Probleme und Politik auf der Straße ansprechen
Der öffentliche Raum ist seit jeher Aktions- und Aufenthaltsort für jugendliche Cliquen. Für viele von ihnen dienen neben gemeinsamen Freizeitinteressen oder demselben Wohnquartier unter anderem auch Abgrenzungs- und Ablehnungshaltungen gegenüber anderen Gleichaltrigengruppen der Identifikation mit der eigenen Peergroup. Der Verein zur Förderung akzeptierender Jugendarbeit (VAJA) in Bremen arbeitet seit 25 Jahren mit Jugendlichen verschiedenster Milieus und Szenen im öffentlichen Raum, mit und ohne (eigene oder familiäre) Migrationsgeschichte. Sie werden in der Regel von konventionellen Angeboten der Jugendarbeit nicht ausreichend oder gar nicht mehr erreicht. Neben den nicht seltenen Erfahrungen, selbst von Benachteiligung, Ausgrenzung und Diskriminierung innerhalb der Gesellschaft betroffen zu sein, zeigen manche der begleiteten Jugendlichen auch ablehnende oder feindselige bis hin zu beispielsweise rechtsextrem konnotierten Haltungen gegenüber anderen Gruppierungen. In deutlicher und konzeptionell festgelegter Abgrenzung dazu wird aber mit ideologisch gefestigten Rechtsextremisten, Neonazis etcetera explizit nicht gearbeitet. Um einen Einblick in die sozialpädagogische Praxis in diesem Feld zu ermöglichen, werden hier drei Arbeitsbereiche beispielhaft skizziert: Cliquenbegleitung, Einzelfallhilfe und Projektarbeit. Sie sind nicht losgelöst voneinander, sondern miteinander korrespondierend zu verstehen.
Cliquenbegleitung fängt in Parks und an Haltestellen an
Ansatzpunkt um jugendliche Cliquen zu begleiten, ist häufig der Kontakt an ihren Treffpunkten wie Bushaltestellen, Parkanlagen, Spielplätzen oder am Marktplatz als Mittelpunkt im Stadtteil. Wird es von den Jugendlichen zugelassen, streben die Streetworkteams eine langfristige, alltagsnahe Begleitung über mehrere Jahre hinweg an, so dass eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung zur Gruppe und zu ihren einzelnen Mitgliedern entstehen kann. Diese Art des Zugangs zielt unter anderem darauf ab, einen niedrigschwelligen Kontakt zu ermöglichen und die Lebenswelt der Jugendlichen angemessen zu berücksichtigen: Welche positiven und negativen Faktoren verbinden sie mit ihrer Zeit am Treffpunkt und in der Gruppe? Welche (gegebenenfalls konfliktären) Wechselwirkungen gibt es mit anderen Gruppierungen im Stadtteil? Was sind die Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Denken und Handeln der einzelnen Cliquenmitglieder? Was ist die Motivation dafür und welchen "Ertrag" erwarten sie sich davon? Welche Ressourcen können identifiziert und bestärkt werden? Aber auch: Welche problematischen, zum Beispiel von Ablehnungsmentalitäten beförderte, Einstellungs- und Verhaltensweisen sind erkennbar und müssen thematisiert werden? Dies können neben anderen auch rechtsextreme Orientierungen sein. Jugendliche sind angesichts ihrer altersspezifischen Phase der Identitätsbildung in der Regel (noch) nicht ideologisch gefestigt. Sie suchen mitunter individuell und prozesshaft, teilweise im Rahmen eines Cliquengefüges, nach Strategien etwa zur Abgrenzung, Lebensbewältigung sowie -gestaltung und bedienen sich dabei auch stereotyper Vorurteile.
Pädagog(inn)en können die Chance haben, den bei Jugendlichen vielfach noch flexiblen Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung mitzudefinieren. Das umso mehr, wenn sie sich, wie im Feld der aufsuchenden Arbeit gegeben, auf die Lebenswelt jugendlicher Cliquen nicht nur einlassen, sondern diese darüber hinaus auch in den Arbeitsprozess einbeziehen. Geschehen kann dies am Treffpunkt (zum Beispiel kreativ-gestalterische Aktivitäten), im Rahmen von Gruppenangeboten in geschützten Räumen (zum Beispiel Workshops zu jugendkulturellen Phänomenen) oder auch durch Exkursionen (zum Beispiel politische Bildungsfahrten). So kann sich eine Gelegenheit ergeben, eine kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit bislang möglicherweise nicht oder wenig hinterfragten Alltagsgewohnheiten der Cliquen, ihren Gruppendynamiken, politischen Haltungen, jugend(sub)kulturellen Prägungen und Lifestyleelementen zu befördern und letztlich Veränderungsprozesse zu initiieren.
Aus Gruppenarbeit kann Einzelfallhilfe entstehen
Regelmäßige Kontakte zu jugendlichen Cliquen erhöhen die Chance, dass die einzelnen Cliquenmitglieder bereit sind, sich auch mit individuellen Fragestellungen und Problemlagen an die Streetworker(innen) zu wenden. So wird beim Verfassen von Bewerbungen geholfen, der Termin beim Jugendgericht begleitet, bei einer Suchtproblematik beraten oder bei Liebeskummer ein offenes Ohr geschenkt. Hier erleben die jungen Menschen Gespräche, bei denen sie Akzeptanz und Angenommensein erfahren, die eine wertschätzende Kommunikationskultur stärken und in denen sie selbst mit ihren Gedanken, Gefühlen und Haltungen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, ohne (vor-)verurteilt zu werden oder die Reaktionen der Clique "ertragen" zu müssen.
Begleitendes Resultat eines derartigen Kontakts ist in der Regel, dass die Jugendlichen in der Folge auch Gespräche über politische, weltanschauliche oder werteorientierte Themen und damit die (oft konträren) Positionen der pädagogischen Gesprächspartner(innen) eher zulassen - und so einen ersten Schritt in Richtung persönlicher Reflexions- und Veränderungsbereitschaft machen. Jugendarbeiter(innen) sind allerdings häufig verunsichert, wenn es etwa um historisches Faktenwissen des Nationalsozialismus oder aktuelle milieuspezifische Entwicklungen geht. So entstehen zum Beispiel neue Gruppierungen (offline wie online) oder bis dato unbekannte Idole werden bewundert, beispielsweise aus der Szenemusik. Eine gewisse "Sattelfestigkeit" in derartigen Themen gehört zum Handwerkszeug und ist in jedem Fall unumgänglich, jedoch ist allumfassende Informiertheit der aufsuchenden Jugendarbeiter(innen) für die meisten Jugendlichen nicht entscheidend, um bei ihnen Gehör zu finden. Vielmehr ist es die Bereitschaft und die Zusage, sich über das gemeinsame Thema zu informieren und das Gespräch fortführen zu wollen. So wird die Botschaft vermittelt, ehrliches Interesse an der inhaltlichen Auseinandersetzung zu haben. Darüber hinaus wird den Jugendlichen signalisiert, dass die Bedeutsamkeit des Themas für sie gesehen wird, sie sich also ernst genommen fühlen. Ein Satz, der so oder ähnlich des Öfteren in diesem Arbeitsbereich fällt, lautet: "Du bist der erste Erwachsene, bei dem ich das Gefühl habe, dass er sich wirklich für mich interessiert."
Die Nachhaltigkeit und Qualität von Kontakt kann sich unter anderem auch darin zeigen, dass sich manche Jugendliche und (junge) Erwachsene nach einer intensiven Begleitung und darauffolgenden Jahren der Kontaktlosigkeit wieder bei ihren ehemaligen Streetworker(inne)n melden. Teils mit Bedarfen und "Hilferufen", manchmal aber auch mit persönlichen Errungenschaften. Diese gehen nicht selten auf frühere gemeinsame Gesprächssituationen zurück, wie "Ich hab zum ersten Mal in meinem Leben eine feste Anstellung" oder "Ich wollte dir sagen, dass ich bald heirate".
Hemmschwellen bei der Projektarbeit
Akteure im Feld der aufsuchenden Jugendarbeit mit Cliquen haben es nicht immer leicht, sie in Projekte einzubinden, die außerhalb ihres gewohnten Aktionsraums stattfinden. Eine weitere Hürde kann es sein, wenn sie dadurch ihnen zunächst unbekannten Gleichaltrigen begegnen. Gleichwohl kommt genau diesen Projekten im Bereich der Rechtsextremismusprävention eine besondere Bedeutung zu, denn häufig sind die "anderen" mit Vorurteilen belegt, mitunter allein durch die Tatsache, dass sie in einem bestimmten Stadtteil leben oder einer anderen Herkunftskultur zugeschrieben werden. Dieser Umstand sorgt bei Jugendlichen für Verunsicherung und nicht selten für Absagen im letzten Moment. Die Erfahrungen zeigen aber, dass diese Hemmschwellen umso mehr reduziert werden können, je länger und vertrauensvoller der Kontakt zu den Pädagog(inn)en ist, die als verlässliche Konstante im Alltag die jeweiligen Gruppen betreuen. Eine Konstante, die ausreichend Sicherheit bieten kann, um sich mit ihr gemeinsam auch auf Ungewohntes, Neues, Fremdes einzulassen.
Als attraktiv und gut frequentiert haben sich in den letzten Jahren vor allem mediengestützte Projekte erwiesen, wie etwa die partizipative Entwicklung einer App1 in Zusammenarbeit mit der Hochschule Esslingen.2 Hier waren 18 männliche und weibliche Jugendliche im Alter von 14 bis 19 Jahren aus drei verschiedenen Bremer Stadtteilen an mehreren Workshops und einer Exkursion zur IT-Messe Cebit beteiligt. Weitere haben über die Streetworkzusammenhänge des Vereins an dem Projekt partizipiert. So wurde eine an ihren Interessen und lebensweltlichen Bezügen orientierte mobile Applikation entwickelt, die unter anderem Tipps und praktische Hilfsangebote für Jugendliche (zum Beispiel zum Umgang mit Schulden, zu Altersbestimmungen bezüglich des Besuchs von Kneipen, Discos oder Spielhallen) sowie ein Quiz über Themen wie Jugendkulturen, Musik, Rechtsextremismus, Identität, Religion, Schule/Beruf, Politik, Jugendschutz und die Stadt/Region Bremen enthält. Die Projektstruktur zielte neben der inhaltlichen und kreativen Mitgestaltung der App auch darauf ab, gegenseitige Vorurteile und Hemmschwellen abzubauen.3 Auf diese Weise Brücken zu schlagen und Voraussetzungen für Begegnungen sowie Teilhabe- und damit Integrationserfahrungen Jugendlicher zu schaffen, macht einen gewichtigen Anteil der sozialpädagogischen Arbeit im Feld aus und kann so ebenfalls einen Beitrag zur Rechtsextremismusprävention leisten.
Anmerkungen
1. Die App "Vaja" ist kostenlos verfügbar für Android sowie iOS und liegt in einer Version für die gängigen Webbrowser vor (online unter: http://vaja-bremen.de/app/app/ [Zugriff am 4.7.2017]).
2. "Rückgrat! Eine Wissenschaft-Praxis-Kooperation gegen Rechtsextremismus und gruppierungsbezogene Ablehnungen" (Laufzeit: 2013-2016), gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung und der Robert-Bosch-Stiftung.
3. Detaillierter zum Entwicklungsprozess und zu den inhaltlichen Features der App: Rosenbaum, D.; Ossyssek, T.; Reineke, C.: App dafür! Erfahrungen mit der partizipativen Entwicklung einer App in der Jugendarbeit. In: merz - Medien und Erziehung. Zeitschrift für Medienpädagogik Nr. 1/2017, 61. Jg., S. 68-75.
„Mach einen Punkt!“
Mehr Ratsuchende mit Migrationshintergrund
Zweites Pflegestärkungsgesetz – in der Praxis sind erste Trends erkennbar
Ein Gebot der Humanität
Hinterlassen Sie einen Kommentar zum Thema
Danke für Ihren Kommentar!
Ups...
Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite erneut und wiederholen Sie den Vorgang.
{{Reply.Name}} antwortet
{{Reply.Text}}