Zuerst kommt das Zuhause
Wie kann ein Mensch ohne Wohnung im regulären Hilfesystem jahrelang auf der Stelle treten, ohne dass sich etwas an seiner Situation verbessert? - Peter Siewers Geschichte zeigt, was sich verändern kann, wenn ein Klient in das "Zuhause"-Projekt des Diakonischen Werkes Gießen aufgenommen wird.
Als Einzelkind wurde Peter Siewer, der hier nicht mit seinem richtigen Namen genannt wird, 1972 in Polen geboren. Nachdem er seine Eltern mit vierzehn Jahren bei einem Autounfall verloren hatte, nahm ihn seine Großmutter auf, die jedoch nach kurzer Zeit ebenfalls starb. Er kam in ein Heim, in dem er es aber nicht lange aushielt, weil ihm eine feste Bezugsperson fehlte. Schließlich floh er aus der Einrichtung und verbrachte seine gesamte Jugend auf der Straße. Die Straßenszene wurde zum einzigen sozialen Umfeld und prägte seine gesamte Jugendphase. Dort entwickelte er eine ausgeprägte Alkohol- und Spielsucht.
Als Peter Siewer vor etwa zwanzig Jahren nach Deutschland kam, hatte er sich zum Ziel gesetzt, etwas Eigenes aufzubauen. Er unterhielt eine Werkstatt und wohnte bei seiner Freundin, die allerdings auch unter einer Suchtproblematik litt. Nach einiger Zeit kam es dadurch zur Trennung, die erneut in die Wohnungslosigkeit führte. Ohne Wohnsitz verlor er sein Gewerbe und wurde arbeitslos und straffällig durch kleinere Delikte. Jahr für Jahr pendelte er zwischen Notübernachtungen, Bekannten, Straße und JVA, ohne jegliche Privatsphäre oder einen Rückzugsraum. Durch seine Perspektivlosigkeit litt er zunehmend unter Depressionen. Er unternahm mehrere Suizidversuche.
Als die Staßensozialarbeiter(innen) Peter Siewer kennenlernten, stellten sie schnell fest, dass er sozial kompetent, reflektiert und handwerklich geschickt ist. Er zeigte zudem großen Willen, seine Lage zu verbessern. Doch trotz seiner Stärken und vorhandener Motivation war er zu diesem Zeitpunkt bereits seit zehn Jahren wohnungslos. Wie aber kann es sein, dass ein Mensch wie er - mit zahlreichen Ressourcen ausgestattet und hoch motiviert - trotz Hilfsangeboten so lange wohnungslos war?
"Wohnfähigkeit" als Hürde
Der Blick auf das reguläre Hilfesystem zeigt: Das Ziel ist, Wohnungslosen Wohnraum zu vermitteln. Zunächst müssen die Betroffenen jedoch ihre Wohnfähigkeit unter Beweis stellen. Zu diesem Zweck ist das Hilfesystem nach einem Stufenmodell aufgebaut. Erst wenn mehrere kumulative Stufen erfolgreich durchschritten sind, wird von Wohnfähigkeit ausgegangen. Erst dann werden die Betroffenen bei der Wohnungssuche unterstützt.
Doch selbst für Stufe eins gibt es bereits Kriterien, die viele nicht erfüllen:
Wer in einer Partnerschaft lebt, kann aufgrund der Geschlechtshomogenität in nur wenigen Einrichtungen seine Beziehung ausleben. Viele Paare entscheiden sich daher gegen eine Aufnahme. Auch für Menschen mit Hund gibt es nur wenige Einrichtungen. Konsument(inn)en illegaler Drogen und Menschen, die unter psychischen Erkrankungen leiden, werden in vielen Städten ebenfalls oft nicht aufgenommen. Für all jene bleibt als letzte Übernachtungsmöglichkeit häufig nur die Straße.
Doch wie erging es Peter Siewer? Er entsprach den Aufnahmekriterien der ersten Stufe und wurde in einer Notübernachtung für Männer im sogenannten Durchwandererbereich in einem Mehrbettzimmer (vier bis sechs Personen) untergebracht. Auf engem Raum mit anderen Betroffenen zu übernachten bedeutete für ihn eine hohe psychische Belastung, denn die meisten befanden sich wie er in multiplen Problemlagen. Durch die Trennung von seiner Freundin und den Verlust von Arbeit und Wohnung war Peter in einer permanenten Krise, die er unter den gegebenen Umständen nicht verarbeiten konnte.
Da er die Einrichtung morgens verlassen musste und sein Zimmer erst wieder am Nachmittag beziehen konnte, hielt er sich tagsüber an den öffentlichen Plätzen in der Straßenszene auf, ließ sich von der Gruppendynamik mitreißen und trank wieder verstärkt Alkohol. Auch in der Einrichtung durfte Alkohol getrunken werden, und so driftete Peter zunehmend in eine Abwärtsspirale.
Dennoch gelang es ihm jedes Jahr, seine Wohnfähigkeit über 90 Tage nachzuweisen. Dann nämlich ist die maximale Aufnahmezeit im Durchwandererbereich erreicht und es wird entschieden, ob die Betroffenen in die nächste Stufe aufsteigen oder in die Obdachlosigkeit entlassen werden. Wer die erste
Stufe nicht schafft, erhält in derselben Stadt erst im nächsten Kalenderjahr erneut eine Chance.
Lieber draußen schlafen, als sich Reglement unterwerfen
Peter Siewer hätte die zweite Stufe im sogenannten Festbereich erreichen können, entschied sich aber wie viele andere dagegen. Zwar verbessern sich die Bedingungen, zum Beispiel durch Unterbringung in Einzel- oder Zweibettzimmern, die Bewohner(innen) bleiben aber den Regeln der Institution stark unterworfen und haben kaum Gestaltungs- oder Mitspracherecht. So müssen sie einen Großteil ihres Lebensunterhalts für Essen und Verpflegung abgeben, selbst wenn sie sich gegen eine Teilnahme an den Mahlzeiten entscheiden. Zudem sah der wohnungslose Mann wenig Chancen auf eine gelingende Vermittlung auf dem ersten Wohnungsmarkt.
Er konnte oder wollte den nächsten Schritt im Hilfesystem nicht vollziehen. Über Jahre verlief sein Leben daher im selben Rhythmus: Auf drei Monate Unterbringung im Durchwandererbereich folgten neun Monate auf der Straße, bevor eine erneute Aufnahme wieder möglich wurde.
Die bestehenden Hilfesysteme in Deutschland sehen nach der zweiten Stufe weitere, lokal verschiedene Schritte zum Nachweis der Wohnfähigkeit vor (beispielsweise Probewohnen und anderes). Erst am Ende dieses Prozesses steht dann für enttäuschend wenige die Unterstützung bei der Unterbringung in eine eigene Wohnung - sofern der Wohnungsmarkt dies zulässt. Wer seine Wohnfähigkeit bewiesen hat, landet meist dennoch in prekären, ghettoähnlichen Wohngegenden, wo Vermieter(innen) die Notsituation ausnutzen.
Wie am Beispiel von Peter Siewer gezeigt, verlangt das in kumulativen Stufen organisierte Hilfesystem von den Betroffenen zum Teil über Jahre hinweg den Nachweis einer Wohnfähigkeit. Dieses System hat unnötige, dysfunktionale Hürden errichtet, die von vielen Betroffenen nicht bewältigt werden können.
"Housing First" funktioniert
Beobachtungen wie diese brachten Professionelle der sozialen Arbeit Anfang der 90er-Jahre dazu, ein Alternativkonzept innerhalb der Wohnungslosenhilfe zu entwickeln: Housing First (HF). Konzipiert wurde es in den USA und gilt dort seitdem als Erfolgsmodell. Nach HF besteht ein Grundrecht auf Wohnen; es ist daher kein Nachweis von Wohnfähigkeit vonnöten. HF setzt - anders als das bestehende Modell - auf das praktische Wiedererlernen von autonomer Lebensführung in der eigenen Wohnung. Die Wohnung dient als Schutzraum und Quelle eines Sicherheitsgefühls. Sie ist notwendige Basis für "eine stabile Alltagsbewältigung, die Regeneration von Ressourcen, die Aktivierung von Veränderungspotentialen sowie für konstruktive Vorgehensweisen in allen Lebensbereichen".1
Die Vermittlung eigenen Wohnraums steht daher am Beginn von Housing First. Es folgt eine bedarfsorientierte Betreuung. Auf Freiwilligkeit beruhende Hilfsangebote sind ein wichtiger Bestandteil des Ansatzes, regelmäßige Besuchstermine werden durch weitergehende persönliche Hilfen ergänzt. Es gibt keinen Zwang zur Abstinenz oder Teilnahme an Therapieangeboten. Es ist jedoch anzunehmen, dass sich die Chance auf den Erfolg einer Therapie deutlich erhöht, wenn die Betroffenen über eine eigene Wohnung verfügen.
Ein weiteres Grundprinzip des Ansatzes ist es, einen dezentralen Individualwohnraum zur Verfügung zu stellen, um Ghettoisierung und Ballung von Problemlagen zu vermeiden. Zudem werden Wohnung und Unterstützung getrennt. HF steht damit für einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der Wohnungslosenhilfe: weg von Einrichtungen und Sonderwohnformen, weg von orts- zu personenzentrierten Hilfen, weg vom Betreuten Wohnen hin zu persönlichen Hilfen in den eigenen vier Wänden.
Was hat sich durch Housing First verändert?
Als Peter Siewer im Jahr 2016 in das Projekt aufgenommen wurde, war er seit 17 Jahren wohnungslos. In Kooperation mit der Wohnbau konnte ihm ohne Umwege eine Wohnung in einem gemischten Wohnviertel vermittelt werden. Die Perspektive auf eine Wohnung motivierte ihn ungemein: Noch vor Einzug reduzierte er seinen Alkoholkonsum stark und erhielt eine Festanstellung bei einem Handwerker. Peter Siewer nahm gezielt Hilfe an, und weitere wichtige Schritte folgten. In den ersten Monaten standen die Sozialarbeiter(innen) fast täglich mit ihm in Kontakt. Er wurde zu Hause besucht, bei der Organisation und Einrichtung seiner Wohnung unterstützt und auf Ämter begleitet. Schritt für Schritt kümmerte er sich um seine Probleme. Dabei stand insbesondere in Krisensituationen die Beziehungs- und Reflexionsarbeit im Vordergrund.
Seit Housing First hat sich Peters Siewers Leben qualitativ stark verbessert: Er wohnt mit gelingenden Nachbarschaftsbeziehungen in einer eigenen Wohnung, die er sein erstes Zuhause nennt. Durch seine Arbeit konnte er stabile und verlässliche Kontakte außerhalb der Szene aufzubauen. Seine Alkoholabhängigkeit hat sich zu einem kontrollierten Trinkverhalten entwickelt, er trinkt nur noch wenig und keinen harten Alkohol mehr. Psychisch ist er weitestgehend stabil. Mit seiner Bewährungshelferin finden regelmäßig Gespräche statt, seit der Aufnahme in HF ist Peter Siewer nicht mehr straffällig geworden. Mit Hilfe der Schuldnerberatung wurde vor einiger Zeit sein Insolvenzverfahren eingeleitet. Anfangs begleiteten die Sozialarbeiter(innen) ihn zu Ärzt(inn)en, und inzwischen hat er ein neues Gebiss mit Implantaten. Um dies zu ermöglichen, erhielt er finanzielle Unterstützung über das Projekt "Krank auf der Straße" des Diakonischen Werks Gießen. Für sein Selbstbewusstsein spielte die erfolgreiche Behandlung eine große Rolle und motivierte ihn weiter.
Dank des Projektes konnten neben Peter vier weitere Langzeitwohnungslose in eine Wohnung vermittelt werden. Mit Ausnahme einer Klientin, die ihre Wohnung wieder verlor, haben sich alle gut entwickelt und psychisch stabilisiert. Teilweise gehen sie wieder einer geregelten Arbeit nach. Sie haben ihre gesundheitliche Situation verbessert und ihre sozialen Kontakte ausgebaut. Alle stehen in regelmäßigem Kontakt mit ihren Kindern.
Die Erfahrungen in Gießen werden durch statistische Erhebungen wissenschaftlicher Untersuchungen bestätigt, die besagen, dass circa 80 Prozent der HF-Fälle auch zwei Jahre nach Einzug noch in ihrer Wohnung leben.2
Erfolgversprechende Kombi
Die Verknüpfung von Straßensozialarbeit und HF ist besonders erfolgversprechend, weil sie den Klient(inn)en einen flexiblen und selbstbestimmten Zugang ermöglicht - auch ohne Terminvereinbarung (zum Beispiel im Büro, auf der Straße, zu Hause). Durch die über Jahre gewachsene professionelle Beziehungsarbeit im Rahmen der Straßensozialarbeit kann auf eine bereits bestehende Vertrauensbasis zurückgegriffen werden. Dies scheint besonders große Wirkung zu zeigen.
Anmerkungen
1. Bullermann, I. et. al.: Housing First - Zum Beispiel Berlin. In: Gillich, S., Keicher, R. (Hrsg.): Suppe, Beratung, Politik. Wiesbaden, 2016.
2. www.hinzundkunzt.de/housing-first
Auf dem Weg in die eigenen vier Wände
Digitalisierung: „Groß denken und klein anfangen“
„Lessons learned“ in der Region Emscher-Lippe
Wo bleibt die Solidarität?
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