Gewalt kennt kein Alter
Kann ein Mensch, der vulnerabel, pflegebedürftig und alt ist, vor Übergriffen geschützt werden? Können Pflegekräfte vor Übergriffen von zu Pflegenden oder Angehörigen geschützt werden? Wie die Antwort auf diese Fragen ausfällt, wird über die Zukunftsfähigkeit unserer Einrichtungen bestimmen.
Sexualisierte Gewalt in der Pflege ist vielfach mit Scham besetzt und wird oft totgeschwiegen. Dennoch erfährt das Thema zunehmend Beachtung: Eine Pflegekraft wird aufgefordert, in der häuslichen Pflege der zu pflegenden Person sexuelle Befriedigung zu ermöglichen; ein demenziell Erkrankter bittet um das Du in der Pflegebeziehung und fasst der Pflegekraft an die Brust; eine zu Pflegende mit geringen Deutschkenntnissen schildert Übergriffe eines männlichen Pflegers während der nächtlichen Betreuung; eine Pflegekraft schließt sich nachts mit der zu pflegenden Person im Zimmer ein; eine Auszubildende erlebt in der Waschsituation, dass ihre Anleiterin die Erektionsfähigkeit des Penis zum Thema macht mit den Worten: "Das ging früher auch mal besser, oder?". Dies sind Beispiele aus dem Pflegealltag, die deutlich machen, dass Gewaltschutz dringend erforderlich ist.
Sowohl das vom Bundesbildungsministerium geförderte Forschungsprojekt "PaRis - Pflege als Risiko" als auch das Präventionsprojekt "SeGEL" zur Prävention von sexueller/sexualisierter Gewalt in der Langzeitpflege in Kooperation mit der Deutschen Hochschule der Polizei - gefördert durch das Bundesfamilienministerium - machen die Dimension der Übergriffe und die Notwendigkeit des Gewaltschutzes sehr deutlich. Auch das Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) weist in einem Beitrag mit ausführlicher Literaturliste darauf hin und möchte ein Berichtssystem über kritische Vorkommnisse, genannt CIRS (Critical Incident Reporting System), auch für die Langzeitpflege entwickeln.1 Dieses Vorhaben ist sehr zu unterstützen. Auch die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) hat sich des Themas angenommen.
Was davon kommt tatsächlich in den Pflegeeinrichtungen an und kann umgesetzt werden?
DiCV Rottenburg-Stuttgart geht gegen Gewalt in der Pflege vor
Die punktuellen Erfahrungen der Anlaufstelle Gewaltschutz des Diözesan-Caritasverbandes Rottenburg-Stuttgart (DiCV RS) mit Übergriffssituationen in der Pflege machen deutlich:
Den Mitarbeitenden fehlt es zum einen an Sprachfähigkeit zur Thematik. Darüber hinaus mangelt es oft an Raum für eine intensivere Befassung - durch Zeitdruck, die Anforderungen in der täglichen Pflege und den Fachkräftemangel. Umso wichtiger erscheint es den Autorinnen, hier strukturell Orte im Alltagsbetrieb einzuführen, die ein Hinschauen ermöglichen.
Gewaltschutz ist eine Führungsaufgabe und muss in eine Organisationsentwicklung strukturell gut verwoben werden. Das bedeutet, dass die Leitung einer Einrichtung den Rahmen für eine Befassung vorgibt, indem sie zum Beispiel eine Präventionskraft einsetzt, Fortbildungen und Besprechungsformate festlegt, Einstellungs- und Qualifizierungsangebote regelt und Beschwerdewege einrichtet.
Vor diesem Hintergrund hat sich der DiCV RS entschieden, die Maßnahmen zum Gewaltschutz mit den Mitgliedern, die in der Pflege tätig sind, weiterzuentwickeln. Das gemeinsam erarbeitete Gewaltschutzkonzept thematisiert alle Gewaltformen und Übergriffe - sowohl solche durch Mitarbeitende wie auch solche gegen Mitarbeitende und unter den zu Pflegenden.2 Ein Bündel an Maßnahmen unterstützt die Umsetzung: etwa ein Fachtag für Mitarbeitende, eine Handreichung mit Materialien, die individuelle Beratung der Träger zur Umsetzung oder ein Qualitätszirkel Gewaltschutz mit Präventionskräften der Mitglieder, der die Weiterentwicklung fachlich begleitet.
Parallel wurde von Mitte März bis Mitte Mai eine Umfrage unter den Pflegeeinrichtungen gestartet, die diese einlud, die Umsetzung ihres Gewaltschutzes detailliert zu bewerten und Unterstützungsbedarfe zu formulieren. Die Umfrage will zum Thema sensibilisieren und bildet den Start eines dreijährigen Projekts "Gewaltschutz in der Pflege".
Film klärt auf in fünf Sprachen
Die vorhandenen Materialien des ZQP zum Gewaltschutz und die Unterlagen der BGW zu Aggression in der Pflege bieten viel Material, um das Thema in einer großen Tiefe anzugehen. Mit dem von verschiedenen Diözesan-Caritasverbänden entwickelten Sensibilisierungsvideo zu Gewaltsituationen in der Pflege steht jetzt ein circa zehnminütiges Einstiegsformat zur Verfügung, das auch mit fünf fremdsprachigen Untertitelungen entwickelt wurde und auf der Homepage des DiCV RS abgerufen werden kann.3 »
Als Aufgabe der Organisationsentwicklung ist Gewaltschutz eine die Kultur einer caritativen Einrichtung bestimmende Größe. Diese Haltung bei den Mitarbeitenden zu fördern und den Raum für eine entsprechende Kulturentwicklung zu öffnen: Das sind Schritte, die in einer zunehmend gewaltbereiten Gesellschaft Zukunft gestalten und von daher auch ein zivilgesellschaftliches Handeln befördern. Mitarbeitende, die zu jeder Form von Gewalt sprachfähig sind, die wissen, wo sie Hilfe finden, die ein gutes Gespür für von Gewalt betroffene oder auch traumatisierte Personen entwickelt haben, können die Einrichtungen in der Pflege so in die Zukunft führen, dass den zu Pflegenden und ihren Angehörigen nachhaltig geholfen ist und diese Qualität in der Pflege wirksam wird.
Praxisorientierte Handreichung in Passau entwickelt
Auch im Diözesan-Caritasverband Passau hat man sich mit der Notwendigkeit auseinandergesetzt, Gewaltschutzkonzepte in
der stationären Altenpflege zu entwickeln und umzusetzen. Ihr eigenes Schutzkonzept in der stationären Altenpflege zu entwickeln und zu implementieren stellt viele Einrichtungen vor große Herausforderungen. In Anbetracht der Komplexität dieser Aufgabe hat der DiCV Passau daher eine praxisorientierte Handreichung erarbeitet, die Einrichtungen dabei unterstützt, individuelle Schutzkonzepte zu entwickeln und umzusetzen. Übergeordnetes Ziel ist, dass Pflegeeinrichtungen sichere Umgebungen für ihre Bewohnerinnen und Bewohner bleiben oder werden.
Leitungskräfte müssen vorangehen
Die Pflegepraxis ist geprägt von einem Balanceakt zwischen Fürsorge und Respekt für die Autonomie der Bewohner:innen. Zugleich treffen in stationären Pflegeeinrichtungen Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Bedürfnissen aufeinander, was eine einfühlsame und achtsame Herangehensweise erfordert und die Bereitschaft aller, sich damit auseinanderzusetzen.
Eine zentrale Herausforderung bei der Implementierung eines Schutzkonzepts besteht darin, dieses in den Alltag zu integrieren. Hierbei spielen Leitungskräfte eine entscheidende Rolle, indem sie die Dringlichkeit des Vorhabens erkennen und ihr Team dazu motivieren. Der Träger der Einrichtung unterstützt seinerseits, indem er Ressourcen bereitstellt. Um das Schutzkonzept erfolgreich umzusetzen, wird in den Einrichtungen des DiCV Passau vor Ort eine Steuerungsgruppe etabliert, die wichtige Entscheidungen trifft und das Team einbindet. Zudem werden Mitarbeitende durch kurze Impulsveranstaltungen ermutigt, auch in schwierigen Situationen achtsam zu handeln. Die hier gewonnenen Erkenntnisse fließen in das Konzept ein.
Eine umfassende Gefährdungsanalyse, die alle Beteiligten einbezieht, dient dazu, den aktuellen Stand der Einrichtung in puncto Gewaltschutz zu ermitteln und weitere Handlungsfelder zu identifizieren. Die Ergebnisse der Analyse bilden die Grundlage für präventive Maßnahmen wie die Entwicklung eines Verhaltenskodex oder die Verbesserung von Anlaufstellen vor Ort.
Vertrauenspersonen sorgen für Transparenz
Dass der Prozess zur Erarbeitung des je eigenen Schutzkonzeptes transparent abläuft, wird durch die Ernennung von Vertrauenspersonen in den Wohnbereichen sichergestellt. Diese dienen als Ansprechpartner für Mitarbeitende, Bewohner:innen und Angehörige und werden entsprechend geschult und unterstützt. Die interdisziplinär besetzte Steuerungsgruppe koordiniert den Prozess und ist für die Kommunikation mit allen Beteiligten verantwortlich.
Fortlaufende Gespräche zwischen Leitungskräften und der Stabsstelle Prävention ermöglichen es, aktuelle Geschehnisse zu reflektieren und Lösungsansätze zu diskutieren. Zusätzlich werden grundlegende Überlegungen zur eigenen Haltung und Achtsamkeit in der Organisation angestellt, um ein Bewusstsein für Grenzsituationen zu schaffen. Gewalt findet nicht nur im interpersonalen Kontext statt, daher werden Verfahren, Routinen und die alltägliche Kommunikations- und Fehlerkultur in den Blick genommen.
Ziel der Maßnahmen ist, dass sich alle Beteiligten der Einrichtung - von den zu Pflegenden über die Pflegekräfte bis hin zu Angehörigen und Leitungskräften - wohl- und sicher fühlen. Die Schutzkonzepte müssen kontinuierlich weiterentwickelt und angepasst werden, um den sich wandelnden Anforderungen und Bedürfnissen gerecht zu werden und eine sichere Umgebung für ältere Menschen in stationären Pflegeeinrichtungen zu gewährleisten.
1. Eggert, S.; Teubner, C.: Prävention sexueller Gewalt in der Pflege; Sulmann, D.: Digitales Berichts- und Lernangebot in der Pflege. In: ZQP diskurs 2024, Kurzlink: https://tinyurl.com/nc24-zqp-praevention
2. https://tinyurl.com/nc24-dicvrs-praevention
3. Ebd.