Reformvorschläge für Menschen mit Behinderung
"Gute Leistung! Gutes Geld!" - Dafür demonstrierten am 24. Mai 2023 rund 1500 Beschäftigte aus Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) aus ganz Deutschland vor dem Bundestag in Berlin. Dazu aufgerufen hatte die Bundesvereinigung Werkstatträte Deutschland.
Nach der Statistik zur Rentenversicherung von Menschen mit Behinderung arbeiteten im Jahr 2021 rund 290.000 Menschen mit Behinderungen in einer WfbM. Dabei handelt es sich nicht um Erwerbsarbeit, sondern um Teilhabe am Arbeitsleben für Menschen mit Behinderung, die voll erwerbsgemindert sind. Der Rehabilitationscharakter der Einrichtungen spiegelt sich auch im Entgeltsystem und der Einkommenssituation der Beschäftigten wider.
In den letzten Jahren ist die Kritik am Entgeltsystem in den Werkstätten gewachsen. Mit der Einführung des Mindestlohns in Deutschland im Jahr 2015 kam die Diskussion auf, warum Beschäftigte in Werkstätten keinen Mindestlohn erhalten. Neben der Höhe des Arbeitsentgeltes gibt es Kritik in Bezug auf Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Zusammensetzung des Entgelts.
Nach einem Beschluss des Bundestages im Jahr 2019 hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) eine "Studie zu einem transparenten, nachhaltigen und zukunftsfähigen Entgeltsystem für Menschen mit Behinderungen in Werkstätten für behinderte Menschen und deren Perspektiven auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt" in Auftrag gegeben. Im Koalitionsvertrag haben sich die Parteien der Ampelkoalition darauf verständigt, die Erkenntnisse dieser Studie umzusetzen. Dies hat die Erwartungen an eine deutliche Verbesserung der Einkommenssituation gesteigert.
Entgeltstudie zeigt: Lohnkostenzuschuss muss steigen
Seit September 2023 liegt der Abschlussbericht der Entgeltstudie vor. Danach lag das durchschnittliche monatliche Entgelt eines Beschäftigten im Arbeitsbereich einer Werkstatt im Jahr 2019 bei 225 Euro. Es setzt sich zusammen aus drei Komponenten: dem Grundbetrag, einem Steigerungsbetrag und dem Arbeitsförderungsgeld (AFöG).
Der Grundbetrag ist ein Mindestentgelt, das jede:r Beschäftigte erhält. Er ist seit 2019 kontinuierlich gestiegen und liegt aktuell bei 126 Euro im Monat. Neben dem leistungsunabhängigen Grundbetrag zahlen die Werkstätten den Beschäftigten einen leistungsabhängigen Steigerungsbetrag. Dieser wird zusammen mit dem Grundbetrag aus dem Arbeitsergebnis gezahlt, das von der Werkstatt erwirtschaftet werden muss. Die genauen Leistungs- und Verteilungskriterien regeln die Werkstätten in Entgeltordnungen, an denen die Werkstatträte mitwirken.
Neben dem Grund- und dem Steigerungsbetrag erhalten die Beschäftigten ein Arbeitsförderungsgeld, kurz AFöG. Dieses wird vom zuständigen Rehabilitationsträger an die Werkstätten gezahlt. Das AFöG liegt aktuell bei 52 Euro.
Die finanzielle Lage der Beschäftigten hängt davon ab, welche weiteren Leistungen sie beziehen. 50 Prozent der Beschäftigten erhalten nach der Entgeltstudie eine Erwerbsminderungsrente, und 42 Prozent beziehen Leistungen der Grundsicherung, teilweise ergänzend zu einer Erwerbsminderungsrente.
In der Entgeltstudie werden verschiedene Vorschläge für eine Reform des Entgeltsystems vorgestellt und bewertet. In den Handlungsempfehlungen sprechen sich die Forschenden für "einen am Mindestlohn orientierten Lohnkostenzuschuss" aus. Umso größer die Enttäuschung bei Beschäftigten und Werkstatträten, als das Bundesministerium bei einem "strukturierten Verbändedialog" im Herbst 2023 lediglich eine Erhöhung des Arbeitsförderungsgeldes (AFöG) um circa 25 Euro sowie eine Verbesserung der Anrechnung des Einkommens aus der Werkstattbeschäftigung auf die Grundsicherung vorschlug.
Wie geht es nun weiter? Kurz vor Ostern 2024 hat das BMAS einen "Aktionsplan für Übergänge aus den Werkstätten für behinderte Menschen auf einen inklusiven Arbeitsmarkt" vorgelegt. Im Aktionsplan werden Ziele und Maßnahmen mit einer kurz-, mittel- beziehungsweise langfristigen Perspektive benannt. Offen bleibt im Aktionsplan, wie die Entlohnung der Beschäftigten in Zukunft aussehen soll. Hier wird lediglich festgestellt, dass die verschiedenen Vorschläge noch ausführlicher diskutiert werden müssten. Ein künftiges Lohnsystem soll zu einer höheren Entlohnung führen und transparenter sein. Gleichzeitig soll das Lohnsystem der Durchlässigkeit zum allgemeinen Arbeitsmarkt nicht entgegenstehen. Damit scheint das BMAS auch in Zukunft keinen Mindestlohn für WfbM-Beschäftigte anzustreben.
Teilhabegeld würde Einkommen auf auskömmliches Niveau heben
Hier würde sich das Modell des Bundesverbands Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) des "Teilhabegeldes" anbieten. Das Modell lehnt sich an den Vorschlag der Entgeltstudie zur Vergütung der Beschäftigung mit 15 Wochenstunden Mindestlohn an. Nach dem CBP-Vorschlag würde das "Teilhabegeld" das Arbeitsförderungsgeld ersetzen. Der bisherige Grundbetrag entfällt. Weiterhin bleibt die Werkstatt verpflichtet, ein leistungsangemessenes Werkstattentgelt (Steigerungsbetrag) zu zahlen. Das "Teilhabegeld" bietet die Chance, dass Beschäftigte mit einer Vollzeitbeschäftigung in der Werkstatt zusammen mit dem Steigerungsbetrag unabhängig von der Grundsicherung werden können. Dies ist aus Sicht vieler Werkstattbeschäftigter ein zentrales Ziel einer Reform des Entgeltsystems.
Nach dem Vorschlag bemisst sich das "Teilhabegeld" bei einer Vollzeitbeschäftigung in der Werkstatt (Beschäftigungszeit von 35 bis 40 Wochenstunden gemäß § 6 WVO) an der Vergütung von 15 Wochenstunden Mindestlohn. Somit ergibt sich ein monatlicher Betrag von 809 Euro.
Weiterhin bleibt die Werkstatt verpflichtet, einen leistungsangemessenen Steigerungsbetrag nach § 221 Abs. 2 SGB IX zu zahlen, der von der Werkstatt erwirtschaftet wird. Aus dem Arbeitsergebnis haben die Werkstätten laut Entgeltstudie zuletzt ein durchschnittliches Entgelt von 178 Euro monatlich gezahlt (ohne AFöG). Zusammen mit dem "Teilhabegeld" ergäbe sich also ein mittleres Einkommen von rund 987 Euro. Als steuerfinanzierte Leistung sollte das "Teilhabegeld" sozialversicherungsfrei gestellt werden. Dann läge das durchschnittliche Werkstattentgelt etwa auf dem Niveau des heutigen Bürgergeldes (Regelbedarf sowie Wohn- und Heizkosten).
Eine regelmäßige Anhebung des Einkommens ist gewährleistet
Der Vorschlag zur Vergütung von 15 Wochenstunden Mindestlohn orientiert sich an dem Kriterium der vollen Erwerbsminderung. Danach besteht unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ein maximales Leistungsvermögen von drei Stunden am Tag. Da WfbM-Beschäftigte die Voraussetzungen der dauerhaften vollen Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 2 SGB VI erfüllen, liegt die Bezugnahme hierauf nahe. Durch die Orientierung des "Teilhabegeldes" am Mindestlohn ist zudem eine regelmäßige Anhebung des Einkommens gewährleistet.
Da es beim Steigerungsbetrag eine große Spreizung zwischen den Beschäftigten und den Werkstätten gibt, würde sich auch die Einkommenssituation sehr unterschiedlich darstellen. In jedem Fall böte das Modell aber die Chance, dass zahlreiche Beschäftigte von der Grundsicherung unabhängig werden könnten. Beschäftigte mit einer geringen Leistungsfähigkeit oder in Teilzeit hätten zudem weiter Anspruch auf ergänzende Grundsicherung und wären damit wirtschaftlich abgesichert. Das "Teilhabegeld" kann also ein geeignetes Modell für ein zukunftsfähiges Entgeltsystem sein.