Wie nach Dekaden der Expansion Prioritäten setzen?
Für viele in den Sozial- und Wohlfahrtsverbänden dürfte der Titel dieses Beitrags eine Provokation sein. Welche Expansion? Verbreitet ist die Vorstellung, der Sozialstaat sei nach und nach abgebaut worden. Das ist aber empirisch nicht haltbar. Das zeigt allein schon die Sozialleistungsquote, der Anteil aller Sozialleistungen an der Wirtschaftsleistung, die öffentlich finanziert werden oder auf gesetzlicher, verpflichtender Grundlage beruhen. Sie ist lange gestiegen, auch nach der Wiedervereinigung um weitere fünf Prozentpunkte, und liegt heute bei 30 Prozent.
Die Sozialleistungsquote stellt sich nicht "naturwüchsig" ein. Sozialpolitische Anliegen stehen unvermeidlich in Konkurrenz mit anderen ebenso legitimen politischen Aufgaben. Im Bemühen, die Kosten im Zaum zu halten, sind auch Leistungen zurückgenommen worden. Und ebenso gab es erheblichen Ausbau, der sich auch in steigenden Beschäftigungszahlen bei den Trägern sozialer Dienstleistungen niederschlägt. Alle Bemühungen um Kostendämpfung als "Sozialabbau" geißeln kann nur, wer die Finanzierungsherausforderungen des Sozialstaats bagatellisiert.
Die Schärfe der Auseinandersetzungen um politische Prioritäten hat in letzter Zeit deutlich zugenommen. Angesichts des Überfalls Russlands auf die Ukraine sind deutlich mehr Ressourcen notwendig, um die Friedensordnung in Europa auch mit militärischen Mitteln zu verteidigen. Zugleich fordert der Klimawandel die staatliche Handlungsfähigkeit massiv heraus. Es gibt große Herausforderungen in der Bildungspolitik und bei der Modernisierung der öffentlichen Infrastruktur.
Eine Debatte darüber, ob angesichts dieser Herausforderungen Prioritätenverschiebungen innerhalb der Sozialpolitik oder der Verzicht auf einige vor dem Angriff auf die Ukraine geplante Vorhaben ihres Ausbaus erforderlich sind, wird bisher mit dem floskelhaften Bekenntnis vermieden, Sicherheitspolitik, Klimapolitik und Sozialpolitik dürften nicht "gegeneinander ausgespielt" werden.
Welche Stellschrauben wären möglich?
Lässt sich das Problem nicht durch staatliche Mehreinnahmen lösen? Es wäre möglich, etwa die Erbschaftsteuer zu reformieren oder den Spitzensteuersatz moderat zu erhöhen. Aber auch wenn an diesen Stellschrauben gedreht würde, wären weiterhin harte Entscheidungen zwischen unterschiedlichen politischen Zielen erforderlich. Dazu nur ein Hinweis: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) schätzt die jährlichen Steuermehreinnahmen aus einer Reform der Erbschaftsteuer, einer Einkommensteuer auf Veräußerungsgewinne von Immobilien und einer Vermögensteuer für Hochvermögende insgesamt auf bis zu 22,5 Milliarden Euro.1 Dies wären substanzielle Mehreinnahmen. Bedenkt man allerdings, dass die Summe aller Sozialausgaben 2022 fast 1200 Milliarden Euro betrug, so zeigt sich, dass der Zugewinn an staatlicher Handlungsfähigkeit dennoch eher graduell ist.
Auch wäre es möglich, gäbe es dafür eine verfassungsändernde Mehrheit, die Schuldenbremse zu modifizieren (nicht abzuschaffen!), um Investitionen zu erleichtern. Das würde die Situation der öffentlichen Haushalte ein Stück weit entspannen. Eine dauerhafte Finanzierung von Sozialausgaben über eine Schuldenaufnahme wäre aber auch dann verwehrt.
Erschwert wird der Diskurs auch durch widersprüchliche Erwartungen gegenüber "dem Staat". Er soll, so eine überwältigende Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, Gesundheitsversorgung und Pflege verbessern, Familien fördern, mehr für die Rentner:innen tun, dabei aber die Jungen nicht schröpfen, das Bildungssystem aus- und die Ungleichheit abbauen. Gleichzeitig will eine ebenso große Mehrheit bei Steuern und Abgaben entlastet werden. Selbstverständlich sind diese widersprüchlichen Erwartungen nicht zu erfüllen.
Kostenloser Kita-Platz: Eltern der Mittelschicht profitieren
Die Verweigerung einer Diskussion um Prioritäten ist für die Belange Benachteiligter schädlich. Denn dann werden sich im politischen Prozess eher die Interessen der Mittelschicht durchsetzen, die wahlentscheidend ist. Das soll an drei Beispielen erläutert werden.
Beispiel Kindertagesstätten: Der Bund hat den Ländern fast zehn Milliarden Euro für den Ausbau der Qualität der Kindertagesstätten zur Verfügung gestellt. Ein hoher Anteil der Mittel ist aber von einer Reihe von Bundesländern genutzt worden, die Kita für alle Eltern kostenlos zu stellen, statt die personelle Ausstattung der Kitas zu verbessern. Dies unterstützt jedoch vorwiegend Eltern der Mitte und der gehobenen Mitte, nicht arme Familien, die in aller Regel schon bisher keine Kita-Gebühren zahlen. Es sind aber die Kinder aus Risikofamilien, die in besonderer Weise gewinnen, wenn ein verbesserter Personalschlüssel mehr Chancen eröffnet, kompensatorische Unterstützung zu leisten.
Beispiel Pflegevollversicherung: Ein breites Bündnis von Sozial- und Wohlfahrtsverbänden fordert eine Pflegevollversicherung. Mit ihr würden auch Menschen mit hohen Einkommen oder Vermögen von der Mitfinanzierung der Pflegekosten entlastet. Bezüglich substanzieller Vermögen wirkt sie faktisch wie ein Erbenschutzprogramm. Der Schlachtruf für die Pflegevollversicherung ist "Pflege darf nicht arm machen" - dabei wird der Hilfebezug mit Armut gleichgesetzt und die Hilfe zur Pflege als "unwürdig" diskreditiert. Für die Armen selbst ändert sich allerdings mit Einführung einer Pflegevollversicherung so gut wie nichts; sie bleiben weiterhin auf Hilfe zur Pflege angewiesen. Der Reformbedarf bei der Hilfe zur Pflege wird ausgeblendet, etwa eine Erhöhung des sogenannten Taschengeldbetrages oder die Besserstellung einer im häuslichen Bereich lebenden Partnerin eines bedürftigen Heimbewohners.
Beispiel Rentenreform: Die Ampelkoalition will das sogenannte Rentenniveau dauerhaft auf 48 Prozent stabilisieren. Die Renten sollen dann wieder im Gleichklang mit der Einkommensentwicklung der Beitragszahler wachsen. Das wird breit unterstützt. Dies wird allerdings zu sehr stark steigenden Bundeszuschüssen an die Rentenversicherung führen. Auch hier stellen sich also Prioritätenfragen. Eine allgemeine Anhebung des Rentenniveaus wird den meisten Menschen, die Grundsicherung im Alter beziehen, wenig oder nichts nutzen. Man muss die Bedingungen für den Bezug der Grundsicherung im Alter verbessern, etwa durch Freibeträge bei der Anrechnung der Rentenansprüche. Und man könnte jene, die in einem langen Berufsleben gesellschaftlich notwendige, aber schlecht bezahlte Arbeit im Niedriglohnsektor geleistet haben und somit im Alter sehr niedrige Renten bekommen, dadurch unterstützen, dass man einen Teil ihrer Rentenansprüche aufwertet.
Prioritätenentscheidungen sind auch zu treffen bezüglich des Verhältnisses von Umverteilung mittels Transferzahlungen und sozialer Infrastruktur. Der Effekt der Kindergrundsicherung zur dauerhaften Vermeidung von Armutslagen wird eher bescheiden sein, wenn es nicht zugleich gelingt, den engen Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg zu lockern. Das gelingt nicht ohne eine befähigende soziale Infrastruktur.
Die Konkurrenz um Fachkräfte
Auch der Fachkräftemangel wird eine Prioritätenklärung erzwingen. Der Sozialbereich steht mit anderen Sektoren, die auch gesellschaftlich notwendige Arbeit leisten, in Konkurrenz um den Nachwuchs. Wäre dies mit höheren Löhnen im Sozialbereich zu lösen? Der Sozialbereich muss adäquat zu den geforderten Qualifikationen und Belastungen fair bezahlen - aber auch hier ist in letzter Zeit politisch viel bewegt worden. Es wird keine Lohnpolitik geben können, mittels derer der Sozialbereich andere Sektoren personell verdrängen kann. Der sich abzeichnende Personalmangel wird es auch erzwingen, auf einen zu hohen Grad von Einzelfallgerechtigkeit zu verzichten, wenn dieser nur mit personalaufwendigen Antrags- und Bewilligungsverfahren erfüllt werden kann.
Da eine Prioritätenklärung in der Sozialstaatsdebatte nicht oder ungenügend stattfindet, übersteigen die Erwartungen stets die staatliche Handlungsfähigkeit. Es ist ja nicht so, dass die Ampelregierung und die vier Kabinette Merkel sozialpolitisch untätig gewesen wären. Es hat in einigen Bereichen einen substanziellen Ausbau der staatlichen Leistungszusagen gegeben. Begleitet war er häufig von eher reflexartigen sozialverbandlichen Bewertungen, wobei es substanzielle Unterschiede zwischen Verbänden gibt. Der Duktus ist häufig, die Regierung springe zu kurz, es sei nur ein Tropfen auf einen heißen Stein. Die Regierung sei "einen Schritt in die richtige Richtung" gegangen, ist meist schon die Höchstform des erwartbaren verbandlichen Lobes. Damit tragen Sozial- und Wohlfahrtsverbände zu dem gängigen Niedergangsdiskurs bei.
Das ist gefährlich. Denn Nährboden des Rechtspopulismus sind das erodierende Vertrauen in die demokratischen Institutionen und die hohe Verunsicherung angesichts anstehender Veränderungen. Ein Niedergangsdiskurs, der sich von den Fakten entkoppelt, trägt dazu bei. Das verweist auf eine besondere Verantwortung auch für die Sozial- und Wohlfahrtsverbände, neu auszutarieren, wie sie Empathie, Nüchternheit und Faktentreue wieder besser zusammenbringen.
* Sein letztes Buch "Sozial ist, was stark macht. Warum Deutschland eine Politik der Befähigung braucht und was sie leistet" ist als Open-Source-Veröffentlichung verfügbar unter Kurzlink: https://tinyurl.com/5c5f3hrt
1. Bach, S.: Grunderbe und Vermögensteuern können die Vermögensungleichheit verringern. In: DIW Wochenbericht 50/2021, S. 808-815.