Neue Medizinische Zentren für Erwachsene mit schweren Mehrfachbehinderungen
Für viele Kinder mit körperlicher und geistiger Behinderung und ihre Familien bieten die Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) seit den 1970er-Jahren die Möglichkeit einer ganzheitlichen Betreuung bis zum 18. Lebensjahr.2 Mit dem Erreichen der Volljährigkeit beginnt für sie jedoch eine nervenaufreibende Odyssee auf der Suche nach einem/einer geeigneten Hausarzt/-ärztin sowie den nötigen Fachärzt(inn)en und Therapeut(inn)en.3 Eine aufgrund der steigenden Lebenserwartung stetig wachsende Zahl von Menschen mit Behinderung und eine zunehmende Überforderung aufseiten der ambulanten Regelversorgung machten es unlängst nötig, eine neue Versorgungsform für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen zu entwickeln.4 Seit der Verabschiedung von §119 c SGB V im Rahmen des Versorgungsstärkungsgesetzes wird volljährigen Schwerstbetroffenen die Möglichkeit geboten, ihre vom SPZ gewohnte ganzheitliche und multiprofessionelle Versorgung in einem "Medizinischen Behandlungszentrum für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen" (MZEB) fortzusetzen. Zur Zielgruppe der neuen Zentren gehören vorrangig volljährige schwerstbetroffene Menschen und ihre Angehörigen, aber auch die komplex behinderten Jugendlichen. Eine möglichst weitgehende Umsetzung ihrer Bedürfnisse sollte folglich neben der medizinischen Versorgung einen Schwerpunkt der Betreuung in den neuen Zentren ausmachen. Aus diesem Grund wurde eine Erhebung zu den Zukunftsvorstellungen, Bedürfnissen und Erwartungen der Schwerstbetroffenen und deren Eltern notwendig, um diese konkret benennen zu können und in die Konzepte der neuen Zentren einfließen zu lassen. Um als behinderter Erwachsener in einem MZEB behandelt werden zu können, braucht es:5 einen Schwerbehindertenausweis mit Grad der Behinderung = 70, zudem ein Merkzeichen (G, aG, H, BI oder GI) sowie eine Diagnose aus F 71-73, F 78, F 70.1, F 07, F 84, G 80, Q 00-99.
Ergebnisse der Erhebung
Auf die Frage nach der Zukunft berichten die Jugendlichen und jungen Erwachsenen trotz ihrer teilweise stark eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten mitunter sehr detailliert über ihre Vorstellungen. Die Gestaltung der Freizeit, das spätere Wohnen, Arbeiten sowie Partnerschaft sind als Themen dominierend. Die Finanzierung ihrer Hilfen und finanzielle Unabhängigkeit sind ebenfalls relevante Themen. Aussagen wie die eines schwerst kognitiv-beeinträchtigten Befragten, der "Erwachsen. Bist du ein Mann." sagte, weisen darauf hin, dass die Jugendlichen und jungen Erwachsenen ungeachtet des Ausmaßes oder der Komplexität ihrer geistigen und/oder körperlichen Behinderungen den Eintritt in die neue Lebensphase wahrnehmen. Und Äußerungen wie "[...] ich will dann auch mein eigenes Geld haben" und "Erst mal müssen wir noch suchen nach einer Arbeit" zeigen das Streben nach Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Derartige Bedürfnisse werden von den Eltern vor allem bei den Jugendlichen mit eher geringen kognitiven Fähigkeiten jedoch nur selten wahrgenommen.
Die medizinisch-therapeutische Betreuung betreffend, äußern sich die Befragten ähnlich wie ihre Eltern. Im Fokus stehen die ganzheitliche Versorgung und die Verordnungen für Therapien sowie Hilfsmittel. Bei den Vorstellungen, wie das neue MZEB organisiert sein sollte, werden ähnliche Strukturen wie im bekannten SPZ gewünscht. Der Beratungsbedarf hinsichtlich Leistungen zum Beistand beim Abschließen von Verträgen und dem Schriftverkehr mit Kostenträgern bleibt präsent. Einige Befragte konnten keine Erwartungen oder Wünsche in Bezug auf die neue Einrichtung äußern. Für die meisten Eltern gehört die Sicherung der medizinisch-therapeutischen Versorgung zum Hauptaugenmerk nach der Volljährigkeit ihres Kindes. Außerdem stellen die Eltern die gleichen Ansprüche an die weiterbetreuenden Ärztinnen und Ärzte wie in ihrer Zeit im SPZ. Ihre Kinder sollen mit ihren Besonderheiten und Eigenheiten wahrgenommen werden, deshalb ist nach dem Dafürhalten der Eltern ein Mindestmaß an Einfühlungsvermögen erforderlich.
Weitere Schwerpunkte sehen die Eltern in der Beratung zu möglichen Wohnformen, Beschäftigungs- und Fördermöglichkeiten. Außerdem wünschen sich Eltern einen besseren Austausch mit anderen betroffenen Familien. Der Einsatz von modernen Medien wie Chats oder Gruppen bei sozialen Netzwerkanbietern ist für viele Eltern vorstellbar und wird vor allem von Familien aus ländlichen Regionen favorisiert. Nur vereinzelt sprechen Angehörige die Themen Betreuung, Freizeit und Urlaub, Sexualität, Partnerschaft, Finanzierung von Leistungen und Grundsicherung an.
Hilfe bei Ablösung vom Elternhaus
Zum ganzheitlichen Gesundheitsbegriff gehört neben der bestmöglichen medizinisch-therapeutischen Betreuung auch die Förderung altersentsprechender entwicklungspsychologischer Prozesse. Dazu gehören die wachsende Selbstständigkeit, das Entwickeln der eigenen Persönlichkeit und die Abnabelung vom Elternhaus.6 Diese Vorgänge betreffen alle Heranwachsenden und ihre Eltern. Auch die Sorgeberechtigten selbst treten in eine neue Lebensphase ein: Das "leere Nest" ist ihre neue Herausforderung.7 Die Eltern bleiben jedoch immer wichtigste Co-Therapeuten und Unterstützer. Sie müssen gemeinsam mit ihren Kindern beim Ablösungsprozess und der Versorgungsplanung unterstützt werden, um Versorgungslücken zu vermeiden.
Eine Überbehütung durch die Angehörigen kann zu fehlenden Notplänen beim Ausfall von Helfern beziehungsweise Elternteilen und zur kontinuierlichen Überlastung der Eltern durch mangelnde Auszeiten führen. Eine konzeptionelle Elternarbeit mit diesen Schwerpunkten könnte bereits im SPZ beginnen und im MZEB weitergeführt werden. Den zunehmenden Anforderungen der Transition und der Versorgung der immer älter werdenden komplex behinderten Menschen gerecht zu werden - diese Aufgabe ist sicherlich nicht allein vom medizinischen Bereich zu stemmen. Aber die Zentren können eine entscheidende und koordinierende Schlüsselposition übernehmen.
Anmerkungen:
Generelles: Ich bedanke mich beim gesamten Team des SPZ des Krankenhauses St. Elisabeth und St. Barbara Halle/S. für die Unterstützung bei der Erhebung.
2. Hollmann, H., Kretzschmar, C. et al.: Das Altöttinger Papier. Grundlagen und Zielvorgaben für die Arbeit in Sozialpädiatrischen Zentren. Berlin: Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ), 2014.
3. DGSPJ: Kranke Jugendliche fallen mit dem Erwachsenwerden in ein Versorgungsloch. Pressemitteilung 2009 unter: www.dgspj.de, Suchwort: "Erwachsenwerden 2009".
4. Brem, F.: Medizinische Behandlung und Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung. In: Schweizerische Ärztezeitung, Jahrgang 88/2007, Heft 29/30, S. 1260-1263.
Statistisches Landesamt Sachsen-Anhalt: Zahlen der Schwerbehinderten nach Grad der Behinderung. 2016. Unter: www.statistik.sachsen-anhalt.de/Internet/Home/Daten_und_Fakten/2/22/227/22711/Schwerbehinderte_nach_Grad_der_Behinderung.html
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