Neue Förderung holt junge Menschen aus dem Abseits
20.000 junge Leute im gesellschaftlichen Aus" titelte am 11. Juni 2015 die Süddeutsche Zeitung.1 Bezug genommen wurde dabei auf die damalige Studie des Deutschen Jugendinstituts, die von mehr als 20 000 "entkoppelten Jugendlichen" ohne institutionelle Kontexte wie Schule, Ausbildung und sozialen Hilfestrukturen ausging.2 Viele befragte Jugendliche gaben familiäre Probleme an, die dann zum Auszug, zum Couchsurfing und auch zur Obdachlosigkeit geführt haben.3 Expertenbefragungen zeigten, dass Leistungen der Jugendhilfe häufig abrupt mit dem 18. Lebensjahr endeten. Die Jugendlichen wurden auf das SGB II verwiesen, welches nun für sie zuständig sei. Die Regelangebote der Jobcenter wurden von den befragten Expert(inn)en jedoch als zu unflexibel und zu wenig auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten dieser Jugendlichen ausgerichtet angesehen.4
Wie eine BMAS-Studie zeigt, war auch die "Neet"-Rate ("Not in Education, Employment or Training") besorgniserregend hoch. Sie erfasst den Anteil der jungen Menschen an der Bevölkerung im gleichen Alter, der sich weder in Beschäftigung noch in Schule oder Ausbildung befindet. Laut Studie "Nationaler Implementierungsplan zur Umsetzung der EU Jugendgarantie" des BMAS betrug die "Neet"- Rate im Jahr 2012 für Deutschland 7,1 Prozent, was 640.000 Menschen entsprach.5
Die Erkenntnis, dass trotz eines breiten und ausdifferenzierten Angebots an Förderung im SGB III und SGB VIII eine größere Gruppe junger Menschen durch Sozialleistungen nicht mehr erreicht werden kann, hatte die Bundesregierung im Koalitionsvertrag 2013 veranlasst zu vereinbaren: "Die beste und effizienteste Vorsorge gegen Ausbildungsabbrüche und lange Zeiten von Arbeitslosigkeit im Lebensverlauf sind passgenaue und tragfähige Übergänge von der Schule in Ausbildung und Beruf. Daher wollen wir den erfolgreichen Ausbildungs- und Berufseinstieg für leistungsschwache Jugendliche erleichtern und gezielt begleiten."6
Ein neues Instrument, um junge Menschen zu fördern
Im September 2015 reagierte die Bundesregierung mit dem Bundesprogramm RESPEKT. Mit der Rechtsvereinfachung des SGB II wurde aufgrund erster Erkenntnisse aus RESPEKT mit dem § 16 h SGB II ein neues Instrument zur "Förderung schwer zu erreichender junger Menschen" eingeführt, für das sich auch der Deutsche Caritasverband (DCV) stark eingesetzt hat. Der § 16 h SGB II richtet sich an leistungsberechtigte Personen unter 26 Jahren, die aufgrund ihrer individuellen Situation Schwierigkeiten haben, eine schulische, ausbildungsbezogene oder berufliche Qualifikation abzuschließen und die Sozialleistungen benötigen. Im Zentrum der Förderung stehen Jugendliche und junge Erwachsene mit komplexen Förderbedarfen (wie zum Beispiel Wohnungslosigkeit, Überschuldung oder Drogenabhängigkeit), die durch bestehende Angebote des SGB III und SGB VIII nicht mehr erreicht werden können. Sie können zusätzliche Betreuung und Unterstützung bekommen, zum Beispiel in Form einer kontinuierlichen persönlichen Begleitung. Solche ganzheitlichen Hilfen sind elementare Voraussetzung für einen aussichtsreichen Weg in Ausbildung und Arbeit. Die Leistung wird mit den örtlichen zuständigen Trägern der öffentlichen Jugendhilfe abgestimmt. Voraussetzung für die Maßnahmezulassung ist eine Zertifizierung des Trägers nach § 178 ff. SGB III.
Nach einem schleppenden Start erreichte die Förderung im Oktober 2017 433 Jugendliche und junge Erwachsene. Hochrechnungen für Januar 2018 gehen von 511 Klient(inn)en aus. Es wird angestrebt, die Förderzahlen weiter zu steigern. Entsprechend sieht der Koalitionsvertrag vor, ab 2019 jährlich 50 Millionen Euro für die Anwendung des § 16 h SGB II zur Verfügung zu stellen7 (s. Grafik S. 24).
Aus fachlicher Sicht ist die Einführung des § 16 h SGB II sehr zu begrüßen, da junge Menschen mit multiplen Problemlagen niedrigschwellige Angebote der Jugendsozialarbeit benötigen, bevor sie sich auf einen beruflichen Integrationsweg einlassen können. Einbezogen werden auch junge Menschen, bei denen der Leistungsbezug noch nicht vollständig abgebrochen ist beziehungsweise die mit Unterbrechungen noch Kontakt zum Jobcenter oder anderen Förderinstanzen haben.8 Die Formulierung "schwer erreichbare junge Menschen" darf nicht dazu verleiten, von einer homogenen Zielgruppe auszugehen. Jugendliche und junge Erwachsene haben sehr unterschiedliche Auslöser für den Rückzug, wie zum Beispiel problematische biografische Verläufe, individuelle Erfahrungen mit Organisationen sowie Erlebnisse des persönlichen Scheiterns.
Diese Heterogenität muss sich in der Umsetzung des § 16 h niederschlagen. Kernelement des Förderinstrumentes ist deshalb eine intensive aufsuchende Arbeit mit dem Ziel, eine tragfähige Beziehung aufzubauen, auf deren Basis eine persönliche Betreuung und Begleitung der jungen Menschen gelingen kann. Dazu bedarf es niedrigschwelliger Angebote durch geschultes sozialpädagogisches Fachpersonal, das mit einer akzeptierenden Haltung diese erforderliche Beziehungsarbeit leistet. Dies benötigt Zeit, die für eine erfolgreiche Förderung aber unbedingt investiert werden muss. Gelingt es nicht, die jungen Menschen auf diesem Wege zu erreichen, kommt es zu einer Überforderung mit der Gefahr des Förderabbruchs.
Ein Problem: die AZAV-Zertifizierung
Kritisch zu sehen ist in diesem Zusammenhang die für die Maßnahmenzulassung geforderte AZAV-Zertifizierung9, die für Träger umfangreiche Anforderungen an die Dokumentation (zum Beispiel der Unternehmensziele, der Lehr- und Lernziele, der Methodik, der Unternehmensführung) stellt und zudem sehr kostenintensiv ist. Entscheidend ist, dass die Angebote durch anerkannte freie Träger der Jugendhilfe gefördert werden. Diese müssen vernetzt agieren und auf bereits bestehende Kompetenzen, Erfahrungen und Netzwerke zurückgreifen können. Daher sollte die Vorgabe einer AZAV-Zertifizierung als Fördervoraussetzung für Träger gestrichen werden.
Finanziert werden kann diese Arbeit entweder in Form einer bewilligten Zuwendung oder über den Weg einer Vergabe. Aus Sicht der Jugendsozialarbeit ist die Projektförderung über Zuwendung unbedingt vorzuziehen, weil sie deutlich mehr Spielräume bei der Ausgestaltung und Umsetzung innovativer Konzepte eröffnet. Dadurch ist eine flexible Förderung möglich, die auf die spezifischen Bedürfnisse der Jugendlichen zugeschnitten werden kann. Zudem erhöht sich das innovative Engagement der Träger, da diese ein hohes Interesse daran haben, ihre fachliche Kompetenz auszubauen und zu vertiefen.10
In § 16 h ist eine rechtskreisübergreifende Zusammenarbeit der verschiedenen Leistungsträger im Hinblick auf eine Abstimmung der inhaltlichen und finanziellen
Ressourcen vorgesehen. "Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist es, dass sich die Träger unterschiedlicher Hilfesysteme über Förderstrategien verständigen, die Leistungen aus unterschiedlichen Fördersystemen abstimmen und nahtlos zur Verfügung stellen."11 Es ist deshalb zwingend notwendig, vor Ort ein flächendeckendes, kohärentes Konzept einer rechtskreisübergreifenden Zusammenarbeit zugrunde zu legen, in dessen Rahmen die Leistungsträger gemeinsame passgenaue Angebote planen, gestalten, umsetzen und finanzieren können.
Scharfe Sanktionen sind kontraproduktiv
Insgesamt ist die Zahl derer, die bisher in den Leistungsbezug des § 16 h SGB II kommen, überschaubar. Es ist zwar davon auszugehen, dass mehr Jugendliche erreicht werden, als statistisch dokumentiert, weil die Teilnehmenden erst erfasst werden, wenn eine "stabile" Teilnahme an Angeboten des § 16 h gegeben ist. Dennoch müssen in den kommenden Jahren mehr Jugendliche durch die Förderung profitieren - und zwar bevor der Kontakt zum Jobcenter und anderen Förderinstanzen abgebrochen ist. Notwendig ist aus Praxissicht in diesem Zusammenhang vor allem die Überarbeitung des Sanktionsrechts. Denn zu scharfe Sanktionierung - dies meldet die Fachpraxis schon seit Jahren zurück - wirkt bei Jugendlichen kontraproduktiv. Die Sonderregelungen für Jugendliche sollten daher noch in dieser Legislaturperiode abgeschafft werden.
Anmerkungen
1. Kurzlink: https://bit.ly/2GmFKBY
2. Mögling, T. u. a.: Entkoppelt vom System. Jugendliche am Übergang ins junge Erwachsenenalter und Herausforderungen für Jugendhilfestrukturen. Eine Studie des Deutschen Jugendinstituts im Auftrag der Vodafone Stiftung Deutschland. München, 2015. Kurzlink: https://bit.ly/2L5XTaI
Siehe dazu auch Reißig, B. et al.: Jung, benachteiligt und mit 18 schon draußen. In: neue caritas Heft 7/2016, S. 9 ff.
3. Mögling, T. u. a., S. 17 ff.
4. Ebenda, S. 29 ff.
5. Kurzlink: https://bit.ly/2L3nW2g, S. 11.
6. Deutschlands Zukunft gestalten. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD für die 18. Legislaturperiode, 2013, S. 65 f.
7. Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 2018, S. 51.
8 .Vgl. Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Umsetzung des § 16 h SGB II. Berlin, 6. Dezember 2017, S. 5, Kurzlink: https://bit.ly/2Ku30jP
9. Verordnung über die Voraussetzungen und das Verfahren zur Akkreditierung von fachkundigen Stellen und zur Zulassung von Trägern und Maßnahmen der Arbeitsförderung nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (Akkreditierungs- und Zulassungsverordnung Arbeitsförderung - AZAV).
10. Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Umsetzung des § 16 h SGB II, 2017, a.a.O., S. 16.
11. Berufliche Integration junger Menschen verbessern - Schnittstellen der Sozialgesetzbücher II, III, VIII und XII beseitigen. Position des Deutschen Caritasverbandes. Freiburg, 2015, S. 1; Kurzlink:
https://bit.ly/2InrbUs
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