Wohnungslosigkeit muss stärker in den Fokus von Politik und Gesellschaft rücken
Der letzte Bericht der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe war alarmierend. Die Zahl der wohnungslosen Menschen ist seit 2014 demnach um 150 Prozent gestiegen (inklusive der Flüchtlinge). Diese Personen verfügen über keinen eigenen Mietvertrag, kommen bei Verwandten unter oder leben in Einrichtungen und Unterkünften. Von den Wohnungslosen in Deutschland sind rund 52.000 Personen obdachlos und damit ohne jede Unterkunft. Die Tendenz ist steigend. Höhere Mieten erhöhen die Gefahr von Wohnungslosigkeit. Besonders problematisch ist es für Menschen mit multiplen Vermittlungshemmnissen wie Verschuldung, Suchterkrankungen und psychischen Erkrankungen sowie Obdachlosigkeit, Wohnraum zu finden. Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit sind nicht nur ein Phänomen der Ballungszentren, sondern nehmen aufgrund entsprechender Verdrängungsprozesse auch in mittleren Städten und teilweise auch im ländlichen Raum zu.
Gleichzeitig sind viele Städte und Kommunen auch durch die EU-Armutsmigration herausgefordert. Vielen EU-Bürger(inne)n gelingt die Integration sehr erfolgreich. Jedoch eine wachsende Personengruppe, die häufig schon in ihren Heimatländern von Armut und Ausgrenzung betroffen war, gerät in Deutschland in eine Verelendungsspirale. Sie wird oft in unmenschlichen Arbeitsverhältnissen ausgebeutet, lebt auf der Straße und ist auf das niedrigschwellige System der Wohnungslosenhilfe angewiesen. Aufgrund des EU-Leistungsausschlussgesetzes sind viele von ihnen ohne sozialrechtlichen Leistungsanspruch. Ein Teil der Betroffenen kehrt in ihre Heimatländer zurück, andere pendeln oder bleiben für Jahre in Deutschland.
Manche Behörden reagieren auf die wachsende Zahl von Obdachlosen mit Räumungen von Camps. Zuletzt wurde die Sinnhaftigkeit dieser Aktionen anhand der Maßnahmen des Bezirkes Berlin-Mitte im Tiergarten bundesweit diskutiert. Ein weiteres nicht zu vernachlässigendes Thema ist die zunehmende Wohnungslosigkeit von Menschen im höheren Alter, von jungen Menschen, Frauen und Familien mit Kindern.
Raus aus der Nische
Das Engagement für wohnungslose und obdachlose Menschen war schon immer ein Kernthema der Caritas. Suppenküchen, Kleiderkammern und Unterkünfte genauso wie Langzeithilfen und Beratungsstellen gehören seit vielen Jahrzehnten zur verbandlichen Caritas. Gleichzeitig ist die Wohnungslosenhilfe in der Caritas regional sehr unterschiedlich aufgestellt. Insgesamt gibt es über 400 Einrichtungen und Dienste in der Caritas bundesweit, davon sind viele in der Katholischen Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (KAG W) im Deutschen Caritasverband (DCV) organisiert. In vielen Diözesen ist die Wohnungslosenhilfe in den Caritasverbänden auf Orts- und Diözesanebene vertreten, oft nur mit geringen Personalressourcen.
Angesichts steigender Zahlen und vieler sozialer Fragen, die sich zeigen, bedarf dieses Arbeits- und Politikfeld einer größeren verbandlichen Aufmerksamkeit auf allen Ebenen. Es sollte raus aus der Nische und in die Mitte der Kirche und ihrer Caritas!
Eine existenzielle Zukunftsfrage, die ins Kanzleramt gehört
In der Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit kommt den Kommunen eine entscheidende Rolle zu. Doch ihre Handlungsfähigkeit hängt von landes- und bundespolitischen Rahmenbedingungen ab. Dazu zählen Maßnahmen der Landes- und Bundespolitik zur Bekämpfung der Wohnungsnot, aber auch sozialpolitische Regelungen zur Gestaltung des SGB II wie etwa zu Sanktionsregelungen, die gerade bei jungen Menschen erst zur Wohnungslosigkeit führen können. Ein wichtiger Faktor ist das EU-Leistungsausschlussgesetz, das dazu führt, dass viele EU-Bürger(innen) unter bestimmten Bedingungen keinerlei Leistungsansprüche haben. Es bestehen nach wie vor für viele Kommunen Unklarheiten in der Rechtsauslegung dieses Gesetzes. Es führt in der Praxis dazu, dass sich in vielen Fällen die Verelendung der Betroffenen verschärft. Dieses Gesetz beziehungsweise seine Härtefallregelungen müssen dringend überarbeitet werden, auch die Regelung der Unterbringungsmöglichkeit, die danach nur vier Wochen beträgt. In dieser Zeit sind jedoch häufig die komplexen Rechtsfragen, ob nicht doch Leistungsansprüche bestehen, nicht zu klären. Eine Unterbringungsmöglichkeit von drei bis vier Monaten wäre in vielen Fällen aus fachlicher Sicht hilfreich. Diskutiert wird zudem die Diskrepanz zwischen den begrenzten Unterbringungsregelungen laut Gesetz und der ordnungsrechtlichen Pflicht zur Unterbringung, um Obdachlosigkeit zu vermeiden.
Wohnungslose und obdachlose Menschen haben auf den politischen Ebenen keine starke Lobby. Das zeigte auch der letzte Bundestagswahlkampf. Deshalb hat die KAG W die Aktion "10 Gebote gegen Wohnungslosigkeit" (https://bit.ly/2jPudSD) im Bundestagswahlkampf gestartet und mit Betroffenen vorgestellt. Die zehn Gebote stehen für zentrale Forderungen der Wohnungslosenhilfe, aber auch dafür, dass dieses Querschnittsthema die Aufmerksamkeit aller politischen Ebenen braucht und als existenzielle Zukunftsfrage ins "Kanzleramt" gehört.
Wohnungslosenhilfe muss politischer werden
Die ehrenamtlichen und beruflichen Mitarbeitenden leisten in der Wohnungslosenhilfe hervorragende Arbeit. Sie erleben manchmal Erfolge, sind aber auch damit konfrontiert, dass sich viele Menschen in verfestigten Armutslagen befinden und sie nur bedingt helfen können. Gleichzeitig sind sie aber auch ein Frühwarnsystem der Caritas. Denn in den Diensten und Einrichtungen spiegeln sich frühzeitig gesellschaftliche und sogar internationale Phänomene. Dazu zählen auch Themen wie Altersarmut, Wohnungslosigkeit von Frauen und Familien sowie soziale Entwicklungen in Europa oder in einzelnen Stadtvierteln. Die Wohnungslosenhilfe gerät gerne im Winter in den Fokus. Die Unterstützung der Kältehilfe wird von der breiten Öffentlichkeit als Herzenssache angesehen, ist populär und auch sehr hilfreich. Aber zur Verbesserung der Situation muss die Wohnungslosenhilfe selber politischer werden. Mit den "10 Geboten" und in enger Zusammenarbeit mit den Caritasverbänden auf Orts- und Diözesaneben sowie dem DCV kann die katholische Wohnungslosenhilfe deutliche Akzente setzen. Sehr wertvoll ist dabei die Zusammenarbeit in ökumenischen Bündnissen, aber auch mit der BAG W. Auszubauen ist die Zusammenarbeit mit Betroffenenorganisationen und -gruppen.
Mehr Zahlen, Fakten und Daten sind erforderlich
Unzureichend ist immer noch die statistische Lage in der Wohnungslosenhilfe. Einzelne Bundesländer und Kommunen verfügen über gute Grundlagen, andere hingegen nicht. Das Land Berlin kann bislang etwa kaum Aussagen machen über die Zahl der wohnungs- und obdachlosen Menschen. Eine bundesweite einheitliche Statistik ist jetzt endlich in Planung. Valide Zahlen auch zu einzelnen Bereichen wie etwa der gesundheitlichen Versorgung sind auch höchst relevant für die fachliche Entwicklung, das Monitoring sowie die politische Argumentation. Der Runde Tisch zur medizinischen Versorgung obdachloser Menschen in Berlin hat einen ersten Gesundheitsbericht herausgegeben, der angesichts der hohen Fallzahl von über 6000 Personen einen guten Einblick gibt (www.obdachlosigkeit-macht-krank.de).
Der Einsatz gegen Wohnungslosigkeit und für von Obdachlosigkeit Betroffene braucht eine gemeinsame Strategie in der Caritas und der Politik. Es handelt sich um ein Querschnittsthema mit enormer sozialer und gesamtgesellschaftlicher Brisanz. Zugleich geht es um Grundwerte der Gesellschaft im Umgang mit Menschen in existenziellen Nöten. Es sind aber auch Grundsatzfragen berührt, wie etwa in Europa mit sozialen Herausforderungen und den Folgen der Freizügigkeit umgegangen wird. Es besteht schnell die Gefahr der Polarisierung. Sicherheitsfragen und der Umgang mit Obdachlosigkeit im öffentlichen Raum müssen diskutiert und unterschiedliche Interessen in ein Verhältnis gesetzt werden. Die Jahreskampagne des DCV "Jeder Mensch braucht ein Zuhause" ist ein wertvoller Anstoß, das Thema Wohnungsnot, insbesondere aber die Menschen, die von Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit betroffen sind, stärker in den Blick zu rücken.
Dabei handelt es sich um sehr unterschiedliche Zielgruppen. Entsprechend differenziert muss auch eine strategische Debatte geführt werden. In Berlin besteht ein großes Netzwerk der Wohnungslosenhilfe. Hier gibt es auch den politischen Willen, die Themen anzupacken. Trotzdem hat die Erfahrung gezeigt, dass die kirchlichen Wohlfahrtsverbände immer wieder auf Phänomene aufmerksam machen mussten, damit sie gesehen werden. Dazu zählten Familien und Frauen in Obdachlosigkeit. Auch das Strategiedefizit musste angemahnt werden, weil es wie in manchen Regionen immer wieder eine Konzentration auf die Kältehilfe und andere Nothilfeformen gab. Diese sind wichtig, führen aber kaum zu langfristigen Lösungen. Entscheidend ist zum Beispiel, mit welchen Standards eine ordnungsrechtliche Unterbringung stattfindet. Wenn diese nicht mit Beratung verknüpft ist, ist sie nicht nur sehr teuer, sondern kann Probleme mitunter sogar verstärken. Bei den EU-Bürger(inne)n sind die Zusammenarbeit mit den Heimatländern sowie die Bekämpfung ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse entscheidend. Im letzten Herbst konnte in Berlin bei der Debatte um Räumungen von Camps durch öffentlichen Druck und pointierte sozialpolitische Aktivitäten erreicht werden, dass eine Strategiekonferenz Wohnungslosenhilfe durch den Senat eingerichtet wurde. Hier soll eine Gesamtstrategie für Berlin als Hauptstadt der Wohnungs- und Obdachlosigkeit mit allen Akteuren und Verantwortlichen entwickelt werden.
Themen wie Housing First, Standards bei ordnungsrechtlicher Unterbringung, Schaffung von Wohnraum und andere damit zusammenhängende Themen sollten wir in der Caritas unbedingt gemeinsam strategisch angehen. Als "Schirmherrn" und Leitfigur haben wir mit Papst Franziskus und seinen Initiativen für Wohnungslose das beste Vorbild.
Auf dem Weg in die eigenen vier Wände
Zuerst kommt das Zuhause
Digitalisierung: „Groß denken und klein anfangen“
„Lessons learned“ in der Region Emscher-Lippe
Wo bleibt die Solidarität?
Hinterlassen Sie einen Kommentar zum Thema
Danke für Ihren Kommentar!
Ups...
Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite erneut und wiederholen Sie den Vorgang.
{{Reply.Name}} antwortet
{{Reply.Text}}