Wenn das religiöse Bindeglied verschwindet
Für die persönliche Religiosität und Spiritualität eines Menschen gilt: Das soziale Umfeld hat stets Einfluss. Darum sollte man bezogen auf das Verhalten eines Menschen immer beides im Blick haben: die Person selbst und ihre Umwelt, die von verschiedensten Faktoren wie Mitmenschen, Medien, Trends, Politik, und Kirche geprägt wird. Dies gilt auch für das Setting und Handeln von Angestellten in Diensten und Einrichtungen der Caritas oder Diakonie und ihr Verhalten in Sachen Religiosität beziehungsweise Spiritualität.
Zwei von drei Kirchenmitgliedern sind kritisch
Die sechste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) der EKD 20231 berichtet für den Erhebungszeitraum 2022 über die konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung in Deutschland, dass die Konfessionslosen mit 43 Prozent die größte Gruppe darstellen, gefolgt von 25 Prozent katholischen, 23 Prozent evangelischen und fünf Prozent nichtchristlichen, insbesondere muslimischen Bevölkerungsanteilen. Die Erhebung der "religiösen Bindungen" in der Bevölkerung ergab einen ähnlich großen Anteil von 56 Prozent für die "Säkularen", gefolgt von 25 Prozent "religiös Distanzierten" und 13 Prozent "Kirchlich-Religiösen". Die spirituell-religiös "Alternativen" kommen auf sechs Prozent. 68 Prozent der katholischen Befragten stehen der Kirche kritisch gegenüber oder sie bedeutet ihnen nicht viel; 65 Prozent sind das bei den evangelischen, während 13 beziehungsweise zwölf Prozent von ihnen sagen, dass sie keine Religion brauchen. Die "religiösen Bindungen" wirken sich erheblich im gemeinwohlorientierten ehrenamtlichen Engagement aus: Während 33 Prozent der "Säkularen" und 42 Prozent der "Alternativen" ein Ehrenamt ausüben, sind es immerhin 48 Prozent der "Distanzierten", aber 61 Prozent der "Kirchlich-Religiösen" - ein Befund, den zuvor andere Studien ähnlich, mit mehr Differenzierungen für Jugendliche und freiwillig Engagierte in verschiedenen sozialen Organisationen zeigten.2
Spiritualität ist mehr als Kirchenmitgliedschaft
Besondere Erwähnung verdient die "Würzburg-Studie"3, die sich den vielfältigen Spiritualitäten des Caritas-Personals im Bistum Würzburg empirisch angenähert hat. Diese Spiritualitäten favorisieren als Einstellungen Differenzakzeptanz statt Homogenisierungszwang; Dialog statt Dialogverweigerung; Anerkennung statt Abwertung; Aushandlung statt Anweisung; Verständigung statt Durchsetzung. Sie wollen nicht Uniformität, sondern bereichernde Vielfalt.
Allein die Konfessionszugehörigkeit von Menschen sagt in freien Gesellschaften, die religiös geprägt waren und immer säkularer wurden, noch nicht viel über ihre persönliche Religiosität und Spiritualität aus. Weiterhin ist die Unterscheidung von intrinsischer und extrinsischer Religiosität nützlich: Intrinsische Religiosität will den eigenen Glauben leben, während extrinsische den Glauben für eigene andere Zwecke (bewusst oder unbewusst) benutzt. Meist sind beide in einem Menschen durchmischt: Das gehört ebenso zu einer dynamischen Entwicklung hin zu mehr intrinsischer Religiosität (und in diesem Sinne zu mehr authentischer Spiritualität) wie die sogenannte "Quest-Orientierung", meint die religiöse Suche, die viele Menschen als wichtigen Aspekt in Sachen Glauben und Religion bezeichnen.
Was hier zu religionspsychologischen Grunderkenntnissen wurde, gilt ähnlich für Spiritualität: Verstehen sich Menschen als religionsungebunden oder als verbunden mit einer Religion und von ihr inspiriert? In jedem Fall sind Religiosität und Spiritualität auch deshalb nur schwer zu fassen, weil jeder Mensch sie persönlichkeitsspezifisch und damit individuell entwickelt und sich darin viele Motive, Ängste und Hoffnungen, Erfahrungen und Denkweisen durchmischen und lebensgeschichtlich verändern. Religionsungebundenen wie religionsverbundenen Spiritualitäten ist diese stets persönliche Gestaltung und biografische Prägung gemeinsam. Auch wo zum Beispiel zwei engagierte "kirchlich-religiöse" katholische Mitarbeiterinnen in der Caritas zusammenarbeiten, glauben sie trotz dieser Gemeinsamkeit doch auf je persönliche Weise anders - was ihren Glauben kognitiv, emotional, sozial oder im Verhalten angeht. Das ist im christlichen Kontext noch immer keine selbstverständliche Erkenntnis; selbst in der Theologie wird sie nicht durchgehend beachtet.
Auch interkulturelle Öffnung verlangt neue Ansätze
Nicht minder wichtig ist diese Erkenntnis im interkulturellen Kontext und von höchster Bedeutung, wo die Seelsorge, soziale Arbeit und Gesundheitsdienste mit Spiritual Care wirklich patienten- beziehungsweise personenorientiert (interkulturell) arbeiten wollen.4
Die hier zugrunde liegende Arbeitsdefinition von Spiritualität impliziert die Sehnsucht nach persönlicher Harmonie, Echtheit, Friedfertigkeit, Tiefe und Achtsamkeit - im Umgang mit sich, mit anderen und mit der Schöpfung; sie ist offen für Transzendenzerfahrungen und für das Geheimnis von Leben. Ein solches Verständnis von Spiritualität hebt vor allem auf die Dimension persönlicher und gegebenenfalls gemeinsamer Erfahrung ab, welche auch die Grundlage und Lebendigkeit einer jeden Religion und ihrer weiteren Dimensionen von Erzählungen und Lehre, Ritualen und Gemeinschaft sowie Ethos und Verhaltensregeln ausmacht.5
Spiritualität in der professionellen Arbeit der Caritas
Solche (spirituellen) Erfahrungselemente sind unter den Caritas-Mitarbeitenden vermutlich ein weit grundlegenderes positives Bindeglied als eine mehr oder weniger offiziell homogene Konfessionszugehörigkeit zur katholischen Kirche es je sein konnte, insbesondere als Teil von Loyalitätsobliegenheiten. Diese waren mit Anpassungsdruck und Sanktionen verbunden beziehungsweise sind es im Fall von Kirchenaustritt noch immer. Nicht nur dafür gilt: Anpassungszwang ist der größte Feind der inneren Freiheit. Wo hingegen "der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit" (2 Kor 3,17). Freiheit und Spiritualität bedingen und (ver-)stärken sich gegenseitig.
Die neue "Grundordnung des kirchlichen Dienstes" vom 22. November 2022 mit ihrem "institutionenorientierten Ansatz" trägt es den Diensten und Einrichtungen als Leitungsaufgabe auf, für die Dienstgemeinschaft allen Mitarbeitenden das religiös-spirituelle Ethos ihrer Organisation nahezubringen. Sie können dafür an deren spirituellen Erfahrungen ansetzen und vermutlich mit einem elementaren Glaubensverständnis der Mehrzahl der Mitarbeitenden rechnen, dass es im Christentum im Geist Jesu um einen Glauben geht, der in der (Nächsten-)Liebe tätig wird (Gal 5,6).
Den Menschenrechten und der Einrichtung verpflichtet
Die Fachkräfte in der Caritas sind dem Wohl der Klient:innen verpflichtet, aber auch dem Auftrag ihrer Einrichtung. Dieses Doppelmandat wurde ergänzt um ein drittes Mandat, nämlich die Verpflichtung im Ethos der sozialen Arbeit auf die Menschenrechte ("Menschenrechtsprofession").6 Sie kennen sich also mit Spannungen zwischen unterschiedlichen Aufträgen aus. Im Kontext von Diensten und Einrichtungen der Caritas kommt ausdrücklich das Mandat von deren Ethos in dieses Kräftefeld hinein: die Arbeit im Gesundheits- und Sozialwesen im Geist des christlich fundierten Ethos der Nächstenliebe zu tun, für die Klienten, aber auch untereinander in der Dienstgemeinschaft.
Umgekehrt haben die Leitungen der Caritas-Dienste und -Einrichtungen ihrerseits dieses Ethos zu leben, transparent zu machen, operativ und integrativ umzusetzen - auch mit der Frage, was die Mitarbeitenden brauchen, um ihre Arbeit in der Dienstgemeinschaft gut tun zu können. Was brauchen die Mitarbeitenden und was wollen sie - auch "spirituell" - als "caritas", um ihre Arbeit (mehr) im Licht dieses Ethos zu sehen und anzugehen, Erfahrungen zu sammeln, zu reflektieren und sich beruflich wie persönlich (spirituell) weiterzuentwickeln? Diese Aufgabe ist für die Caritas (und die Kirche) weit anspruchsvoller, aber auch verheißungsvoller, als nur auf formale Kirchenzugehörigkeiten zu setzen. Das war schon zuvor keine wirkliche Option. In den heutigen Konstellationen jedoch kann und muss sie auf neue Weise mit ihrer Aufgabe ernst machen, dass sie ein "Werkzeug" der Gottes- und Nächstenliebe, ein "Werkzeug […] für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit"7 sein will. Das ist eine Gestaltungsaufgabe, die sie Schritt für Schritt und Neuland erkundend nur zusammen mit allen verwirklichen kann, die bereit sind, mit ihr daran auch in einer säkulare(re)n Gesellschaft mitzuwirken, besonders für "die Armen und Bedrängten aller Art"8.
Der am 7. Februar 2024 in Paris im Alter von 99 Jahren verstorbene Publizist und gemäß Selbstauskunft Atheist, Alfred Grosser, sagte in seiner Rede am 8. Mai 2009 anlässlich einer Feier zum 60. Geburtstag des IB (Internationalen Bundes) im Frankfurter Römer: "Es geht heute nicht um den Kampf der Gläubigen gegen die Ungläubigen, sondern um den gemeinsamen Blick auf den leidenden Menschen."9 Ein solcher - empathischer - Blick ist zentral für das Ethos der Caritas.
1. https://kmu.ekd.de
2. Büssing, A.; Kerksieck, P.; Günther, A.; Baumann, K.: Altruism in adolescents and young adults: validation of an instrument to measure generative altruism with structural equation modeling (https://tinyurl.com/nc24-altruism). In: International Journal of Children’s Spirituality, 2013. Vgl. auch Büssing, A.; Baumann, K.; Bär-Mennigen, C.: Freiwilliges Engagement in sozialen Organisationen im Hinblick auf die Motive des Engagements, Erleben emotionaler Distanzierung (Cool Down) und Lebenszufriedenheit bei Menschen mit unterschiedlichen Indikatoren der Spiritualität. Spiritual Care 2023.
3. Ebertz, M. N.; Segler, L.: Spiritualitäten als Ressource für eine dienende Kirche. Die Würzburg-Studie, Würzburg: Echter, 2016.
4. Vgl. Gehrig, R. B.; Opatrný, M.; Birher, N.; Baumann, K. (Hrsg.): Spiritualität, Ethik und Soziale Arbeit, 2021, https://freidok.uni-freiburg.de/data/222666
5. Ich verwende hier das religionssoziologische Modell, das zurückgeht auf Glock, C. Y.; Stark, R.: Religion and society in tension. Chicago: Rand McNally, 1971.
6 . Vgl. Baumann, K.: Spiritualität der Klienten, Spiritualität der Sozialarbeiter und das Ethos der Organisationen in einem säkularen Zeitalter. In: Gehrig et al.: Spiritualität, Ethik und Soziale Arbeit, 2021, S. 119-134; https://freidok.uni-freiburg.de/data/222775
7. II. Vatikanisches Konzil: Dogmatische Konstitution über die Kirche "Lumen gentium", Nr. 1.
8. II. Vatikanisches Konzil: Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute "Gaudium et spes", Nr. 1.
9. www.internationaler-bund.de/news-details/article/alfred-grosser-hat-mich-gepraegt (zuletzt 25.4.2024).