Ist die Coronapandemie schuld?
In den vergangenen Jahren haben psychische Belastungen zugenommen. Besonders betroffen sind Kinder und Jugendliche. Die Jahre waren geprägt durch die pandemiebedingten Einschränkungen, den Krieg in Europa und die Klimakrise. Doch wie neu ist diese Entwicklung? Ist die Pandemie "schuld"? Bereits 2007 schrieb die Psychotherapeutenkammer zur Situation der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen: "Jedes 20. Kind litt an einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung, 20 Prozent gaben psychische Beschwerden an." Benannt wurde, dass insbesondere Kinder aus Familien mit niedrigem sozio-ökonomischem Status betroffen sind. Ein Anstieg der Erkrankungen wurde im Bereich der sozio-emotionalen Entwicklung und des Sozialverhaltens gesehen. Gefordert wurde, die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu einer dringenden politischen Aufgabe zu machen und eine Vernetzung der Sozial- und Bildungssysteme sicherzustellen. Wichtig sei die Verbesserung der Elternkompetenzen und der Ausbau der Fördermöglichkeiten in Kindertagesstätte (Kita), Schule und Ausbildung. Der Fokus sollte auf einer Verbesserung der Selbstwirksamkeit sowie der Förderung sozio-emotionaler Kompetenzen liegen. Hierbei wurde auch auf Schwierigkeiten in der Versorgung von Kindern mit psychischen Erkrankungen hingewiesen. Bereits im Jahr 2000 konnten nur 70 Prozent der betroffenen Kinder und Jugendlichen fündig werden, die einen entsprechenden Therapieplatz suchten. Doch der Aufruf führte nicht zu relevanten Veränderungen der Situation. Die Zahlen bestätigten sich 2014 und 2017 in den Kindergesundheitsstudien (BELLA und KIGGS). Es folgte eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit der Verbände, aber keine Verbesserung der Situation der Betroffenen.
Coronaeinschränkungen verstärkten Belastungen
Stattdessen wurde im Rahmen der Abwägung der pandemiebezogenen Einschränkungen von 2020 bis 2022 die vulnerable Gruppe der Kinder und Jugendlichen besonders belastet. Kindergärten und Schulen wurden geschlossen, soziale Austauschmöglichkeiten, externe Unterstützungssysteme und die Anbindung an Vereine massiv eingeschränkt. Diese Belastungen wirkten sich insbesondere in Familien mit prekären Lebenssituationen negativ aus. Im Rahmen der COPSY-Studie konnten räumliche Enge, finanzielle und emotionale Belastungen von Eltern als wesentlich für den Anstieg psychischer Erkrankungen herausgearbeitet werden.
Und die Folgen bleiben nicht aus. Die Zuspitzung der bereits zuvor bekannten und bewusst in Kauf genommenen Belastungen führte zu einer nachweisbaren Zunahme an emotionaler Beeinträchtigung, die weiterhin fortbesteht. Benannt wurden in der Hamburger Langzeitstudie die Zunahme an ängstlich-depressiven Symptomen wie Rückzug, Hoffnungslosigkeit, Antriebslosigkeit sowie Vermeidungsverhalten. Eine weitere Studie zu den Zahlen der stationären Aufnahmen in diesen Jahren zeigt einen deutlichen Anstieg an Essstörungen, Ängsten, Depressionen bei gleichzeitigem Rückgang der stationären Aufnahmen aufgrund von sogenannten externalisierenden Störungen, also Einschränkungen, die in der Interaktion mit anderen Menschen zu Belastungen führen.
Pubertät heißt: Herausforderungen selbstständig bewältigen
Schaut man sich die emotionale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen allgemein an, so wird die Herausforderung, sich Gefühlen zu stellen, diese auszuhalten, einzuordnen und zu verarbeiten, unterschätzt. Die Entwicklungsaufgabe des Umgangs mit Angst, Wut und Trauer stellt sich ab dem ersten Lebensjahr. Das Erkennen, dass Gefühle zu mir gehören, sich "in mir drin" abspielen und nicht für alle sichtbar sind, sind Aufgaben der ersten drei Lebensjahre und müssen durch die erwachsenen Bezugspersonen vorgelebt, begleitet und angeleitet werden. Die dann folgende Phase des Umgangs mit komplexen Gefühlen wie Neid und Mitleid und das Aushalten von widersprüchlichen Gefühlen erfordert soziale Kontakte zu Gleichaltrigen als Übungsfeld. Hier benötigen Kinder Vertrauen und Regelmäßigkeiten, um sich diesen wichtigen Aufgaben stellen zu können. Im Lebensabschnitt um die Einschulung werden sich junge Menschen dann der Endlichkeit des Lebens, aber auch ihrer Verantwortung für die Gesellschaft bewusst und lernen, mit dieser umzugehen. Vereinbarte Regeln sicherzustellen und genau zu prüfen, ob diese eingehalten werden, ist eine ebenso wichtige Entwicklungsaufgabe wie das Erlernen des Einsatzes von Doppeldeutigkeiten und Ironie. Auch Ungerechtigkeiten auszuhalten und mit externen Vorgaben umzugehen wird nun erlernt. In dieser Zeit sind erwachsene Bezugspersonen, meist Eltern, ein wesentlicher und sicherer Hafen. Sie haben die Antworten und kennen die Lösungen für Probleme. Und genau diese Sicherheit wird dann in der Pubertät hinterfragt, ja sogar abgelehnt. Diese Abgrenzung, Herausforderungen selbstständig zu bewältigen, einhergehend mit einer erhöhten Risikobereitschaft, sind wesentliche Entwicklungsaufgaben dieser Lebensphase. Aufgrund der pandemiebedingten Einschränkungen wurden Möglichkeiten, diese Entwicklungsaufgaben anzugehen, deutlich reduziert.
Der Austausch mit Gleichaltrigen wurde digital fortgeführt, mit allen Vor- und Nachteilen der sozialen Medien und einer algorithmusbasierten Kommunikation. Geschönte Bilder und der digitale Austausch unter Gleichgesinnten führen zu neuen Herausforderungen im Umgang mit Diskussionen. Gleichzeitig wurden Ausgleichs- und Entspannungsmöglichkeiten maximal reduziert, Feiern, gemeinsame Aktivitäten und Sport eingeschränkt. Die negativen Auswirkungen auf die körperliche Fitness (verschlechtert) und den Medienkonsum (erhöht) sind belegt.
Das Gefühl, nicht gehört zu werden
Zudem haben viele Kinder ihre Eltern ratlos und ohne Antworten erlebt und so viel früher als entwicklungsgemäß gewünscht und gefordert festgestellt, dass sie nicht auf alles eine Antwort haben. Jedoch nicht nur das - Kinder und Jugendliche haben in den letzten Jahren sehr deutlich erlebt, dass ihre Bedarfe nur nachrangig berücksichtigt werden: sowohl während der Pandemie als auch in Bezug auf die Entscheidungen zur Abwendung der Klimakrise und der Inflation. Das Gefühl, nicht gehört zu werden, keinen Einfluss zu haben und wesentlichen Entscheidungen mit Auswirkungen auf das eigene Leben hilflos ausgesetzt zu sein, führt nachgewiesenermaßen zu einem erhöhten Stresslevel und kann krank machen. Die Wahrnehmung von Belastungen durch die politische Großwetterlage zeigt sich auch in einer Befragung von 2022 zu den aktuellen Sorgen der Jugend. Diese gehen einher mit einem stark erhöhten Stressempfinden, Antriebslosigkeit und Erschöpfung sowie verstärkten Selbstzweifeln. In einer McKinsey-Befragung werden die Unterschiede der Generationen in dem, wie sie Belastung wahrnehmen, sehr deutlich. Während die sogenannte Boomer-Generation sich 2022 zu vier Prozent durch die aktuellen Belastungen als persönlich betroffen wahrnahm, waren es innerhalb der Generation Z über ein Fünftel. Fast ein Viertel der jungen Frauen unter 25 bezeichnete ihre psychische Gesundheit als schlecht. Und 71 Prozent der deutschen Befragten erlebten sich aufgrund einer psychischen Erkrankung in der Schule als stigmatisiert. Dies ist der höchste Wert in der europaweiten Befragung. Dabei sehen sich mittlerweile 40 Prozent ohne Zugang zu den Helfersystemen.
Zusammenfassend scheint die pandemiebedingte Entwicklung eher eine Beschleunigung von vorbekannten Ungerechtigkeiten und fehlenden Unterstützungsmöglichkeiten bewirkt zu haben, als die Ursache für die Belastungen selbst zu sein. Es ist also mehr als notwendig, die vor fast 20 Jahren geforderte Vernetzung der Helfersysteme und den Ausbau der Angebote für Kinder und Jugendliche endlich umzusetzen.
Den Alltag besser bewältigen?
Die Rehabilitation für Kinder und Jugendliche - als Angebot zwischen den Systemen, vernetzt in der Krankenbehandlung und den schulisch-beruflichen Angeboten - kann hier einen wichtigen Beitrag leisten. In rehabilitativen Angeboten können Kinder, Jugendliche und ihre erwachsenen Bezugspersonen lernen, besser und eigenständig ihren Alltag zu bewältigen. Es stehen praxisorientierte Anleitung, gruppenbezogene Alltagsbegleitung sowie die Überprüfung und Anpassung von bestehenden Hilfsmaßnahmen im Vordergrund. Neben der Auseinandersetzung mit den krankheitsbedingten Einschränkungen sind die Begleitung bei den altersentsprechenden Entwicklungsschritten sowie die Unterstützung der Familie im Loslösungsprozess wichtig. So kann Teilhabe an entwicklungsgemäßen Aktivitäten sichergestellt werden. Eine wesentliche Aufgabe der Rehabilitationskliniken war in den letzten Jahren, der Zunahme der kinder- und jugendpsychiatrischen Krankheitsbilder und damit veränderten Bedarfe der Betroffenen und ihrer Familien gerecht zu werden und Angebote auf Basis von leitlinienbasierten Empfehlungen aufzubauen.
Quellen
Kurzlink: https://tinyurl.com/nc10-24-kinder-und-jugendreha
Kurzlink: https://tinyurl.com/nc10-24-kinder-und-jugendreha1
www.bella-study.org
Kurzlink: https://tinyurl.com/nc10-24-kinder-und-jugendreha2
Kurzlink: https://tinyurl.com/nc10-24-adipositas
Schnetzer, S.; Hurrelmann, K.: Jugend in Deutschland. Eine Sonderauswertung für das Zukunftspaket für Kultur, Bildung und Gesundheit. Kempten: Datajockey Verlag, 2022.
https://tinyurl.com/nc10-24-kinder-und-jugendreha3
Kurzlink: https://tinyurl.com/nc10-24-mckinsey
Psychische Störungen bei Minderjährigen während der COVID-19-Pandemie. In: Ärzteblatt, 20/2023. Zu finden unter Kurzlink: https://tinyurl.com/nc10-24-kinder-und-jugendreha4
100 Jahre Kinder- und Jugendreha
Es begann mit Solebädern
Schon im 18. Jahrhundert hatte es Seebäder und Kindersolbäder gegeben, die Kinder und Jugendliche gesundheitlich stärken sollten. In den 1920er-Jahren wurden erstmals über 100 dieser und ähnlicher Einrichtungen im "Reichsverband Katholischer Anstalten der Kinderheilfürsorge" zusammengefasst.
Einhergehend mit stärkerem finanziellem Engagement durch die gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherungen schärfte sich das Profil der damaligen Erholungsheime und Heilstätten hin zur heutigen medizinischen Rehabilitation mit dem Teilhabefokus einer gelingenden sozialen und schulischen Entwicklung. Diese Weiterentwicklung seiner (nun acht) Mitgliedseinrichtungen fördert der Caritas-Bundesverband Kinder- und Jugendreha (CKR) mittlerweile seit über 100 Jahren und engagiert sich genauso lange bei der Gestaltung der gesundheitspolitischen Landschaft zum Wohle dieser Altersgruppe.
Heidrun Koop, Geschäftsführerin Caritas-Bundesverband Kinder- und Jugendreha (CKR)