Hunger und Obdachlosigkeit sind unverhältnismäßig
Ein ALG-II-Empfänger bekommt ein Jobangebot in seinem erlernten Beruf und lehnt es ab, weil er lieber im Verkauf arbeiten will. Daraufhin bietet ihm das Jobcenter einen Aktivierungs- und Vermittlungsgutschein für ein Praktikum bei einem anderen Arbeitgeber an. Den Gutschein löst der Mann nicht ein. Das Jobcenter kürzt das ALG-II deshalb um 60 Prozent.
Dieser Fall ist der Auslöser, weshalb sich das Bundesverfassungsgericht mit den Sanktionsvorschriften im SGB II befasst. Die Richter(innen) in Karlsruhe werden zwar nicht entscheiden, ob der Kläger im Recht war oder doch das Jobcenter Erfurt. Das BVerfG entscheidet vielmehr abstrakt, ob die gesetzlichen Regelungen im Einklang mit der Verfassung stehen.
Grau ist alle Theorie
Abstrakt waren auch die Schilderungen der Bundesregierung und der Bundesagentur für Arbeit (BA) am 15. Januar im Gerichtssaal. Das Konzept des Gesetzgebers der Agenda 2010 wurde in seiner ganzen Ausführlichkeit geschildert - graue Theorie. Im Anschluss berichteten die anwesenden Wohlfahrts- und Sozialverbände, der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und der Erwerbslosenverein Tacheles aus ihrer täglichen Arbeit. Und die ist wie das Leben: bunt und vielfältig. Da gibt es Menschen, die nicht lange auf die Grundsicherung für Arbeitsuchende angewiesen sind, weil sie schnell wieder einen Job finden. Es gibt aber auch jene, die mit vielfältigen Problemen kämpfen, gesundheitlich eingeschränkt sind oder Schulden haben und zum Teil schon seit Jahren im Leistungsbezug verharren.
So vielfältig die Einzelschicksale auch sein mögen, die Regeln sind für alle gleich: eine Hilfeleistung für Menschen in Not, die auf der Menschenwürde (Art. 1 Grundgesetz) und dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 GG) fußt. Das verfassungsrechtlich verbürgte Grundrecht hat der Gesetzgeber mit der Grundsicherung für Arbeitsuchende umgesetzt. Das Bundesverfassungsgericht muss klären, ob die Betonung der Eigenverantwortung in Form der Sanktionsregelungen des SGB II mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar ist. Es war erkennbar, dass die Richter(innen) starke Zweifel haben, ob dies insbesondere für die Möglichkeit der Totalsanktion und die Streichung der Kosten für Unterkunft und Heizung gelten kann. Selbst der anwaltliche Vertreter der Bundesregierung räumte ein, dass "Hunger und Obdachlosigkeit unverhältnismäßig wären".
Die Grundsicherung für Arbeitsuchende hat zwei Ziele: einerseits den Lebensunterhalt sicherzustellen und andererseits die Hilfebedürftigkeit zu überwinden, indem eigenes Einkommen erzielt wird. Es ist einleuchtend, dass die Integration in Arbeit nur gelingen kann, wenn beide Seiten an einem Strang ziehen. Für die Leistungsempfänger(innen) heißt das konkret: Termine wahrnehmen, sich bewerben, an Maßnahmen teilnehmen und Ähnliches. Die andere Seite - das Jobcenter - muss beraten und passende Angebote bereithalten. Dafür bürgte in der mündlichen Verhandlung die Geschäftsführerin des Frankfurter Jobcenters. Sie veranschaulichte den Alltag im Amt in geradezu idealtypischer Art und Weise und berichtete von ganzheitlicher Betreuung, freiwilligem Fallmanagement mit zertifiziertem Personal und transparenten Entscheidungsprozessen. Der Vorstandsvorsitzende der BA, Detlef Scheele, stellte die vielfältigen Handlungsmöglichkeiten heraus, die immer eine adäquate Lösung böten und mit denen Härtefälle vermieden werden könnten.
Rechtsstreitigkeiten belegen Mängel
In der Theorie sollen die Sachbearbeiter(innen) zusammen mit der leistungsberechtigten Person eine individuelle Strategie zur Eingliederung in Arbeit festlegen und dabei die persönlichen Merkmale, berufliche Fähigkeiten und die Eignung berücksichtigen (§ 15 SGB II). Die Beispiele aus der Beratungspraxis der Verbände und zahlreiche Rechtsstreitigkeiten wegen Sanktionen bestätigen allerdings, dass die Leistungsempfänger(innen) mit ihren Wünschen und Vorstellungen nicht immer sachgerecht einbezogen werden. Das hat die Caritas auch in der mündlichen Verhandlung deutlich gemacht und auf die Asymmetrie hingewiesen, die durch einige Regelungen des SGB II zulasten der Leistungsempfänger(innen) entsteht.1 Beispielsweise kann das Jobcenter seine Vorstellungen in einem Verwaltungsakt durchsetzen, wenn keine gegenseitige Eingliederungsvereinbarung zustande kommt. Die Leistungsberechtigten müssen selbst darlegen, wenn ein wichtiger Grund sie an der Pflichterfüllung gehindert hat, entgegen dem sonst üblichen Amtsermittlungsgrundsatz. Schließlich kann man den/die eigene(n) Sachbearbeiter(in) oft nicht persönlich erreichen, sondern nur die Telefon-Hotline. Kontinuierliche, vertrauensvolle Kommunikation ist so nicht möglich.
Sanktionen mit Maß
Kritisch hinterfragt haben die Richter(innen) auch, dass eine Leistungskürzung zwingend drei Monate dauert, auch wenn die verletzte Pflicht zwischenzeitlich nachgeholt wurde. Die Caritas fordert hier mehr Flexibilität für die Sachbearbeiter(innen), damit den Umständen des Einzelfalls Rechnung getragen werden kann. Wenn die Pflichtverletzung ausgeglichen wird, muss sofort wieder die volle Leistung gewährt werden.2
Sicher ist es legitim, bestimmte Mitwirkungsanforderungen an die Menschen zu stellen. Bundesminister Hubertus Heil sprach in der Verhandlung von einer "doppelten Verantwortung": Die Verantwortung des Sozialstaats für den Einzelnen gehe einher mit der Verantwortung, die jeder für sich selbst habe. Auch die Caritas spricht sich nicht grundsätzlich gegen Sanktionen aus, solange das Maß stimmt, sowohl bei den Mitwirkungspflichten als auch bei den Minderungen. Entscheidend ist, dass die Menschen mit ihren Fähigkeiten, Potenzialen und Problemen zum Mittelpunkt des Leistungssystems gemacht werden. Wenn ernst gemacht wird mit der oft beschworenen Augenhöhe zwischen Leistungsbezieher(inne)n und Jobcenter-Mitarbeitenden, kann eine vertrauensvolle Beziehung entstehen, die die Basis für ein konstruktives Miteinander darstellt.
Die mündliche Verhandlung war geprägt von großer Offenheit für alle vorgetragenen Aspekte, detaillierten Nachfragen und einer großen Sensibilität für die Problematik rund um Leistungskürzungen im ALG II. Wenn das Bundesverfassungsgericht in einigen Monaten das Urteil verkündet, werden die bestehenden Regelungen mit Sicherheit nicht unbeanstandet gelassen.
Anmerkungen
1. Details siehe Stellungnahme des Deutschen Caritasverbandes als sachkundigem Dritten im Verfahren 1BvL 7/16 vom 28. Februar 2017;
Kurzlink: https://bit.ly/2FxGUvt
2. Zu weiteren sozialpolitischen Forderungen der Caritas siehe Stellungnahme zu Sanktionen vom 22. Mai 2018; Kurzlink: https://bit.ly/2GdX5Ao
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