Weniger krank und zufriedener
Der relativ hohe Krankenstand der professionell Pflegenden, der Fachkräftemangel, die psychische Belastung der pflegenden Angehörigen und die lückenhafte Struktur in der Daseinsvorsorge Hochbetagter in den Quartieren sind die Herausforderungen, die zum Projekt "Pflegenachbarn" geführt haben.
Im Rahmen der Konzertierten Aktion Pflege Niedersachsen (KAP.Ni) erhielt die Caritas in Niedersachsen eine Förderung, in vier Pflegediensten sechs (teil-)autonome Pflegeteams zu gründen und den Ansatz zu erproben. Neben der Verbesserung der Arbeitsbedingungen für die professionell Pflegenden sollte auch Gesundheitsrisiken der pflegenden Angehörigen vorgebeugt werden und die Ressourcen im Quartier für Hochbetagte und pflegende Angehörige erschlossen werden. Die Projektidee wurde im Zusammenwirken von Caritas-Pflegediensten und dem Living Lab Wohnen und Pflege entwickelt. Grundlage waren die Erkenntnisse der Resilienzforschung.1
Im Kern wurde versucht, bei den professionell Pflegenden die "Selbstwirksamkeitsüberzeugung" zu erhöhen. Aus den bestehenden Pflegediensten wurden kleine Teams mit möglichst viel Autonomie der Mitarbeitenden, die auch fest in einem Quartier (Dorf, Stadtteil) verankert sind, die dortigen Strukturen kennen und gegebenenfalls mitgestalten können. Die jeweiligen Maßnahmen sollten daran gemessen werden, ob sie Einflussmöglichkeiten und Arbeitszufriedenheit der Mitarbeitenden erhöhen, Geborgenheit im Team vermitteln und Freiräume für Verantwortungsübernahme und Lösungsorientierung bieten.
Mehr Freiheit bei der Gestaltung des Arbeitsplatzes
Die Gründung (teil-)autonomer Teams schien dabei ein geeigneter Ansatz. Grund war, dass in einem der beteiligten Pflegedienste, der sich schon 2011 in regionalen Teams organisiert hatte, der Krankenstand stark gesunken war.
Es gab auch erste Erfahrungen mit der durchgängigen Digitalisierung der ambulanten Pflege (Chat, Pflegeplanung und -dokumentation, Dienst- und Tourenplanung). Auf iPads stehen allen Mitarbeitenden die notwendigen Informationen zur Verfügung, die sie brauchen, um sich selbst, ihre Arbeitsschritte sowie den Austausch mit Patienten, Angehörigen, Kollegen und Ärzten/Apotheken zu organisieren.
Gleichzeitig können Planung, Abstimmung und Dokumentation im Mobile-Office erledigt werden, was Freiheiten für die Arbeitszeitgestaltung schafft und dadurch Stress reduziert. Das betrifft zwar nur knapp zehn Prozent der täglichen Arbeitszeit. Aber in typischen Stresssituationen wie zum Beispiel gesundheitlichen Krisen einer Patientin, wenn auf Angehörige oder Rettungsdienst gewartet wird und gleichzeitig ein Kind von der Kita abgeholt werden muss, kann es entlastend sein, wenn die Dokumentation anschließend in Ruhe zu Hause erledigt werden kann.
In einem Pilotprojekt wurde der Informations- und Datenaustausch mit einer Arztpraxis gänzlich digitalisiert. Ziel ist eine erhebliche Zeitersparnis. Fehler können vermieden werden. Erprobt werden soll auch ein intelligenter Hausnotruf. KI kann Bewegungsmuster in einer Wohnung so einschätzen, dass Gefahrenpotenziale erkannt und Alarme unterschiedlicher Dringlichkeitsstufen ausgelöst werden können.
Kleine Teams arbeiten autonom
Der zentrale Ansatz ist, kleine Teams mit sieben bis zehn Mitgliedern zusammenzustellen, diese einem bestimmten Einzugsbereich zuzuordnen und Themenfelder zu vereinbaren, in denen begonnen werden soll, autonome Entscheidungen zu fällen und Verantwortung zu übernehmen. Die Mitglieder werden in einem kontinuierlichen Prozess ermutigt, zusätzliche Felder für die Autonomie zu erschließen. Ausdrücklich gewünscht ist, dass die Kommunikation mit dem Netzwerk (Angehörige, Ärzt:innen etc.) durch das Team verantwortet wird. Die Beratungsbesuche nach § 37 Abs. 3 SGB XI sollen im Sinne eines ganzheitlichen Vorgehens ebenfalls von einem Teammitglied durchgeführt werden.
Die Zuständigkeiten für bestimmte Bereiche (Dienstplan, Tourenplan etc.) werden auf "Kümmerer" verteilt und liegen nicht in den Händen nur einer Person, um das Entstehen neuer hierarchischer Strukturen zu vermeiden. Deswegen gibt es auch keine "Teamleitung", sondern "Sprecher". Grundsätzlich steht es jedem Team frei, in welchen Bereichen es zunächst die (Teil-)Autonomie anstreben will, wie viel Verantwortung es übernimmt und wie es intern die Rollen verteilt. In mehreren Schleifen erfolgen Zwischenauswertungen mit einer Neujustierung. Support durch die bisherigen Strukturen und Träger gibt es weiterhin in den Bereichen, die die Teams nicht abdecken.
Veränderungen brauchen Fortbildung
Workshops mit den leitenden Mitarbeitenden standen am Anfang. Die Pflegedienstleitung (PDL) versteht sich jetzt als Moderator:in beziehungsweise Coach. Sie muss also ihr Rollenverständnis grundlegend verändern. Und sie übernimmt die Aufgabe der "verantwortlichen Pflegefachkraft" im Sinne des SGB XI. Eine Steuerungsgruppe, der alle 18 Projektpartner angehören, stimmt die Schwerpunkte ab und sorgt für die Informationsverteilung. Das Projekt wird wissenschaftlich evaluiert.
Ein weiterer zentraler Baustein der Veränderung war eine Fortbildung für die Teamsprecher:innen zum Thema: "Beratungskompetenz stärken". In 160 Stunden mit einem Führungskräftecoach und einem systemischen Berater ging es vor allem um lösungsorientierte und systemische Sichtweisen, Selbstmanagement und Selbstpräsentation. Die Ziele waren, lösungsfokussierte Ansätze zu etablieren und die Persönlichkeit der Teilnehmenden im Sinne der Resilienzförderung zu stärken. Weil sich Beratung im Sinne des SGB XI im Wesentlichen auf Leistungsrecht, Pflegetechniken und Wohnraumanpassung beschränkt (vgl. § 7 a SGB XI), wurden auch psychodynamische und systemische Sichtweisen vermittelt, um zum Beispiel drohende Überforderungssituationen bei den Angehörigen aufdecken und Konflikte bearbeiten zu können.
Mentale Barrieren und Herausforderungen
Pflegekräfte standen dem Vorhaben ambivalent gegenüber. Zwar waren sie bereit, Autonomie und Gestaltungsmöglichkeiten zu übernehmen, andererseits gab es auch Verunsicherung eben durch die Übernahme von Verantwortung. Da bisher die berufliche Sozialisation für Pflegende in direktiven Strukturen verläuft, ist ein längerer Lern- und Trainingsprozess notwendig. Auch Meetings effizient zu moderieren und Vereinbarungen systematisch umzusetzen muss geschult und geübt werden. Für die Führungskräfte war es notwendig, die Angst zu überwinden, für mögliche Fehler in den Teams einstehen zu müssen.
Die Überzeugung "wir sind auf dem richtigen Weg" verhinderte den Rückfall in direktive Muster. In den Kommunen allerdings muss die Einsicht noch wachsen, dass eine pflege- und seniorenfreundliche Umgebung essenziell ist, um häusliche Pflege für die Zukunft sicherzustellen. Nur so kann der demografischen Herausforderung wirksam begegnet werden.
Im Bereich Beratung stieß das Projekt an Grenzen. Hier gab es rechtliche Bedenken. Befürchtet wurde ein Verstoß gegen § 7 a SGB XI (Beratungsneutralität). Ursprüngliche Idee war, dass die Kommunen ergänzend zum eigenen Angebot Beratungsgutscheine über die Arztpraxen im Quartier ausgeben, die dann bei geeigneten Pflegediensten eingelöst werden können. Denn Arztpraxen sind neben den Pflegeprofis die Ersten, die psychische Überforderung und körperliche Grenzen der Angehörigen erkennen.
Mehr Eigenständigkeit zahlt sich aus
Nach den ersten wissenschaftlichen Auswertungen ergibt sich eine deutliche Senkung des Krankenstandes auf 4,81 Prozent und eine hohe Bindung der Pflegekräfte an ihren Arbeitgeber. Es gibt bisher keinen Wechsel eines beteiligten Mitarbeitenden zu einem anderen Pflegedienst.
Die PDL melden zurück, dass die Eigenständigkeit der Teammitglieder deutlich gewachsen ist, die gegenseitige Unterstützung der Kolleg:innen zugenommen hat und die kollegiale Abstimmung gut läuft. Ausfälle durch Krankheit und Veränderungen beim Pflegebedarf werden autonom geregelt. Dadurch fühlen sich die PDL deutlich entlastet und haben mehr Zeit für Begleitung, Coaching sowie strategische Überlegungen.
Die Übernahme von Verantwortung durch die Mitarbeitenden und deren Vertrauen in die eigenen Fertigkeiten haben deutlich zugenommen. Systemisch-lösungsorientierte Ansätze im Pflegedienst sind zunehmend festzustellen, tragen zu einer wertschätzenden Arbeitsatmosphäre bei und bereichern die Handlungskompetenz der Teams. Aus den sechs Teams sind mittlerweile neun geworden. In Niedersachsen kann wahlweise nach Zeit und Leistungskomplexen abgerechnet werden. Daraus ergeben sich gute Möglichkeiten, die Vertragsgestaltung den individuellen Bedürfnissen anzupassen. Im Fall der Abrechnung nach Zeit, so berichten die PDL, haben die Anteile rehabilitierender und aktivierender Pflege zugenommen. Aktuell wird mit den Niedersächsischen Pflegekassen ein Rahmenvertrag für die Fortführung der autonomen Teams verhandelt. Für das vierte Quartal 2024 ist ein bundesweiter Fachtag zu den Chancen und Risken in Vorbereitung und ein Netzwerk "autonomer Pflegeteams" ist in Gründung, dem "alle Willigen" beitreten können.
1. Mehr: www.resilienz-akademie.com