Ausbildung als Baukasten
Jeder Mensch ist anders - und jeder Mensch hat Stärken, die er in die Gemeinschaft einbringen kann. Zugleich hat jede und jeder das Recht auf Bildung und Arbeit, um gesellschaftlich teilhaben, mitbestimmen und mitgestalten zu können. So jedenfalls versteht man Inklusion bei "Antonius", einem Netzwerk aus Fulda. Hier können sich Menschen mit Behinderungen gezielt für einen Arbeitsplatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt qualifizieren. Möglich machen das sogenannte Ausbildungsbausteine.
Ausbildungsbausteine sind standardisierte Teilqualifikationen, die immer aus Voll- und Fachpraktikerausbildungen und deren Ausbildungsrahmenplänen abgeleitet sind. Solch ein Baustein kann zum Beispiel das "Waschen, Schälen und Schneiden von Gemüse" sein.
Externe Beratende - etwa Firmen, Kammern oder Verbände - prüfen vorab die Arbeitsmarktrelevanz jedes Bausteins. Die Prüfungen werden durch offizielle Prüfer der zuständigen Kammern oder Mitglieder der zugehörigen Verbände abgenommen (zum Beispiel Deutscher Hotel- und Gaststättenverband). Jeder Baustein hat nach Abnahme einen eigenen Ausbildungsrahmenplan. Regelmäßig finden Evaluationen zu Inhalt, Arbeitsmarktrelevanz und Anwendbarkeit statt.
2011 und 2012 hat "Antonius" erste Ausbildungsbausteine im Zuge eines Modellvorhabens des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz gemeinsam mit dem Forschungsinstitut für biologischen Landbau entwickelt. Die Bausteine wurden vom Landesbetrieb Landwirtschaft Hessen (LLH) abgenommen, der für Ausbildung in der Landwirtschaft in Hessen zuständigen Behörde. 2013 wurde ein Verfahren zur Erstellung von Ausbildungsbausteinen und deren Zertifizierung durch "SocialCert" implementiert.
Es gibt ein zertifiziertes Verfahren
Der Prozess von der Entwicklung der Ausbildungsbausteine über deren Evaluation bis hin zur Vergabe von Zertifikaten und Zeugnissen unterliegt detaillierten Verfahrensanweisungen und wird jährlich intern und extern auditiert. Dies erhöht die Einschätzbarkeit von Fertigkeiten und Kenntnissen für Arbeitgeber und garantiert eine bessere Entscheidungsgrundlage für Einsatzmöglichkeiten in Betrieben. Auszubildende profitieren durch die damit verbundene Steigerung des Selbstwertgefühls sowie der Vermittlung von fachspezifischen Kompetenzen und Fähigkeiten. Das erhöht ihre Chancen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.
Das einheitliche Verfahren sichert nicht nur die Entwicklung der Bausteine auf der Grundlage von festgelegten Standards, sondern auch Vergleichbarkeit und Wiederholbarkeit. Ferner garantiert es die Übertragbarkeit auch auf andere Einrichtungen.
Die Rolle der Bauleiterin oder des Bauleiters
Zuständig für die Entwicklung eines Ausbildungsbausteins (AB) ist die Bauleiterin oder der Bauleiter. Diese Person klärt mit externen Partnern die Arbeitsmarktrelevanz und informiert alle Beteiligten über das Vorhaben. Sie legt fest, an welchem anerkannten Ausbildungsberuf sich der AB orientiert, benennt Eckpunkte des AB und die Qualifikation der Ausbildenden. Die Bauleiterin oder der Bauleiter entwickelt den Titel des AB (zum Beispiel "Melker:in"), dokumentiert den Prozess und klassifiziert den AB in eine von drei möglichen Qualifizierungsstufen (siehe Grafik links).
Ausbildungsinhalte und deren Abnahme
Die im Ausbildungsbaustein festgelegten Inhalte und Ziele leiten sich aus Inhalten und Zielen eines anerkannten Ausbildungsberufes ab: Fertigkeiten werden beschrieben, die der Auszubildende am Ende der Qualifizierung beherrschen muss. Die zu vermittelnden (Ausbildungs-)Inhalte sind so angelegt, dass sie für den beschriebenen Personenkreis erreichbar sind. Der zeitliche Umfang ist festgelegt, in dem die Inhalte des Ausbildungsbausteins vermittelt werden, und die Arbeitsmarktrelevanz ist geprüft. Es wird festgelegt, wie die erwartete und geforderte Leistung überprüft wird (zum Beispiel Arbeitsprobe oder Prüfungsgespräch). Alle Eckpunkte werden im "Formblatt Ausbildungsbaustein" dokumentiert und bei der Abnahme geprüft und verabschiedet.
Nach abgeschlossener Entwicklung wird der Ausbildungsbaustein in einem gemeinsamen Termin vorgestellt. Daran nehmen Geschäftsführung und/oder Abteilungsleitung, Bauleiterin oder Bauleiter und Qualitätsbeauftragte teil. Ab Qualifizierungsstufe drei sind zusätzlich Innungsvertreter sowie Vertreter der Industrie- und Handelskammer (IHK), des LLH oder die Kreishandwerkerschaft zur Beratung anwesend. Verbesserungsvorschläge werden eingearbeitet, der Baustein wird gemeinsam verabschiedet und unterschrieben. »
Um den Prozess der Entwicklung ständig zu überprüfen und zu verbessern, wird nach Durchführung und Prüfung des Ausbildungsbausteins von einer Bauleiterin oder einem Bauleiter ein Fragebogen zur Evaluation ausgefüllt, der Auskunft über die Qualität in der Vermittlung und Prüfung sowie über notwendige Korrekturen bei der Entwicklung gleichartiger Bausteine gibt.
Prüfung, Zertifikate und Urkunden
Der Lernerfolg wird in einer Prüfung festgestellt. Diese kann im Anschluss an den Ausbildungsbaustein, spätestens jedoch am Ende des jeweiligen Ausbildungsjahres stattfinden. In jedem Baustein sind die Prüfungsmodalitäten festgelegt (praktische und/oder mündliche Prüfung, Verlaufsbeobachtung), mit denen jeder Baustein abschließt. Das Verfahren zur Erteilung von Zertifikaten und Urkunden in Anlehnung an § 7 der Berufsausbildungsvorbereitungs-Bescheinigungsverordnung (BAVBVO) regelt Form und Inhalte der ausgestellten Dokumente. Weiterhin ist hier festgelegt, wer diese Dokumente ausstellt und wie die Übergabe erfolgt. Auch hierzu liegt eine Verfahrensanweisung vor.
Zertifikatslehrgänge sind berufliche Teilqualifizierungen, abgeleitet aus den Inhalten anerkannter Ausbildungsberufe. Sie werden bei "Antonius" modular durch das Aneinanderreihen zusammengehöriger Ausbildungsbausteine vermittelt. Ein solcher Lehrgang erstreckt sich über zwölf Monate und wird mit einem anerkannten Qualifizierungsnachweis (IHK-Zertifikat) abgeschlossen. Die Zertifikatslehrgänge bestehen aus drei bis sechs Modulen, die sachlogisch zu einer Teilqualifikation gehören. Die in sich abgeschlossenen Module entsprechen den zertifizierten Ausbildungsbausteinen der Qualifizierungsstufe drei und werden nach gleicher Vorgabe absolviert.
Inklusion
Der Träger "Antonius: gemeinsam Mensch"
"Antonius" wurde 1902 von der Fuldaerin Maria Rang gegründet. Die Bürgerstiftung engagiert sich im Auftrag der Fuldaer Bürgerschaft für bessere Start- und Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderungen. Gegründet mit dem Ziel, Menschen mit Behinderungen zu fördern, hat sich "Antonius" weiterentwickelt zu einem vielfältigen Netzwerk aus unterschiedlichen Arbeitsbereichen, Betrieben und Partnern, das Angebote für alle Lebenssituationen bereitstellt - darunter Wohnmöglichkeiten, Bildungseinrichtungen, Arbeitsplätze und Freizeitangebote.
Im Zentrum stehen das Wohl und die Würde von Menschen mit Behinderungen. Wobei Behinderungen verstanden werden als veränderte Lebensumstände, die soziale Isolation zur Folge haben können. Alle Bestrebungen zielen auf den Abbau von Barrieren, die Vermeidung von sozialer Ausgrenzung und Benachteiligung sowie auf die Förderung von Selbstständigkeit und Eigenverantwortung. Inklusion wird als gesellschaftliche Aufgabe verstanden, die es durch gezielte individuelle und fachliche Konzepte zu unterstützen gilt.
Berufsvorbereitung
Die Arbeitsschule "Startbahn" und das Berufswegekonzept von "Antonius"
Die "Startbahn" bereitet junge Menschen ab Klasse 10 auf Ausbildung und Beruf vor. Es ist die erste anerkannte Schule dieser Art. Hier können junge Menschen mit und ohne Behinderungen herausfinden, wo ihre persönlichen Stärken liegen und was sie interessiert; praktische Erfahrungen sammeln und Kontakte zu Ausbildungsbetrieben und Unternehmen knüpfen; Kompetenzen erwerben, die ihnen den Start in die Arbeitswelt und damit in ein selbstbestimmtes Leben erleichtern.
In drei Schritten werden die besonderen Potenziale, Neigungen und Talente der Schülerinnen und Schüler aufgedeckt und ausgebildet:
1. Berufsorientierung: Im ersten Jahr erproben sich die Jugendlichen in unterschiedlichen Berufsfeldern und entwickeln daraus ihre persönliche und berufliche Perspektive.
2. Ausbildungsvorbereitung: In zwei weiteren Jahren bereiten sich die Jugendlichen auf ihre Ausbildung vor und erwerben grundlegende Kenntnisse und Fertigkeiten im gewählten Berufsfeld.
3. Ausbildung: Im Anschluss an die "Startbahn" absolvieren die Jugendlichen ihre Ausbildung (zum Beispiel im Rahmen einer Berufsbildungsmaßnahme) in Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarkts, in Partnerbetrieben oder in Betrieben von "Antonius". Die Besonderheit der "Startbahn" liegt in der engen Verzahnung von Theorie und Praxis. Die "Startbahn" ist ein Ort, an dem Schule und Arbeitswelt zusammentreffen, wo sich Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte und Ausbildende austauschen können und gemeinsam Wege in die Berufswelt finden. Neben Betriebserkundungen, Praktika und individuellen Berufswegeplänen sind der persönliche Wille und die Motivation entscheidend für den Erfolg.