Caritas im Wandel: Satzungsreform und Standortkonzept
Die letzten Jahre waren - und die kommenden Jahre werden voraussichtlich - von enormen Veränderungen geprägt: gesellschaftlich, politisch und kirchlich. Das hat Auswirkungen auf die Arbeit und die Rolle des Deutschen Caritasverbandes (DCV). Konfessionelle Wohlfahrtspflege muss sich unter veränderten Bedingungen neu "erfinden". Die personelle Situation vieler Dienste und Einrichtungen leidet unter dem Fachkräftemangel, die finanzielle Lage ist wegen Einspardebatten der öffentlichen Hand unsicher, katholische und evangelische Kirche kranken an Mitgliederschwund und Vertrauensverlust, die Digitalisierung verändert Kommunikation und Arbeit auf allen Ebenen. Gleichzeitig sind die Aufgaben für die Caritas größer geworden: Der demografische Wandel bringt neue Sorge-Anforderungen für alte und kranke Menschen, der gesellschaftliche Zusammenhalt bekommt Risse. Politik und Zivilgesellschaft senden widersprüchliche Signale an die (konfessionellen) Wohlfahrtsverbände - sie sind geschätzte Bündnispartner, wenn es um Klimaschutz und die Bewahrung der Demokratie und der Menschenrechte (gerade auch Geflüchteter) geht. Zugleich werden ihre Leistungen unterfinanziert und wird das, was als Säule des Sozialstaats standhaft sein muss, als "sklerotisch" diskreditiert. Diese kritischen Einflüsse sind Herausforderung und Chance, sich auf allen Ebenen des Verbandes neu aufzustellen. Denn: Die große Aufgabe, Not zu sehen und zu handeln, wird nicht kleiner, sondern eher größer. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, strukturelle Antworten auf die Veränderungen zu geben. Im DCV sind sich alle Organe darüber einig, und als Vorstand übernehmen wir die Verantwortung für die Umsetzung auf Bundesebene.
Satzungsreform und Verbandsordnung: Wo stehen wir im Prozess?
Ein erster Schritt war die 2023 beschlossene Satzungsreform.1 Nach der Genehmigung durch die Bischofskonferenz erwarten wir die Eintragung der neuen Satzung in den nächsten Wochen. Gremienstrukturen, insbesondere die Stellung des:der Präsident:in und die Rolle des Caritasrats, sind neu justiert worden. Künftig wird der Caritasrat eine:n eigene:n Vorsitzende:n haben, der:die aus der Reihe seiner Mitglieder gewählt wird. Die Präsidentin ist qua Amt Vorsitzende des Vorstands und der Delegiertenversammlung.
Eine DCV-"Zentrale" gibt es nicht mehr; die "Geschäftsstellen", von denen die Satzung spricht, sind aufgefordert, sich im Blick auf die Aufgaben aufzustellen, die die Satzung beschreibt. Auch die Zusammensetzung der Delegiertenversammlung verändert sich: Zehn Vertreter:innen der überdiözesan tätigen großen Träger (wie Stiftung Liebenau oder Alexianer) sind nun dabei. Ein deutliches Signal, dass die Bedeutung dieser mitarbeiterstarken Akteure in der verbandlichen Caritas anerkannt wird und ihre Stimme Gehör finden soll. Die Ebene der Orts-Caritasverbände (OCV) ist ebenfalls gestärkt: Zehn Vertreter:innen kommen direkt und zusätzlich über die Versammlung der OCV-Geschäftsführer:innen und -Vorstände.
Nach dem ersten Schritt der Satzungsreform hat sich ein Verbandsordnungsprozess angeschlossen, in dem es insbesondere um die Ordnung der Mitgliedschaft, um Spielregeln der Zusammenarbeit und der Verhältnisbestimmung geht.2 Wie kann das Netzwerk der verbandlichen Caritas lebendig zusammenarbeiten, die Kraft der Subsidiarität nutzen und gleichzeitig mit Hilfe der gemeinsamen starken Marke Wirkung entfalten? Die Stärkung der Markenführung und die Frage nach der Aufgabenteilung - etwa mit sogenannten zentralen Fachstellen - werden diskutiert. Was ist die Aufgabe der einzelnen Ebenen und Strukturen? An diesen Fragestellungen arbeiten wir weiter, und der Prozess der Verbandsordnung wird in eine erneute Satzungsreform münden. Mit der aus ihrer Arbeit resultierenden nächsten Satzungsänderung soll die neue Verbandsordnung auf der Delegiertenversammlung 2025 beschlossen werden - sie bilden gemeinsam den neuen Rahmen, in dem das Netz der Caritasfamilie tragfähig weitergesponnen werden kann.3
Was ist entschieden? Von der Zentrale zum Knotenpunkt
Sehr eindeutig wird vom DCV als Spitzenverband die Wahrnehmung seiner Rolle als Akteur der politischen Interessenvertretung noch aktiver eingefordert. Dazu gehört die Präsenz im politischen Feld und an zentralen Knotenpunkten der Zivilgesellschaft: Wir müssen uns erkennbar machen und unser Wirken erklären, um unsere Bedeutung, die wir aus unserem Glauben, unserer Kompetenz und unserer Funktion haben, beizubehalten und zu stärken. Es reicht immer weniger, kluge Positionen zu entwickeln - wir müssen mit ebenso großer Klugheit und Energie dafür eintreten, dass sie wahrgenommen, verstanden und beachtet werden - analog und digital. Der DCV muss als Gesamtsystem so organisiert sein, dass er die verschiedenen Anliegen bestmöglich wahrnehmen, überzeugend koordinieren, dynamisch priorisieren, Positionierungen erarbeiten und Forderungen choreographiert platzieren kann. Zu diesem Gesamtsystem müssen alle Einheiten beitragen und ihre Prozesse und Prioritäten daraufhin überprüfen. Work in progress - die Aufgabenklärung in der Satzung und die Übersetzung in die Arbeit des Hauses gehen Hand in Hand.
Eine sichtbare Konsequenz ist die Entscheidung zu den Standorten des DCV, getroffen vom Caritasrat im Frühjahr 2024.4 Über viele Jahre war dazu kritisch diskutiert worden. Die Entscheidung ist keine losgelöste Frage nach Ort und Räumlichkeiten, sie ist ein Teil der "Übersetzung" von Satzungs- und Verbandsordnungsfragen in praktisches Handeln. Wenn wir unsere Kompetenz und unsere Überzeugungen zu allen Themen besser erklären und vermitteln müssen, wenn wir sichtbar und wirkungsvoll bleiben wollen, dann können wir dies unter den politischen Bedingungen der 20er-Jahre des 21. Jahrhunderts nicht schwerpunktmäßig aus Freiburg heraus. Wir müssen an den politischen Entscheidungsorten und Netzwerkknoten der Zivilgesellschaft in Berlin - wo auch die anderen Wohlfahrtsverbände ihren Sitz haben - besser präsent sein. "Berlin wird als Standort gestärkt. Es werden grundsätzlich alle frei werdenden Stellen in Berlin ausgeschrieben. Ziel ist eine mindestens gleich große Belegschaft am Standort Berlin bis 2030. Alle Mitarbeiter:innen in Freiburg können ihre derzeitige Aufgabe behalten, es gibt keine "Verschiebungen" von Personen auf andere Funktionen - so hat es der Caritasrat im April 2024 einstimmig entschieden.
Damit wird es auf Dauer drei Standorte des DCV geben (Berlin, Freiburg, Brüssel), ergänzend behält auch Köln als Gründungsort Bedeutung: als Sitz der Caritasstiftung und der Gesellschaft für Anstaltskredit. Zum Zeitpunkt der Entscheidung des Caritasrats waren in Freiburg circa 380 Mitarbeitende beschäftigt, in Berlin circa 40. Als Vorstand sind wir überzeugt, dass ein DCV mit zwei großen Standorten, an denen alle Funktionen repräsentiert sind, die Position der verbandlichen Caritas nachhaltig stärkt.
Der DCV kann nur dann noch stärker werden, wenn ein eher fachbezogenes, ressortspezifisches Denken durch eine übergreifende Arbeits- und Denkweise im Sinn der Dienstleistungsfunktion für den Verband abgelöst wird. Dafür braucht es Prozesse und Investitionen: Es braucht unter anderem eine neue Verbandsordnung und eine neue Ordnung der Geschäftsstellen - gerade auch mit Blick auf digitale Möglichkeiten.
Die Aufgabenklärung im Verband und die Entwicklung eines Zielbildes für die Geschäftsstellen sind als zwei Seiten einer Medaille zu sehen. Der Umsetzung des Standortkonzepts kommt große Bedeutung zu - was kein einfacher Weg wird. Vielmehr gibt es Verunsicherungen und Herausforderungen gerade auch praktischer Natur, wenn es um Teambildung an zwei Standorten, um Führung über große Distanz, eine DCV-Identität in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten und mehr geht. Aber wir sind zuversichtlich: weil wir alle uns auch 2047 - zum 150. Geburtstag - eine starke Caritas wünschen, die das leisten kann, was sie leisten will und muss: "Not sehen und handeln", im Inland wie weltweit! Die Arbeit des Bereichs Caritas international gehört untrennbar zur Verbandsgeschichte und zur Verbandszukunft, und die kluge Verzahnung von nationaler und internationaler Solidarität erweist sich gerade bei Themen wie Klimaschutz und Flucht, bei Katastrophenhilfe und Friedensarbeit als Proprium der verbandlichen Caritas.5
Wie geht es weiter? Zielbild und ein Leitbild
Die Neuausrichtung der Geschäftsstellen werden wir mit unseren Führungskräften im Licht der Ergebnisse aus der Satzungs- und der Verbandsordnungskommission diskutieren. Wir lassen uns dabei von folgenden Fragen leiten: Wie kann es gelingen, dass wir unsere politische Präsenz stärken? Wie entwickeln wir unsere Dienstleistungs-, Koordinations- und Kommunikationsfunktion aus dem Verband heraus und in den Verband hinein weiter? Wie können wir die nationale und die internationale Dimension stärker verzahnen? Wie gestalten wir Digitalisierung, und was heißt das für verbandliche Strukturen? Die Nutzung und Gestaltung des Digitalen ist ein zentraler Motor der Veränderung. Besonders in diesem Themenfeld gilt es, verbandliche Kräfte neu zu bündeln und gemeinsam stark zu werden.
Mit alldem meint "Standortkonzept" mehr als einen örtlich und räumlich veränderten DCV. Es gilt in diesem Transformationsprozess auch, einen neuen Standort im Sinne eines Standpunkts des Verbands zu finden. In der Verbandsordnungskommission wurde daher die Frage nach einem neuen Leitbild des DCV bereits gestellt. 2026 ist der nächste Caritaskongress in Berlin - womöglich auch Start eines Leitbildprozesses, der die Fäden aufnimmt.
1. Vgl. Kessmann, H.-J.: Die Verbandsstruktur auf dem Prüfstand. In: neue caritas Heft 3/2024, S. 24-26.
2. Ebd. sowie ders.: Neue Verbandsordnung für 2025 geplant. In: neue caritas Heft 17/2024, S. 7.
3. Vgl. Welskop-Deffaa, E. M.: Not sehen, verstehen und handeln. Impuls für das 17. Forum für Theologie und Caritas. Frankfurt a. M., 19. Februar 2024. Download per Kurzlink:
https://tinyurl.com/nc24-18-Forum17
4. Vgl. Pauser, S.: Freiburg - Berlin: die neue Strategie. In: neue caritas Heft 9/2024, S. 7.
5. Das zeigt sich gerade auch im Kontext der Jahreskampagnen 2023 "Klimaschutz, der allen nutzt" und 2024 "Frieden beginnt bei mir".