in ein möglichst selbstständiges Erwachsenenleben. Gemeinsam stellen sie einen Tagesplan auf, überlegen, welche Aufgaben er im Haushalt übernehmen kann, üben den weiten Weg hinunter in die Schule. "Eine ganz wichtige Rolle spielt auch die Familienarbeit. Ich unterstütze genauso Ernesto und Maximiliana", erzählt Angela. "Ich höre zu, erkläre und tröste." Der sieben Jahre alten Tochter, Ernesto juniors Schwester, hilft sie bei den Hausaufgaben.
Das Geld reicht gerade zum Leben
Für die ohnehin belastete Familie ist das Leben mit einem beeinträchtigten Kind eine Herausforderung. Ernesto Nina Mamani kam vor rund 20 Jahren aus Puno nach Arequipa, der zweitgrößten Stadt Perus auf 2300 Metern Höhe. Sein Körper war der schweren Arbeit als Bergmann nicht mehr gewachsen. Bis heute machen ihm Lungen- und Rückenprobleme zu schaffen. Das Geld, das er als Nachtwächter auf einer Baustelle verdient, reicht gerade zum Leben. Doch in wenigen Wochen endet das Bauprojekt, und der Familienvater wird als Tagelöhner anheuern müssen.
Zu dem von Caritas international und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) unterstützten Inklusionsprojekt gehören neben den Hausbesuchen auch Schulungen für Eltern behinderter Kinder. Es geht zum Beispiel um Erziehungstipps und um eine gesunde Ernährung. "Ich freue mich, etwas zu lernen", sagt Ernesto Nina Mamani, der selbst nur zwei Jahre zur Schule gehen durfte und dessen Frau gar nicht lesen und schreiben kann. "Vor allem, weil ich ja selbst nur eine geringe Ausbildung bekommen habe. Alles, was ich lerne, gebe ich an meine Familie weiter."
Eigentlich ist Ernesto junior gut im Viertel integriert, wie Angela Rodríguez Valdivia berichtet. Regelmäßig spielt er Fußball mit den Nachbarsjungen. Doch immer wieder reagieren Menschen in seiner Umgebung mit Ausgrenzung oder gar Ablehnung. "Dahinter steckt meist Unsicherheit", sagt die Studentin. "Es fehlt an Wissen über das Thema Behinderung."
Auch den Schulalltag verlebt Ernesto junior gemeinsam mit nicht-behinderten Kindern. Seine Schule ist eine von 54 Regelschulen in den Regionen Arequipa und Tacna, die inklusiv arbeiten. Die Caritas Peru unterstützt deren Arbeit, beispielweise durch Qualifizierung von Lehrer(inne)n und Förderpädagog(inn)en. Dass der Südwesten Perus heute landesweit als eine Art "Vorzeigeregion" in Sachen Inklusion gelte, sei auch der Caritas zu verdanken, sagt Yrazema Bustinza Valdivia von der Schulbehörde.
In Peru ist das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung alles andere als selbstverständlich. Laut offiziellem Zensus aus dem Jahr 2017 haben 32 Prozent aller Menschen mit Behinderung über 15 Jahre (circa 2,5 Millionen) nur die Grundschule (Regel- oder Sonderschule) abgeschlossen. Knapp 14 Prozent haben überhaupt keine Schulbildung genossen. Außerdem gibt es gut 450.000 Kinder mit Behinderung im Schulalter von sechs bis 16 Jahren. Davon werden 16 Prozent überhaupt nicht beschult, knapp drei Prozent besuchen eine Regelschule und gut 80 Prozent Sonderschulen.
Die Zahlen des Zensus seien aber mit Vorsicht zu genießen, sagt Kilian Linder, Peru-Referent bei Caritas international. Denn einerseits seien nicht alle Haushalte vom Zensus abgedeckt worden. Andererseits könnten Vorurteile und Scham durchaus dazu führen, dass ein Kind mit Behinderung vor der Volkszählung "versteckt" werde. Vor allem auf dem Land dominierten oft solche althergebrachten Vorurteile, gar Scham, so Linder. Viele Familien seien überfordert und ließen ihre Kinder lieber ganz zu Hause.
Inklusion wird hier gelebt
Anders an der Primarschule Marceyra in Arequipa, die die elf Dialogreisenden aus Deutschland ebenfalls besuchen. Fröhlich lärmend bolzen Jungen mit und ohne Behinderung auf dem Pausenhof. 15 der insgesamt 180 Schüler(innen) haben einen besonderen Förderbedarf. Ein Inklusionsteam ist mit an Bord und unterstützt die Lehrer(innen) in ihrer Arbeit. "Jedes Kind hat ein Recht darauf, zu lernen und sein Leben selbst zu gestalten", sagt Schulleiterin Roksana Gamberra. Seit Aufnahme des ersten Kindes mit Behinderung vor rund 13 Jahren hätten sich nicht nur die Klassenzimmer verändert. "Die Arbeit mit beeinträchtigten Kindern hat unsere Schule menschlicher gemacht."
Doch es bleibt eine Herausforderung, Mitschüler(innen), Eltern, Lehrer(innen), Kooperationspartner und Behörden für die Bedürfnisse beeinträchtigter Kinder zu sensibilisieren, ihr Recht auf Teilhabe einzufordern und durchzusetzen. Dabei gibt es positive Entwicklungen: Das "Allgemeine Gesetz über Menschen mit Behinderung" macht es in Peru seit dem Jahr 2014 möglich, juristisch gegen Diskriminierung und Marginalisierung vorzugehen. Und mit den förderpädagogischen "Saanee-Teams"1 verfügt Peru als eines von wenigen lateinamerikanischen Ländern über ein konkretes Konzept für ein inklusives Bildungssystem. "Doch es mangelt in der Praxis an politischem Willen und folglich an finanziellen und personellen Ressourcen", sagt Kilian Linder.
Nicht Mitleid, sondern: mit dabei
Von mangelnder Teilhabe kann die Mutter eines autistischen Sohnes ein Lied singen. "Die größte Hürde sind für mich alle diejenigen, die Dangelo mit Mitleid behandeln. Hier an der Schule ist das anders", sagt sie. Die Mutter weiß, dass es bis zu einer inklusiven Gesellschaft ein langer Weg ist. Doch der Austausch in den Elterngruppen und die Schulungen der Caritas haben ihr Mut gemacht: "Ich werde nicht aufgeben, denn ich habe die Pflicht, meinem Kind zu seinem Recht zu verhelfen."
Ernesto Nina Mamani wünscht sich, dass sein Sohn später einmal auf eigenen Beinen steht oder zumindest zum Lebensunterhalt beitragen kann. Er weiß, dass die Caritas auch die berufliche Ausbildung und Eingliederung junger Menschen mit Behinderung unterstützt. Ein Handwerksberuf könnte zu Ernesto junior passen. Maximiliana Nina Mamani nickt: "Es macht ihm Spaß, mit den Händen zu arbeiten. Er bastelt immer irgendetwas." Und am Mikrofon der kleinen Radiostation werden Vater und Sohn weiter das Sprechen üben.
Anmerkung
1. Saanee-Teams: Staatlich finanzierte, sonderpädagogisch qualifizierte Inklusionsbegleiter(innen).
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