Arbeitsgesundheit in der ambulanten und stationären Jugendhilfe
Beschäftigte in sozialen Berufen weisen eine hohe Zahl von Arbeitsunfähigkeitstagen aufgrund von psychisch verursachten Erkrankungen auf. Gerade im Bereich der Jugendhilfe sind die beruflichen Anforderungen in den vergangenen Jahren gestiegen. Vor dem Hintergrund des sich verschärfenden Fachkräftemangels ist diese Entwicklung besonders kritisch zu sehen. Ziel einer von der BGW durchgeführten Kooperationsstudie war es daher, gesundheitsrelevante Arbeitsbedingungen, Bewältigungsstrategien und Gesundheitsindikatoren in der Jugendhilfe systematisch zu untersuchen. Ein Schwerpunkt lag dabei auf der differenzierten Analyse arbeitsbezogener Merkmale in der ambulanten und stationären Jugendhilfe. Als ein spezieller Bereich der sozialen Arbeit wurde die Jugendhilfe während der Coronapandemie als "systemrelevant" eingestuft. Kinder und Jugendliche, die bereits in prekären Situationen leben, sind wahrscheinlich am meisten gefährdet. Daher wird ein besonderer Schwerpunkt auf die Unterstützung dieser Klientel gelegt. In der Jugendhilfe werden zwei Bereiche unterschieden - die ambulante und die (teil-)stationäre Jugendhilfe. Beide Settings zielen darauf ab, Kindern und Jugendlichen in schwierigen Lebenssituationen Unterstützung und Betreuung anzubieten. Das übergeordnete Ziel beider Ansätze ist nach SGB VIII § 1 das Wohl des Kindes beziehungsweise des:der Jugendlichen und die Verbesserung ihrer Lebenssituation.
Unklar war jedoch, ob es bei der Arbeits- und Gesundheitssituation der Beschäftigen in den jeweiligen Bereichen Spezifika gibt, die es bei der Arbeitsgestaltung und Gesundheitsförderung besonders zu berücksichtigen gilt.
Mitarbeitende sind emotional stark in Anspruch genommen
Gemeinsam sind dem ambulanten wie dem stationären Kontext beispielsweise nachfolgende Arbeitsbedingungen: Die Arbeit zeichnet sich durch eine hohe emotionale Inanspruchnahme aus, da die Beschäftigten in der Jugendhilfe kontinuierlich mit dem psychischen und physischen Leid ihrer Klient:innen konfrontiert sind. Häufig haben diese traumatische Erfahrungen gemacht, was für die Mitarbeitenden sehr belastend sein und zu emotionaler Erschöpfung führen kann. Zudem ist die Tätigkeit durch direkten persönlichen Kontakt und die Aufgabe der Beziehungsarbeit mit den Klient:innen gekennzeichnet.
Die Arbeitssituationen von ambulantem und stationärem Setting unterscheiden sich in den folgenden Punkten: Insbesondere für das stationäre Setting wird deutlich, dass die Beschäftigten über einen langen Zeitraum mit Jugendlichen in Kontakt stehen, die ein oft hohes Konfliktpotenzial aufweisen. Jugendliche im stationären Kontext haben häufig negative Beziehungen erlebt und traumatische Erfahrungen gemacht. Daher sind Mitarbeitende der stationären Jugendhilfe einem besonders hohen Risiko ausgesetzt, verbale und körperliche Übergriffe zu erleben. Zu den klient:innenspezifischen Stressoren kommt hinzu, dass die Tätigkeit mit Schichtarbeit sowie unregelmäßigen Arbeitszeiten beziehungsweise der Erfordernis, flexibel zu arbeiten, verbunden ist.
Ziel der Studie war es deshalb, die Arbeits- und Gesundheitssituation der Beschäftigten in der Jugendhilfe allgemein sowie bereichsspezifisch zu analysieren, um Hinweise auf spezifische Bedarfe bei der Gestaltung der Arbeitsbedingungen auf der Verhaltens- und Verhältnisebene zu erhalten. Hierzu wurden die Arbeitsbedingungen, die Bewältigungsstrategien und die Gesundheitsindikatoren der Beschäftigten in der ambulanten und in der stationären Jugendhilfe untersucht.
Insgesamt haben 1044 Beschäftigte in der Jugendhilfe an der Querschnittsbefragung teilgenommen. Davon kamen 671 Personen (64,3 Prozent) aus der stationären und 373 (35,7 Prozent) aus der ambulanten Jugendhilfe. Die Teilnehmenden waren im Durchschnitt 40,6 Jahre alt; in der ambulanten Jugendhilfe waren sie im Mittel 43,2 Jahre und im stationären Bereich 39,2 Jahre alt. Weibliche Teilnehmende waren in der Stichprobe mit 282 Personen (75,6 Prozent) im ambulanten Bereich und mit 457 Personen (68,1 Prozent) im stationären Bereich vertreten.
Es zeigte sich, dass in der Jugendhilfe bereichsübergreifend die folgenden Stressoren einen hohen oder sehr hohen Wert aufweisen: emotionale, qualitative (s. Tabelle) und soziale Anforderungen sowie Zeitdruck. In der stationären Jugendhilfe sind Belastungen wie Zeitdruck, qualitative und soziale Anforderungen sowie Aggression der Klient:innen sogar noch etwas stärker ausgeprägt.
Die erfassten Ressourcen, also Schutzfaktoren beziehungsweise gesundheitsförderliche Aspekte der Arbeitsbedingungen, weisen gleichfalls settingübergreifend recht hohe Werte auf. Die Ressourcen Handlungsspielraum und Gesundheitsklima wurden in der ambulanten Jugendhilfe signifikant höher eingeschätzt. Die Ressource Sinnhaftigkeit der Arbeit bewerteten die Befragten in der stationären Jugendhilfe etwas höher.
Stationär häufiger genannt: Überstunden und Präsentismus
Deutliche Unterschiede zeigten sich bei den Arten gesundheitsgefährdenden Bewältigungsverhaltens. Sowohl die Ausdehnung der Arbeitszeit in die Freizeit hinein im Sinne von freiwillig erbrachten Überstunden als auch Präsentismus, also zu arbeiten, obwohl man krank ist, wurden in der stationären Jugendhilfe signifikant häufiger genannt.
Ein Grund für die höheren Werte beim Bewältigungsverhalten könnte darin liegen, dass die Beschäftigten in der stationären Jugendhilfe ihre Kolleg:innen vor Ort nicht im Stich lassen wollen und deshalb dazu neigen, ihre Freizeit zu opfern oder auch dann zur Arbeit zu kommen, wenn es ihnen nicht gut geht. Bei den Gesundheitsindikatoren - abgefragt wurden Arbeitszufriedenheit, Wohlbefinden, depressive Symptome, Burnout - gab es zwischen den Beschäftigten im ambulanten und stationären Bereich keine Unterschiede.
Schlussfolgerungen für die Praxis
Wichtig für die Praxis ist es, das sogenannte TOP-Prinzip - die Maßnahmenhierarchie im Arbeitsschutz - zu beachten, das heißt: Technische Schutzmaßnahmen haben Vorrang, dann folgen organisatorische und persönliche Schutzmaßnahmen. Einzelne Maßnahmenvorschläge aufgrund der Studienergebnisse für die Jugendhilfe allgemein können aussehen wie in der tabellarischen Übersicht oben.
Für die Anwendung der für Unternehmen verpflichtenden "Gefährdungsbeurteilung Psyche" ist es wichtig zu wissen, dass in der stationären Jugendhilfe Stressoren wie Zeitdruck und hohe qualitative Anforderungen verbunden mit zu viel persönlicher Verantwortung, überhöhten Ansprüchen sowie verbal bis physisch aggressivem Verhalten seitens der Klientel, Überstunden und Präsentismus - also krank zur Arbeit zu kommen - im Vergleich zur ambulanten Jugendhilfe besonders ausgeprägt sind. Das würde bei den Präventionsmaßnahmen dafür sprechen, Themen wie den Umgang mit schwierigen oder aggressiven Klient:innen im stationären Bereich noch stärker in die Aus- und Weiterbildung zu integrieren beziehungsweise Supervision zu implementieren.
Es handelt sich um eine Längsschnittstudie mit drei Erhebungszeitpunkten. Bisher ist der Querschnitt veröffentlicht; zwei weitere Artikel im Längsschnitt folgen. Auf der BGW-Website werden diese ausschnittweise veröffentlicht - ebenso wie Factsheets für Beratende und Einrichtungen. Siehe auch Kurzlink: https://tinyurl.com/nc18-24-bgw-studie
Der vollständige Beitrag ist in englischer Sprache nachzulesen unter: Kersten, M.; Vincent-Höper, S., Wirth, T., Gregersen, S.; Nienhaus, A.: Same Job, Same Working Conditions? A Cross-Sectional Study to Examine the Similarities and Differences of the Working Situation in Ambulatory and Residential Youth Welfare Workers. In: Journal of Occupational Medicine and Toxicology (Jomt) 19/2024, https://doi.org/10.1186/s12995-024-00419-4