„Mach einen Punkt!“
„Ich habe ja nichts gegen Flüchtlinge, aber ..." Oft beginnen genau so Gespräche voller Vorurteile und offenem Rassismus. In Schwerin haben sich Menschen zusammengefunden, die dem etwas entgegensetzen wollen. Menschen, die sagen: „Ich habe nichts gegen Flüchtlinge." Und die nach diesem Satz einen Punkt machen, ohne Wenn und ohne Aber.
„Mach einen Punkt", so heißt denn auch das auf drei Jahre angelegte Projekt, das vom Interreligiösen Dialog Schwerin, der örtlichen Caritas und dem Aktionsbündnis für ein friedliches und weltoffenes Schwerin getragen und durch den „Fonds des Erzbistums Hamburg für Hilfe und Begegnung mit Flüchtlingen" unterstützt wird.
Zum Projekt gehört eine Plakataktion, die unter anderem auf die Ursachen hinweist, die Menschen zur Flucht bewegen. Und die dazu anregt, eigene Haltungen zu überdenken. „Mach einen Punkt" ist zugleich der Versuch, mit jenen ins Gespräch zu kommen, die Geflüchteten skeptisch oder offen ablehnend gegenüberstehen, seien es Jugendliche oder Erwachsene. Diese Positionen sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Darum muss gelten: Vorurteilen werden Fakten entgegengesetzt.
Wenn sich jemand direkt überzeugen lässt, umso besser. Doch in erster Linie geht es darum, den Dialog nicht abreißen zu lassen und auf die Argumente derer einzugehen, die sich durch Geflüchtete sozial oder wirtschaftlich bedroht fühlen.
Im ersten Quartal 2017 gab es in Schwerin die ersten drei Gesprächsforen in Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit. Im Spätsommer und Herbst 2017 wird es drei weitere Foren dieser Art an Schweriner Schulen geben. Alle Veranstaltungen werden ausgewertet, um auf der Grundlage der Ergebnisse 2018/2019 weitere Aktionen dieser Art zu organisieren.
Das handlungsleitende Ziel all dieser Überlegungen und Aktionen ist die Überwindung der Sprachlosigkeit in der Auseinandersetzung mit fremdenfeindlichen, menschenverachtenden Tendenzen innerhalb des demokratischen Gemeinwesens.
Bausteine der Projektidee "Mach einen Punkt"
Thesen
- Eine Auseinandersetzung mit extremistischen Strömungen ist zwingend und dringend erforderlich.
- Eine Auseinandersetzung auf verbaler Ebene ist sehr schwierig.
- Eine Auseinandersetzung wird erschwert, teilweise verursacht durch eine gebrochene Identität des eigenen Standpunktes.
- Irritationen und Unsicherheiten beim Gegenüber werden ausgelöst durch unklare, verschwommene eigene Positionen.
- Der Partner weiß nicht, woran er ist, woran er sich halten soll, wenn sein Gegenüber unsicher, wenig stringent und mehrdeutig auftritt beziehungsweise sich verhält.
Auslöser
- Tätigkeit im Interreligiösen Dialog Schwerin seit vielen Jahren, immer in enger Abstimmung mit Oberbürgermeister und Stadtpräsidenten/Integrationsbeauftragten – keine Nischenbildung, Glaube gehört auf den „Marktplatz", darum: offene Foren, (meist in Synagoge), Eröffnung der Interkulturellen Woche, jährlich das Fest „Weißt du, wer ich bin?"
- Begegnung mit sogenannten „Reichsbürgern": Absage an Demokratie grundsätzlicher Art. Hier ist kaum Diskussion möglich, nur Irritation durch schlagwortartige Fragen, beispielsweise: „Warum bist du so bescheiden und suchst das Reich Bismarcks? Ich suche das Reich Gottes, darunter mach’ ich es nicht!"
- Die Erfahrung: Extremismus ist keine Randerscheinung; er tangiert Freundes- und Bekanntenkreise, er ist auch teilweise in kirchlichen Kreisen präsent, selbst bei jenen, die sich zum Kern der christlichen Ortsgemeinde zählen, und macht selbst vor befreundeten Familien nicht halt.
- Orte der Auseinandersetzung: Sie findet auf der Straße und auf Plätzen ebenso
statt wie am sprichwörtlichen Stammtisch oder in Internetforen, auf der politischen Ebene wie im Netzwerk Migration, im Ortsteil, im Trägerverbund der Jugendarbeit und in der Politik, hier besonders in den zuständigen Gremien wie dem Jugendhilfeausschuss oder der Arbeitsgemeinschaft Jugendarbeit.
Fragen
- Welches sind die wirklichen Ursachen für Frustration, Hass und Wut?
- Sind wir als Kirche wirklich bei den Menschen, dort, wo der Schuh drückt?
- Wie holt man jene ab, die Stimmung machen, meist hinter vorgehaltener Hand, sich aber nicht direkt dazu äußern?
- Wie holt man jene ab, die sich meist der Auseinandersetzung entziehen, die Vorurteile tradieren, ohne sich direkt dazu zu bekennen?
- Wie führt man eine Diskussion mit kontroversen Positionen in der Öffentlichkeit ohne Eskalation?
Überlegungen zur Umsetzung
- Keine Powerpoint-Präsentation;
- keine überbordende Argumentation nach dem Muster: „Ich weiß schon, wie es geht" oder: „Den Unwissenden wollen wir jetzt erst einmal die Welt erklären";
- Herstellen von Argumentationsmaterial - auszugsweise zitierbar, für Gespräch und für die Weitergabe geeignet (Angaben müssen amtlich bestätigt, das heißt, sie müssen objektivierbar, verifizierbar sein);
- kein "Zuschütten" mit Fakten und Argumenten, sondern „Hörer des Wortes" (Karl Rahner) sein, hören - verstehen - argumentieren.
Bisherige Erfahrungen: gemischt
Alle drei Veranstaltungen in Jugendeinrichtungen verliefen unterschiedlich. Bei der ersten Veranstaltung gab es einen offenen Diskurs, wenige Jugendliche, dafür mehr Personen aus Ortsteil und Politik. Beim zweiten Treffen waren nur Erwachsene aus dem Ortsteil anwesend, die sich kannten und sich einig waren, dass Flüchtlingen geholfen werden muss. Hier war man gewissermaßen "unter sich"; ein wirklicher Dialog kontroverser Positionen kam nicht zustande. Offensichtlich geschieht in diesem Ortsteil die Ab-und Ausgrenzung verstärkt nonverbal. Es stellte sich die Frage: Wie ist an jene Personen heranzukommen, die sich entziehen?
Die dritte Veranstaltung war am besten besucht. Viele junge Leute, Vertreter(innen) von Polizei, Politik und Wohlfahrtspflege haben teilgenommen. Es war ein offener Diskurs, vorbereitetes Material spielte kaum eine Rolle. Entscheidend waren Gespräche und Fragen, der verbale Austausch. Auch eigene Erfahrungen mit Flucht standen im Mittelpunkt. Vorrangig waren es jüngere Jugendliche, die einfach interessiert waren. Besonders spannend bei dieser Veranstaltung war die Begegnung mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die schon völlig integriert waren in "ihrem" Jugendtreff. Sie haben sich als
Beispiele für Menschen mit Migrationshintergrund geoutet, so dass es wirklich ein Gespräch auf Augenhöhe war.
Im Sommer und Herbst sind weitere Veranstaltungen in Schulen und anderen Einrichtungen geplant, besonders in "sozialen Brennpunkten", aber auch in Räumen der Kirchgemeinden. Die Veranstaltungen finden stets in enger Abstimmung mit Verantwortlichen aus Verwaltung und Politik statt. Allerdings sollten Organisatoren solcher Veranstaltungen ihre Erwartungen zurückschrauben, Enttäuschungen in Kauf nehmen, sich auf Ignoranz und Arroganz einstellen. Ein Beispiel: In Schwerin - im Rathaussaal - nahmen über 60 Personen am ersten Treffen der "offenen Gesellschaft" teil. Das Thema lautete: "In welcher Welt wollen wir leben?" Auch der Interreligiöse Dialog hatte ein eigenes Forum - dort fand teilweise eine lebhafte und anregende Debatte statt. Aber: Aus dem Kern der örtlichen christlichen Gemeinden haben nur sehr wenige Mitglieder an diesem Forum teilgenommen. Es kam viel Kritik, gepaart mit Halb- und Unwissen über Kirche und Religion. Schmerzlich war daher das Fehlen eines argumentativen Korrektivs aus Kirchgemeinden und Orten kirchlichen Lebens.
Ein Gedanke sei zum Schluss erwähnt, der auch als Leitidee über das Projekt gestellt werden kann. Der große jüdische Denker Martin Buber formulierte seine Lebens- und Glaubensweisheit einmal so: „Wer die Liebe hat, dem kann vieles fehlen. Wem die Liebe fehlt, dem fehlt alles." Es ist tiefste Glaubensüberzeugung, dass die Würde des Menschen durch Gottes Liebe verbürgt ist. Dieses Fundament des Glaubens muss auch all jenen in Erinnerung gerufen werden, die sich so sehr auf das „christliche Abendland" berufen.
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