Wege aus der Straffälligkeit
In der deutschsprachigen Schweiz gibt es neben der Verbüßung einer Freiheitsstrafe im Gefängnis ein breites Spektrum an Behandlungsmaßnahmen, die zum Beispiel im Falle einer attestierten Drogenabhängigkeit bei Heranwachsenden alternativ angeordnet werden können. In dem Forschungsprojekt "Wege aus der Straffälligkeit - Reintegration verurteilter Straftäter" wurden mit 50 Männern im Alter von 17 bis 61 Jahren Interviews geführt. Die Männer waren aufgrund unterschiedlicher Delikte geschlossen untergebracht.1 Das erste Interview fand in der Endphase der Unterbringung statt, um etwas über die bisherige Lebensgeschichte, das Erleben der institutionellen Interventionen sowie die Hoffnungen und Planungen für die Zeit nach der Entlassung zu erfahren. Danach wurden im Abstand von etwa anderthalb Jahren weitere Interviews geführt, sofern die Teilnehmer erneut erreicht und gewonnen werden konnten. Hierbei standen Fragen nach den Erfahrungen seit dem letzten Interview, der aktuellen Lebenssituation sowie die weiteren Erwartungen und Planungen im Vordergrund. In der zweiten Erhebung standen noch 40 Männer für ein weiteres Interview zur Verfügung, in der dritten noch 36, in der vierten 30 und in der fünften 20.2
Das Datenmaterial wurde zum einen mittels kategorisierender Verfahren ausgewertet, um eine systematische Analyse der relevanten Bereiche (zum Beispiel Relevanz von Straffälligkeit, Erwerbsarbeit, professionelle Unterstützung, soziale Beziehungen, Belastungen) über die Erhebungszeitpunkte hinweg vorzunehmen. Zum anderen wurden ausführliche Einzelfallanalysen erarbeitet, um spezifische Verläufe genauer in den Blick zu nehmen.
Desistance-Forschung als Grundlage
Der theoretische Rahmen war weitgehend bestimmt durch Erkenntnisse der Desistance-Forschung, die sich mit der Überwindung kriminellen Verhaltens und der Etablierung eines straffreien Lebens beschäftigt.3 Dabei wurde ein Verständnis von solchen Prozessen zugrunde gelegt, das die vielfältigen Aspekte einer sozialen Reintegration berücksichtigt, also nicht nur die Straffälligkeit ins Zentrum der Betrachtung stellt. Verschiedene Dimensionen wurden im Längsschnitt berücksichtigt. So konnten unterschiedliche Verlaufsmuster der gesellschaftlichen Wiedereingliederung herausgearbeitet werden.
In 17 Fällen ist eine Tendenz zur Stabilisierung zu erkennen, die sich beispielsweise durch die Einbindung in tragfähige soziale Beziehungen, eine fortschreitende berufliche Qualifizierung sowie Erwerbsintegration, den Abbau von Verschuldung und eine Verbesserung der gesundheitlichen Situation auszeichnet. Bei vier Fällen zeigt sich eine begrenzte Stabilisierung. Positive Entwicklungen können hier nur für einen Teil der angesprochenen Bereiche beobachtet werden, während diese in anderen ausbleiben oder eine Destabilisierung sichtbar wird. Fünf Fälle weisen eine andauernde Stagnation beziehungsweise kontinuierliche Destabilisierung auf, wobei dies zumeist mit hartnäckigen Belastungen wie einer Drogenabhängigkeit, sozialer Isolation und Ausgrenzungserfahrungen einhergeht. Schließlich zeigen sich in vier Fällen, die als diskontinuierliche Verläufe eingeordnet werden, keine so klaren Tendenzen, sondern Stabilisierungs- und Stagnationstrends wechseln sich ab.
Rückfälle in strafbares Verhalten werden in zehn Fällen deutlich, allerdings sind diese Entwicklungen nicht auf die tendenziell schwierigen Integrationsverläufe beschränkt. Während bei vier Fällen ein stagnierender Verlauf vorliegt, weisen zwei Fälle eine diskontinuierliche Entwicklung und vier andere Fälle eine erkennbare Stabilisierung (trotz zwischenzeitlichem Rückfall) auf. Einzelne Rückfälle in Straffälligkeit gefährden demnach nicht grundsätzlich sich tendenziell stabilisierende Verläufe. Das Zusammenspiel der verschiedenen Aspekte ist also komplexer.
Auch wenn die Ergebnisse der Längsschnittstudie nicht repräsentativ sind und sich daher nicht umstandslos verallgemeinern lassen, so lassen sich daraus dennoch aussagekräftige Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Bedingungen formulieren, die ein Gelingen von Reintegrationsprozessen ermöglichen:
◆ Zentral sind Aufbau und Pflege sozialer Beziehungen, die das Potenzial praktischer und emotionaler Unterstützung bieten, in denen sich die betreffenden Personen gegebenenfalls selbst als Unterstützer:innen erleben und Anerkennung erfahren können.
◆ Berufliche Qualifizierung und Etablierung auf dem Arbeitsmarkt unterstützen Konsolidierungsprozesse und können darüber hinaus Möglichkeitsräume für soziale Teilhabe eröffnen.
◆ Die professionelle Unterstützung bei der Bewältigung von Belastungen, die mit strafbarem Verhalten und einer strafrechtlichen Verurteilung in Zusammenhang stehen können, sind in bestimmten Konstellationen ausschlaggebend (unter anderem Schuldenregulierung, medizinische Versorgung, therapeutische Behandlung).
Ausgrenzungserfahrungen nehmen Chancen
Eine der bedeutendsten Hürden bei der Reintegration sind Stigmatisierungserfahrungen.4 Viele der Studienteilnehmer berichten davon, negative Zuschreibungen aufgrund ihrer Vorgeschichte im privaten Umfeld oder in behördlichen Kontexten konkret erlebt zu haben. In anderen Bereichen wie der Arbeits- und Wohnungssuche hingegen bleiben diskriminierende Praktiken meist verdeckt und für die Betroffenen interpretationsbedürftig. Muss man etwa einen Strafregisterauszug beibringen und erhält eine Absage, dann erscheint den betreffenden Personen ein kausaler Zusammenhang sehr plausibel. Aus Scham und Angst vor Zurückweisung werden solche Situationen deshalb häufig vermieden und sich bietende Chancen nicht wahrgenommen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Reintegration nach einer strafrechtlichen Verurteilung ein vielschichtiger Prozess ist, der sowohl individuelle als auch gesellschaftliche Dimensionen umfasst. Die Beziehungen zwischen Adressat:innen der Straffälligenhilfe und professionellen Bezugspersonen können dabei eine entscheidende Rolle spielen, da hier durch entsprechende praktische und motivationale Hilfestellungen zwischen beiden Ebenen vermittelt werden kann.5 Aber generell von großer Bedeutung für Wiedereingliederungsprozesse wird auch sein, diskriminierende Strukturen abzubauen, mit denen ehemals Straffällige konfrontiert sind.
1. Die Studie wurde unter Leitung von Professor Peter Rieker zwischen 2013 und 2022 am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich mit finanzieller Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) durchgeführt. Eine ausführliche Darstellung der Ergebnisse wurde als Buch veröffentlicht und ist in digitaler Form frei verfügbar. Humm, J.; Rieker, P.; Zahradnik, F.: Von drinnen nach draußen - und dann? Reintegration nach einer strafrechtlichen Verurteilung - Ergebnisse einer qualitativen Längsschnittuntersuchung, Weinheim/Basel: Beltz Juventa, 2022. Kurzlink: https://tinyurl.com/nc24-18-studie
2. Die weiteren Ausführungen beziehen sich auf die Auswertungsergebnisse der ersten vier Wellen, also auf 30 Fälle.
3. Rieker, P.; Humm, J.; Zahradnik, F.: Einleitung: Desistance als konzeptioneller Rahmen für die Untersuchung von Reintegrationsprozessen. In: Soziale Probleme, 27 (2), 2016,
S. 147-154. https://doi.org/10.1007/s41059-016-0020-5
4. Zahradnik, F.: Stigmatisierungserfahrungen strafrechtlich verurteilter Männer im Reintegrationsprozess. Ergebnisse einer qualitativen Längsschnittstudie in der Schweiz. In: Soziale Probleme, 32 (2), 2021, S. 192-218. Kurzlink: https://tinyurl.com/nc24-18-straffaellig
5. Humm, J.; Zahradnik, F.; Rieker, P.: Eine multiperspektivische Analyse von Beziehungen zwischen strafrechtlich verurteilten Männern und professionellen Bezugspersonen im Reintegrationsprozess. In: Kriminologie - Das Online-Journal, 4 (3), 2022, S. 282-295; https://doi.org/10.18716/ojs/krimoj/2022.3.5