Raus aus dem Krisentunnel
Die deutsche Gesellschaft ist im Krisenmodus. Während die Preise weiter steigen und in der Politik über die richtigen Maßnahmen diskutiert wird, gewinnen Rechtspopulisten an Zustimmung in den Umfragen. All das ist ein großer Stresstest für die Bevölkerung sowie für politische und zivilgesellschaftliche Akteure. Bereits seit 2019 untersucht More in Common, eine internationale gemeinnützige Organisation, die sich mit dem Thema gesellschaftlicher Zusammenhalt beschäftigt, regelmäßig, wie es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland steht, wo Spaltungslinien verlaufen und welche Ansätze zur Stärkung des Zusammenhalts wirksam sind. Ihre Studie "Zukunft, Demokratie, Miteinander: Was die deutsche Gesellschaft nach einem Jahr Preiskrise umtreibt" zeigt: Die Menschen sind unzufrieden. 68 Prozent der Befragten geben an, dass sie sich von der Politik alleingelassen fühlen; nur 24 Prozent finden, dass die Politik die wichtigen Themen angeht; 79 Prozent haben das Gefühl, sie leben in einer Gesellschaft, in der sich jeder um sich selbst kümmert.
Diese Erkenntnisse sind keine leichte Kost. Es stellt sich die Frage: Was nun? Wie können Zivilgesellschaft und Demokratie stärker mit einer derart pessimistischen Grundstimmung umgehen? Welche Ansatzpunkte gibt es?
Um aktuelle gesellschaftliche Dynamiken besser einordnen zu können, ist es hilfreich zu verstehen, welche unterschiedlichen Sichtweisen es in Deutschland auf die Gesellschaft gibt. In der Grundlagenstudie von More in Common "Die andere deutsche Teilung" aus dem Jahr 2019 wurden sechs gesellschaftliche Typen identifiziert, die sich in ihren Werten, ihren Grundüberzeugungen und in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft unterscheiden. Aus diesen sechs Typen ergibt sich eine Dreiteilung der deutschen Gesellschaft (s. Abbildung).
Der Krisenzustand nagt an der zivilgesellschaftlichen Basis
Bisher sind es vor allem die gesellschaftlichen Stabilisatoren, die "Involvierten" und "Etablierten", die die Demokratie mit ihrem starken Grundvertrauen und ihren bürgerschaftlichen Normen maßgeblich im Lot halten. Die neue, aktuelle Studie lässt jedoch aufhorchen, denn sie stellt eine Verschiebung in der Gesellschaft fest. Die Unzufriedenheit, die bisher vor allem beim "unsichtbaren Drittel" und den "Wütenden" zu sehen war, wächst auch bei "Involvierten" und "Etablierten". Blickt man auf das Ungerechtigkeitsempfinden, ist zu erkennen, dass vormals im Wesentlichen "Enttäuschte" und "Wütende" die Gesellschaft als eher ungerecht wahrnahmen. In den vergangenen zwei Jahren jedoch sind die anderen Typen nachgezogen. Insgesamt finden 80 Prozent der Befragten, dass es derzeit eher ungerecht in Deutschland zugeht. Diese Zahlen verdeutlichen, dass der fortwährende Krisenzustand auch an der zivilgesellschaftlichen Basis nagt. Eine Verschiebung ist auch beim Zusammenhaltsempfinden zu sehen. So geben 60 Prozent Menschen an, dass sie die deutsche Gesellschaft als eher gespalten wahrnehmen. Am stärksten wird die Spaltung entlang der Trennlinie zwischen Arm und Reich empfunden (von 64 Prozent genannt) - mit nur sehr geringen Abweichungen zwischen den Typen. Das zeigt, dass die Inflation die Ungleichheiten in der Gesellschaft auch für die grundsätzlich zufriedeneren Typen sicht- und spürbar gemacht hat. Die breite Auseinandersetzung mit Gerechtigkeitsaspekten, Fragen des sozialen Ausgleichs und der Absicherung sind aktuell zentrale, potenziell einende Motive für die zukünftige Gestaltung des Landes.
Die Bindekräfte stärken
Was gilt es angesichts dieser komplexen und teils bedrückenden gesellschaftlichen Grundstimmung zu tun? Der sich derzeit verschärfende kritische Blick auf Politik und Gesellschaft ist ein Symptom schwindender gesellschaftlicher Bindekräfte, die es jetzt wieder zu stärken gilt. Im Kern geht es dabei um Vertrauen, Bürgerwirksamkeit und Zukunftsperspektiven, die nicht erst durch die Preiskrise gelitten haben.
Vertrauen als wichtige und demokratische Bindekraft: Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist sowohl das Vertrauen in die Mitmenschen als auch das Vertrauen in (politische) Institutionen zentral. Die Forschung zeigt, dass das Vertrauen bei Menschen aus dem "unsichtbaren Drittel" grundsätzlich geringer ausgeprägt ist als bei den "gesellschaftlichen Stabilisatoren". Dieses Vertrauensdefizit ist einer der wesentlichen Gründe dafür, dass Menschen der Gesellschaft den Rücken zukehren. Den Kernbefund einer an vielen Stellen von Misstrauen geprägten Gesellschaft zu erkennen und die Stärkung von Vertrauen - zwischenmenschlich und institutionell - als elementaren Teil der eigenen Arbeit zu betrachten ist aktuell eine zentrale gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Für den Zusammenhalt ebenso wichtig ist das Empfinden von Bürgerwirksamkeit. Damit ist das Gefühl gemeint, durch die eigenen Entscheidungen und Handlungen Einfluss auf die Gesellschaft nehmen zu können. Diese Empfindung ist in den letzten Jahren gesunken. Derzeit glauben nur noch 41 Prozent (vgl. 57 Prozent 2019), dass Bürgerinnen und Bürger die Gesellschaft verändern können. In einer Demokratie, die auf die aktive Beteiligung ihrer Bürger:innen angewiesen ist, kann dies langfristig zu einem Problem werden, denn die Menschen sehen aus diesem Gefühl der Ernüchterung heraus keinen Mehrwert darin, sich einzubringen. Zivilgesellschaftliche und politische Angebote sollten es zu einer Priorität machen, das Gefühl von Bürgerwirksamkeit zu adressieren.
Ein dritter Aspekt ist die Schaffung verbindender Zukunftsperspektiven: Menschen brauchen positive (Leit-)Bilder und Erzählungen einer Zukunft für das Land, um zu erkennen, worauf politische und zivilgesellschaftliche Akteure mit den zahlreichen Veränderungsmaßnahmen aktuell hinarbeiten. 73 Prozent der Menschen stimmen der Aussage zu: "Mir fällt es angesichts der vielen Krisen derzeit schwer, an eine bessere Zukunft zu glauben." Dieses Gefühl von mangelnder Zuversicht gilt es umzukehren, denn die Menschen in Deutschland wünschen sich grundsätzlich gemeinsame Visionen. Attraktive und positive Zielbilder sind nötig, mit denen die Menschen im Land sich identifizieren können und die sie zuversichtlicher in die Zukunft blicken lassen.
Zivilgesellschaftliche Akteure als Vertreter und Mitgestalter
Es bleibt die Frage, wie Akteure diese Aspekte in ihrer Arbeit konkret aufgreifen können. Eine zentrale Aufgabe für die Zivilgesellschaft ist es, den Kontakt zu den Menschen gerade in Krisenzeiten zu halten und ihre akuten Bedarfe und Probleme in den Blick zu nehmen. Die Studie zeigt, dass viele Menschen in Deutschland derzeit vor allem "Brot-und-Butter"-Themen beschäftigen, wie die hohen Lebenshaltungskosten, bezahlbarer Wohnraum und Alterssicherung. Lebensweltnahe Themen, Empfindungen und Bedürfnisse in der Ansprache und Arbeit mit den Menschen aufzunehmen, unterstützt, dass Menschen sich in den Angeboten wiederfinden, sie Vertrauen aufbauen und Gefühle von Wirksamkeit entwickeln können. Dafür braucht es nicht zwingend ein kreatives, innovatives oder zu sehr auf Aktivierung und Beteiligung ausgelegtes Veranstaltungskonzept; stattdessen ist es vielen Menschen wichtiger, wenn sie beiläufig bei einem Kaffee über Themen sprechen können, die sie umtreiben, und sie sich in ihrer Lebenslage gesehen und repräsentiert, verbunden und ernst genommen fühlen.
Engagierte vor Ort sind wichtige Partner
Entsprechend können zivilgesellschaftliche Organisationen für die Menschen ein wahrhaftiger Ansprechpartner sein sowie ein Akteur, der das Bedürfnis der Menschen nach Verbesserungen in verschiedenen Bereichen ernst nimmt. Es sind insbesondere lokal verankerte zivilgesellschaftliche Akteure und engagierte Personen, die ein gutes Gespür für die Herausforderungen, Wünsche und Bedarfe der Menschen haben. Dies macht sie zu einem guten Partner der Menschen in der Einforderung ihrer Bedürfnisse, ihrer Vertretung und in der Mitwirkung an programmatischen Veränderungen und positiven Zukunftsentwürfen für das Land.
Quellen
www.dieandereteilung.de
www.moreincommon.de/krisengesellschaft
www.moreincommon.de/werkstatt
Typen in der deutschen Gesellschaft
Von "Etablierten" und "Unsichtbaren"
Während die gesellschaftlichen Pole, bestehend aus den "libertären Offenen" und den "geschlossen-nationalistischen Wütenden", sich in ihren Ansichten konfrontativ gegenüberstehen, gibt es gesellschaftliche Stabilisatoren: die "Involvierten" und die "Etablierten". Diese beiden Typen zeichnen sich durch ein starkes Empfinden von Bürgerwirksamkeit, eine positive Haltung gegenüber der Demokratie sowie eine starke Einbindung in die Gesellschaft aus. Sie gehen am häufigsten wählen und sind am besten für zivilgesellschaftliche Arbeit erreichbar. Darüber hinaus existiert jedoch auch ein Teil der deutschen Gesellschaft, der sich überhört und übersehen fühlt. Das "unsichtbare Drittel", bestehend aus "Pragmatischen" und "Enttäuschten", hat sich ein Stück weit von der Gesellschaft abgewandt - jedoch aus unterschiedlichen Gründen. Bei den "Pragmatischen", dem im Durchschnitt jüngsten Segment, sind es die fehlenden Anknüpfungspunkte von gesellschaftspolitischen Debatten mit ihrer eigenen Lebensrealität. Die "Enttäuschten" tragen ein starkes Gerechtigkeitsbedürfnis in sich, das sie in dieser Gesellschaft nicht erfüllt sehen. Dies führt dazu, dass sich diese zwei Typen der politischen Öffentlichkeit sowie häufig auch zivilgesellschaftlichen Angeboten entziehen. Das macht sie zu einer herausfordernden, jedoch gleichzeitig zentralen Zielgruppe demokratiefördernder Initiativen.