Wie wurden Ukraine-Sondermittel eingesetzt?
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine im Februar 2022 hat die größten Fluchtbewegungen innerhalb Europas seit Ende des Zweiten Weltkriegs ausgelöst. Deutschland bietet zu Redaktionsschluss 1.139.689 Geflüchteten aus der Ukraine Schutz, darunter ukrainische Staatsangehörige und Drittstaatenangehörige, die ihren regelmäßigen Wohnsitz zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs in der Ukraine hatten. Seit Kriegsbeginn hat die Bundesregierung eine Vielzahl an Maßnahmen ergriffen, einige wenige im Bereich Migration und Integration. An diesen Maßnahmen partizipierte auch die Caritas. Neben der Bundesregierung wurden viele Privatpersonen aktiv, um ihrer Solidarität mit aus der Ukraine fliehenden Menschen Ausdruck zu verleihen. So gab es in Deutschland in den ersten Wochen und Monaten nach dem 24. Februar 2022 ein besonders hohes Spendenaufkommen für Geflüchtete aus der Ukraine, das neben anderen auch der Caritas anvertraut wurde. Doch wie wurden diese zusätzlichen Bundes- beziehungsweise Spendenmittel verwendet?
Im Deutschen Caritasverband (DCV) flossen die Sondermittel in unterschiedliche Programme und Projekte. Eine Aufstockung der jährlichen Haushaltsmittel fand in der Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer (MBE), in den Jugendmigrationsdiensten (JMD), für die psychosozialen Zentren der Caritas (PSZ), für die Ehrenamts- und Empowerment-Projektförderung der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung sowie im Rahmen des Patenschaftsprogramms "Menschen stärken Menschen" statt. Durch Spendenmittel wurde das im ersten Trimester 2022 konzipierte Projekt "caritas4U" ins Leben gerufen. "Caritas4U" ist ein spendenbasiertes Projekt, welches temporäre, zielgruppenspezifische Versorgungsstrukturen auf Ortsebene schuf. Ab Juni 2022 begannen die "caritas4U"-Projektstandorte nach und nach mit der Umsetzung der Maßnahmen.
Mehrbedarf bedeutet Mehrbelastung
Die Verwendung dieser Sondermittel ist aktuell Gegenstand eines Auswertungsprojekts im Referat Migration und Integration des DCV. Ziel ist es, Rahmenbedingungen zu benennen, die in einem zukünftigen Krisenszenario für einen reibungslosen, wirksamen und nachhaltigen Einsatz von Sondermitteln sorgen. Generell bedeutete die Umsetzung eine Vielzahl an zusätzlichen Absprache-, Koordinierungs- und Austauschrunden auf und zwischen allen Ebenen der Caritas.
Die Abläufe der Umsetzung in bereits bestehenden Programmen entsprachen in groben Zügen auch den regulären Abläufen1 der Programmabwicklung. Allerdings fanden diese Dynamiken unter großem Zeitdruck und zusätzlich zu den regulären Abwicklungsprozessen statt. Ein großer Mehraufwand entstand, der sich bei den Mitarbeitenden auf allen Ebenen durch eine hohe Arbeitsbelastung bemerkbar machte.
Der Mehrbedarf, der sich aus der neuen Zielgruppe ergab, wurde kurz nach Kriegsausbruch durch die zuständigen Ministerien oder Bundesbehörden mit sehr kurzen Rückmeldefristen für die Verbände abgefragt. Zu diesem Zeitpunkt war mangels Datierung der Maßnahmenstarts noch nicht klar, über welchen Zeitraum der Mehrbedarf ermittelt werden sollte. Die geopolitisch volatile Lage erschwerte es den Standorten abzuschätzen, wie sich die lokalen Bedarfslagen in den Folgemonaten entwickeln würden. Schlussendlich flossen die ersten Zusatzmittel des Bundes ab Juli 2022, für das Projekt "Menschen stärken Menschen" allerdings erst ab September 2022. Dadurch verkürzte sich der Umsetzungszeitraum für die Standorte stark, denn alle Mittel waren auf das Jahr 2022 begrenzt.
Dies wirkte sich erschwerend auf Personalrekrutierung an den lokalen Standorten aus. Um den Herausforderungen zu begegnen, wurden Stellenanteile beim vorhandenem Personal aufgestockt. Der Mehrbedarf in den Projekten und Programmen trat zu unterschiedlichen Zeitpunkten ein. Beispielsweise waren die Koordinierung und Schulung von Ehrenamtlichen ab Tag eins der Ankunft Geflüchteter aus der Ukraine relevant. Zentral war hier, die Mittel schnell verfügbar zu machen, während Beratungsanfragen in psychosozialen Zentren erst später folgten.
"Caritas4U" konnte als spendenbasiertes Projekt freiere und schnellere Wege der Mittelverteilung wählen. Da die Mittel auch über das Jahresende 2022 hinaus verfügbar wurden, führte dies zu einer längerfristigen Planbarkeit. Während bestehende Programme häufig bewährte Maßnahmen auf neue Zielgruppen ausweiteten, fand für "caritas4U" eine komplette Neuimplementierung von Maßnahmen statt. Dies hatte an einigen Standorten einen verzögerten Projektstart zur Folge, ermöglichte aber, neue Vorhaben kreativ und innovativ auszugestalten, und zwar innerhalb von vier Förderlinien.2
Die Debatte um Ungleichbehandlung wird Thema
Die Zielgruppenbeschränkung im Rahmen der Projekte und Programme fiel unterschiedlich aus. Sie wirkte sich stark auf zusätzliche Verwaltungsprozesse auf Bundes- und Trägerebene aus und band weitere Kapazitäten. Mit Blick auf die Debatten der Ungleichbehandlung von Geflüchteten aus der Ukraine gegenüber Geflüchteten aus anderen Ländern haben zahlreiche Standorte mögliche negative Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und auf lokaler Ebene zwischen Geflüchteten-Communitys thematisiert.
Ergebnisse des Projekts sind zentrale Empfehlungen in den Bereichen Zielgruppenbindung, Zeitmanagement und Mittelverstetigung. Sie richten sich an unterschiedliche Adressat:innen. Der rote Faden ist hierbei geprägt von Nachhaltigkeit und Wirksamkeit. Zusatzmittel krisen- und anlassbezogen verfügbar zu machen, ist wichtig. Dennoch hat eine strikte Zielgruppenbindung weitreichende Auswirkungen, sei es in Verwaltungsprozessen oder auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Zielgruppenbindung muss daher immer auf ihre Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit hin geprüft werden. Standorte sollten darüber hinaus frei entscheiden können, ob gesonderte Angebote tatsächlich den Bedarfen entsprechen. Nötige Rahmenbedingungen für eine wirksame Umsetzung sind: klare Informationen zu Maßnahmenbeginn, realistisch umsetzbare Rückmeldefristen für Bedarfserhebungen und eine frühzeitige Bereitstellung der Mittel. Für eine künftige Aufstockung der Regeldienste ist es wichtig, dass Mittel verstetigt werden, die es erlauben, qualifiziertes Fachpersonal zu halten und attraktive Arbeitsbedingungen zu schaffen.
Finanzierung muss dauerhaft sein
Zusammenfassend wird deutlich, dass den Sondermitteln und den hierdurch ermöglichten Maßnahmen innerhalb der Caritasverbände große Wirkung beigemessen wird. Zahlreiche Standorte haben eine rapide ansteigende Nachfrage an Beratungs-, Gruppen- und anderen Einzelangeboten erfahren sowie Austausch- und Vernetzungsbedarfe mit neu entstandenen Dynamiken, Initiativen, Haupt- und Ehrenamtlichen. Auf sie konnte proaktiv eingegangen werden. Ein schnelles Handeln war hier auf allen Ebenen besonders gefragt. Eine derart entschlossene Antwort der Solidarität auf die kriegerischen Handlungen in Europa hätte es ohne die zusätzlichen Mittel nicht geben können. Im Rahmen von "caritas4U" wurden neue Konzepte und Themenbereiche erschlossen. Für eine nachhaltige Wirkung insbesondere der bundesfinanzierten Programme muss es langfristige Finanzierungsplanungen und -zusagen durch die Mittelgeber geben. Nur so kann den gestiegenen Bedarfen dauerhaft Rechnung getragen werden.
1. (Mehr-)Bedarfsabfrage, Antragstellung, Maßnahmenbeginn, Umsetzung, Mittelbedarfsabfragen und -abrufe, sowie Jahresabschluss samt Verwendungsnachweis und Sachberichterstattung.
2. Private Unterbringung, psychosoziale Versorgung, Sprache und Arbeitsmarktintegration, Empowerment und Vernetzung.