„Eine Geborgenheitsblase, die trägt“
Der erste Eindruck des St.-Bernward-Krankenhauses in Hildesheim ist eine große Baustelle: In das neue Gebäude werden das Eltern-Kind-Zentrum, die Frauenklinik und die Zentrale Notaufnahme einziehen. Eine große Investition in die Zukunft der Klinik, die zum Elisabeth Vinzenz Verbund gehört. Es gibt vier Kreißsäle, jedes Jahr kommen hier etwa 1700 Babys zur Welt. Das Krankenhaus ist ein sogenanntes Perinatalzentrum Level eins. Nur hier dürfen auch Frühgeborene unter 1250 Gramm Aufnahmegewicht versorgt werden.
Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa und die neue Diözesan-Caritasdirektorin Marie Kajewski wurden am 30. April 2024 von der Geschäftsführerin des Krankenhauses, Karen Thiele, der Bereichsleitung Pflege, Maike Kanthak, sowie der Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit, Judith Seiffert, zum Praxisbesuch empfangen. Im Mittelpunkt standen an diesem Tag aber nicht die Bauvorhaben der Klinik, sondern die Babylotsin Ute Mordeja sowie Emma Bushin-Reimann, deren neugeborene Tochter noch auf der Neonatologie im Inkubator liegt. Eine knappe Stunde kann sie sich Zeit nehmen, um die Caritas-Delegation an ihren ganz persönlichen Erfahrungen teilhaben zu lassen.
Ihre Tochter Sophia wurde im März viel zu früh und mit geringem Geburtsgewicht geboren. Bis zum errechneten Geburtstermin im Juni muss sie noch in der Klinik bleiben. Per Kaiserschnitt wurde das Baby entbunden, weil die Mutter in der 27. Schwangerschaftswoche schwer erkrankte. Auch der erste, inzwischen vierjährige Sohn Vallen war ein Frühchen gewesen. Nicht nur die Geburtssituation, vor allem die Zeit nach der Entlassung mit dem Neugeborenen hat die Familie Bushin-Reimann damals psychisch stark belastet: "Nach zwei Wochen wurden wir entlassen und hatten überhaupt keinen Halt. Wir sollten einen Babykurs besuchen - doch da sieht man die anderen Babys, die sind alle riesig und können alles Mögliche. Wir hatten keine kleinen Babysachen. Wir standen alleine da." Als nun auch das zweite Kind ganz plötzlich und sogar noch früher geholt wurde, schien sich für die junge Familie ihre traumatische Erfahrung zu wiederholen. Aber: Im St. Bernward Krankenhaus gibt es eine Babylotsin. Und die machte für die junge Familie den entscheidenden Unterschied.
Gemeinsam überlegen, welche Hilfen gebraucht werden
Ute Mordeja ist seit über 27 Jahren Hebamme, vor zwei Jahren hat sie die Weiterbildung zur Babylotsin absolviert. Mit einem Stellenanteil von 50 Prozent ist sie eine von zwei Babylotsinnen am St. Bernward Krankenhaus. Zusätzlich arbeitet sie freiberuflich als Familienhebamme. Noch bevor Sophia zur Welt kam, lernte sie Emma Bushin-Reimann kennen, konnte gemeinsam mit ihr überlegen, welche Hilfen es braucht und diese organisieren - nicht erst nach der Entlassung. Ein großes Thema beispielsweise ist die Entlastung des voll erwerbstätigen Vaters durch eine Haushaltshilfe, ein Dienst für Familien, von deren Existenz die Bushin-Reimanns gar nichts wussten. Eine Familien-Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin unterstützt die Familie schon in der Klinik und wird die Eltern nach der Entlassung im Rahmen der Frühen Hilfen zu Hause begleiten. Am St. Bernward Krankenhaus gibt es auch eine Krankenschwester, die Emotionelle Erste Hilfe (EEH) leistet und eine psychologische Beratung für Eltern anbietet.
2019 gab es die ersten Babylotsinnen im St. Bernward Krankenhaus, zunächst finanziert über eine Projektförderung. Am Anfang war der örtliche Caritasverband Anstellungsträger. Heute sind die Babylotsinnen ein festes Angebot der Klinik. Diese Struktur hat sich bewährt, weil die Tätigkeit einer externen Fachkraft in der Klinik viele Datenschutzprobleme aufwirft - im Kontakt mit den Schwangeren, den Patientenakten, der Zusammenarbeit mit dem Sozialdienst.
"Die Zuständigkeitsdiskussionen müssen ein Ende haben"
Das St. Bernward Krankenhaus finanziert seine Babylotsinnen ausschließlich aus Eigenmitteln. Das ist für viele Kliniken aber nicht zu stemmen und steht einer Implementation dieses Angebots häufig entgegen. Obwohl Babylotsen anerkannt und wissenschaftlich belegt die Gesundheit der gesamten Familie unterstützen und die Chancen des Aufwachsens insbesondere für sozial benachteiligte Kinder verbessern, gelingt
es seit Jahren nicht, sich auf eine gesicherte Regelfinanzierung zu einigen: "Viel zu lange wurde die Frage ihrer Regelfinanzierung wie ein heißes Eisen zwischen der Gesundheits- und der Jugendhilfe hin- und hergereicht. Diese Zuständigkeitsdiskussionen müssen eine Ende haben. Wir brauchen eine gesetzliche Regelung, die die Finanzierung endlich absichert", so Eva Maria Welskop-Deffaa. Im Juni 2024 tagt die Gesundheitsministerkonferenz in Lübeck/Travemünde. Es wird darauf ankommen, dass sich die Landesgesundheitsminister:innen auf einen Finanzierungsvorschlag für die Babylotsen verständigen, der dann - so ist zu hoffen - auch in ein Gesetzgebungsverfahren mündet.
Babylotsinnen unterstützen nicht nur, wenn ein Kind wie Sophia zu früh, krank oder mit einer Behinderung zur Welt kommt. Häufig gibt es Probleme mit der Geburtsurkunde oder der Vaterschaftsanerkennung, der Suche nach einer Hebamme oder einem Kinderarzt, dem Elterngeld, oft gibt es Sprachbarrieren. Ganz wichtig ist die Babylotsin, wenn Mütter psychisch oder suchterkrankt sind, von Armut betroffen oder wenn es Gewalt in der Familie gibt. Die sogenannten "Anhaltsbögen", die alle Schwangeren beim Aufnahmegespräch in der Klinik ausfüllen, erfragen gezielt diese psychosozialen und gesundheitlichen Belastungsfaktoren, um frühzeitig die passgenaue Unterstützung gemeinsam mit den Eltern zu finden. Sie sind ein wichtiges Instrument, um systematisch und frühzeitig Hinweise zu entdecken, dass das Baby Risikofaktoren in der Familie ausgesetzt sein könnte. Im St. Bernward Krankenhaus kooperieren die Babylotsinnen in sogenannten Kinderschutzfällen mit dem Sozialdienst. Er entscheidet, wenn eine Mutter mit ihrem Kind nicht entlassen werden kann und das Jugendamt eingeschaltet werden muss. Diese Trennung der Zuständigkeiten bildet für die Babylotsin einen wichtigen Schutz und gewährleistet das Vertrauen der Familien in eine nicht kontrollierende Hilfe.
Der richtige Zeitpunkt, um Eltern zu erreichen
Die meisten Kinder werden im Krankenhaus geboren. Ute Mordeja erklärt: "Das ist eine sehr sensible Phase. Später erreichen wir die Mütter eher nicht mehr, die Eltern melden sich nach Entlassung nur selten." Auch Emma Bushin-Reimann hat diese Erfahrung gemacht: "Zu Hause, wenn man verzweifelt ist, dann weiß man ja nicht, wohin. Und man ist zu fertig, hat vielleicht noch ein zweites Kind. Wenn in der Klinik jemand auf einen zukommt, dann muss man niemanden mehr suchen." Zwar ist das Angebot an Frühen Hilfen inzwischen recht gut ausgebaut - aber es ist für Schwangere und frischgebackene Mütter und Väter noch immer nicht ganz einfach, sich darin zurechtzufinden.
Emma Bushin-Reimann beschönigt nichts: Seit fünf Wochen übernachtet sie in der Klinik bei ihrer Tochter. Der kleine Sohn ist morgens im Kindergarten, die Mama holt ihn ab, ansonsten wuppt der Vater Haushalt und Kind. Das Familienleben sei anstrengend, so wünsche sich das keine Mutter. Und Sophias gesundheitliche Situation sei schwieriger als die ihres Sohnes. Aber trotzdem gehe es ihr gut, weil sie durch die Unterstützung der Babylotsin eine Richtung bekam: "Und diese Richtung gibt uns Halt. Wir sind jetzt in eine Geborgenheitsblase gehüllt, und die trägt uns. Und wenn wir mit so einem kleinen Baby heimkommen, dann wissen wir, an wen wir uns wenden können."
Finanzierung
Gesundheitsminister:innen beraten über Konzept
Die Gesundheitsministerkonferenz (GMK) diskutiert voraussichtlich am 12. und 13. Juni über einen Vorschlag zur Finanzierung der Lotsendienste. Der DCV setzt sich mit seinen Kooperationspartnern "SeeYou" und "Auridis" seit Jahren für eine gesetzliche Verankerung der Babylotsen auf Bundesebene ein. Es wird höchste Zeit, dieses wichtige präventive Angebot endlich auf eine solide Grundlage zu stellen und auszubauen.