Vertrauen in die eigene „Gutheit“
Vor anderen bloßgestellt zu werden, ist ein grauenvolles Erlebnis. Egal, ob in der eigenen Familie, auf dem Schulhof oder in den sozialen Netzwerken. Straffällig gewordene Menschen machen diese Erfahrung tagtäglich, oft in der direkten Begegnung und auch in der öffentlichen Verurteilung. Wie sehr der Erfolg der "Resozialisierung" straffällig gewordener Menschen von ihrem Umfeld und gesellschaftlichen Bedingungen abhängt, zeigt die Desistance-Forschung. Es geht dabei um den Prozess, der es Täter:innen ermöglicht, Abstand von kriminellem Verhalten zu nehmen und gleichzeitig ein rückfall- und straffreies Leben zu führen. Was Kirche und ihre Caritas davon lernen und gleichzeitig zur Desistance - also dem Ausstieg aus Straftaten - beitragen können, kann am Beispiel einer biblischen Frau ("Jesus und die Ehebrecherin", Joh 8,1-11, siehe Kasten) aufgezeigt werden. Als Hintergrundfolie für eine Einordnung dienen die unterschiedlichen Dimensionen von Desistance in der Darstellung von Christian Ghanem und Christine Gräbsch.1 Die erste Dimension beinhaltet die Verhaltensebene: Es wird keine Straftat mehr begangen. Dahinter verbirgt sich die zweite Dimension, ein tiefgreifender Wandel, der die gesamte Identität des straffällig gewordenen Menschen betrifft. Als letzte Dimension bedarf es eines "relationalen" Ausstiegs, der vor allem die Rahmenbedingungen und eine Veränderung auf gesellschaftlicher Ebene anspricht. Auch deviantes Verhalten, also ein Verhalten, das von der Norm abweicht, ist einem kulturellen, gesellschaftlichen und geschichtlichen Wandel unterworfen. So ist die biblische Erzählung der Begegnung Jesu mit der Ehebrecherin auch in ihrem historischen Kontext zu sehen.
Der Ausstieg aus Straftaten
Wie es gelingt, nicht vorschnell zu verurteilen und gesetztes Recht für unumstößlich zu halten, zeigt die geschickte Reaktion Jesu, der sich weder auf die Seite der Pharisäer noch auf die Seite der römischen Besatzungsmacht schlägt: Er wendet sich vielmehr der betroffenen Person zu. Diese Haltung entspricht den Erkenntnissen der Desistance-Forschung, welche "einen Fokus auf Dynamiken einzelner Lebensverläufe"2 legt.
Der letzte Satz Jesu an die "Ehebrecherin" ist: "Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!" (Joh 8,11). Was hier das Ende des Gesprächs darstellt, ist der Beginn eines Weges, da das Abstandnehmen von fremd- oder selbstschädigenden und potenziell kriminellen Handlungsweisen nur einer der Schritte im Prozess der Desistance ist. Interessanterweise ist dieser Aspekt des Verhaltens derjenige, der die meiste Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es ist einerseits nicht verwunderlich, da das Verhalten einer Person zum einen das ist, was sichtbar und auch beurteilbar ist. Zum anderen muss - zum Schutz Dritter - verletzendes Verhalten Konsequenzen nach sich ziehen, welche nicht immer in einer Geld- oder Haftstrafe, sondern im Sinne einer Schadenswiedergutmachung zu erfolgen haben. Deswegen bemisst sich die Legitimität einer "Strafe" auch daran, inwieweit sie es schafft, die straffällig gewordenen Menschen wieder in die Gemeinschaft einzugliedern. Soll der Prozess der Desistance auf Dauer erfolgreich sein, muss die Veränderung tief in den Menschen hinein und weit in die Gesellschaft hinaus greifen.
Ein anderes Selbstbewusstsein
"Auch ich verurteile dich nicht" (Joh 8,11) - im griechischen Original steht hier: ‚kata-krinein‘, was wörtlich bedeutet ‚gegen jemanden erkennen‘. Jesus sagt also: Ich verurteile dich nicht, weil ich weiß, dass du eigentlich anders bist. Jesus spricht der Frau hier eine Bestätigung ihres Wesens zu, wenn vielleicht auch nicht ihrer Taten. Daraus kann ein verändertes Selbstverständnis, eine "Ausstiegsidentität" erwachsen. Das Bewusstsein für die eigene "Gutheit" betont auch die Desistance-Forschung, die herausgefunden hat, dass Menschen, die den Ausstieg aus der Kriminalität schaffen, sich selbst - durch den Zuspruch anderer - als wertvoll und nicht durch ihre Taten determiniert ansehen. Dies eröffnet ihnen eine Perspektive, sich konstruktiv in die Gemeinschaft einbringen zu können.3
An dieser Stelle kann auf die Bedeutung der Gedanken der Philosophin Judith Butler eingegangen werden, die eine Form der narrativen Ethik entwickelt, die im Kern besagt, dass Menschen einander als Menschen nur wirklich begegnen können, wenn sie sich ihre Geschichten erzählen. Den anderen auf seine Taten und seine Geschichte festzulegen, bezeichnet Butler als "ethische Gewalt"4. Diese gibt es auf individueller Ebene, wenn sich Menschen mit Vorurteilen begegnen oder den anderen auf seine Vergangenheit reduzieren. Diese ethische Gewalt hat aber auch eine strukturelle Dimension, wie die Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Dimension von Desistance zeigen wird.
Relationaler Ausstieg als Abschluss
"Frau, wo sind sie [die Pharisäer, welche die Frau steinigen wollten] geblieben?" (Joh 8,10) fragt Jesus - vielleicht etwas verwundert - als er allein mit der Frau zurückbleibt. Sein Satz: "Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie" hat die Ankläger radikal zum Perspektivwechsel gezwungen. Nicht wenige werden erkannt haben, dass auch sie schon die Ehe gebrochen haben, aufgrund der gesellschaftlichen Verhältnisse aber nicht derart bestraft und verfolgt wurden, wie dies bei der Frau der Fall ist.
Inwieweit begünstigen gesellschaftliche Verhältnisse und die Organisation von Institutionen eine Doppelmoral, welche manche unbescholtene Bürger:innen sein lässt und andere auf ewig als Kriminelle verurteilt? Ethische Gewalt hat dann eine strukturelle Dimension, wenn Menschen im gesellschaftlichen Kontext ein Neuanfang verwehrt bleibt, da nicht nur ein Führungszeugnis, sondern auch die gesellschaftlichen Stereotype von Straffälligen gegen ihre "Resozialisierung" sprechen. Für Judith Butler ist die dritte Dimension, der "relationale Ausstieg"5, elementar.
Hier könnte der Desistance-Ansatz in eine uralte und doch immer wieder neu zu entdeckende christliche Praxis übergehen: eine Praxis der Vergebung und Versöhnung. Das Sakrament der Versöhnung ist derzeit - sicher auch zu Recht - in der Krise, und doch beinhaltet es einen wahren Kern: Niemand kann sich selbst Erlösung zusprechen. Versöhnung braucht Beziehungen und eine gute Begleitung von Menschen, die sich (aus eigener Erfahrung) mit Scheitern auskennen. Gerade hier liegt eine Kernaufgabe von Kirche und ihrer Caritas. Denn dann müssen Menschen ihre (kriminelle) Vergangenheit nicht abschneiden ("knife off the past from the present"6), sondern können sie in ihr Leben und in die Gemeinschaft integrieren. Angesichts der Erkenntnisse der Desistance-Forschung wäre eine Wiederbelebung der "soziale[n] Dimension"7 des Sakraments der Versöhnung nur passend.
Zum Schluss soll die Betrachtung der Bibelstelle von der "Ehebrecherin" noch einmal in einen größeren Kontext gestellt werden: Wichtig zu sehen ist nämlich, wer in dieser Geschichte auf der Anklagebank sitzt: Es ist nicht die Frau, sondern Jesus ("Mit dieser Frage wollten sie [die Pharisäer] ihn auf die Probe stellen, um einen Grund zu haben, ihn zu verklagen." Joh 8,6). Auch hier zeigt sich eine Parallele zu manch öffentlich und medial geführter Diskussion: Was sind die gesellschaftlichen Fragen, über die eigentlich gesprochen werden sollte, und wo werden Nebelkerzen gezündet, um Scheindiskussionen auf dem Rücken einzelner Personen oder Personengruppen auszutragen?
Zur Versöhnung bereit sein
Die drei Dimensionen des Desistance-Prozesses, welche anschlussfähig an theologisch-ethische Überlegungen sind, werden in ihren Wechselwirkungen zum Lern- und Aufgabenfeld für Kirche und ihrer Caritas: in der Begleitung von Menschen und Prozessen, die eine Versöhnung mit der eigenen Vergangenheit und eine Wiedereingliederung in die Gemeinschaft ermöglichen. Straffällig gewordene Menschen müssen nicht nur physisch aus der Haft, sondern auch gesellschaftlich aus Verurteilungen und Stereotypen entlassen werden. Und ebenso im politischen Lobbying für straffällig gewordene Menschen, um die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen für eine offene Gesellschaft zu schaffen - da Desistance vertrauensvolle Beziehungen, starke Netzwerke und eine zur Versöhnung bereite Gemeinschaft braucht.
1. Ghanem, C.; Graebsch, C.: "Desistance from Crime" - Theoretische Perspektiven auf den Ausstieg aus Straffälligkeit. In: Deimel, D; Köhler, T. (Hrsg.): Delinquenz und Soziale Arbeit: Prävention - Beratung - Resozialisierung. Lehrbuch für Studium und Praxis. Lengerich: Pabst, 2020, S. 61-76, hier: S. 61-63.
2. Ebd., S. 62.
3. Ebd., S. 67.
4. Vgl. Butler, J.: Giving an Account of Oneself. New York: Fordham University Press, 2005, S. 5 passim.
5. Ghanem, C.; Graebsch, C., S. 69.
6. Ebd., S. 66.
7. Werner, G.: Darf man Gröning vergeben? -
Zur sozialen Dimension von Vergebung und Versöhnung hier und in Ewigkeit. Die Replik von Gunda Werner auf Dirk Ansorge. In: Lebendige Seelsorge 66 (2015), S. 170-172; hier: S. 171.
Joh 8,1-11
Jesus und die Ehebrecherin
1 Jesus aber ging zum Ölberg. 2 Am frühen Morgen begab er sich wieder in den Tempel. Alles Volk kam zu ihm. Er setzte sich und lehrte es. 3 Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war. Sie stellten sie in die Mitte 4 und sagten zu ihm: Meister, diese Frau wurde beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt. 5 Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du? 6 Mit diesen Worten wollten sie ihn auf die Probe stellen, um einen Grund zu haben, ihn anzuklagen. Jesus aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. 7 Als sie hartnäckig weiterfragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie. 8 Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. 9 Als sie das gehört hatten, ging einer nach dem anderen fort, zuerst die Ältesten. Jesus blieb allein zurück mit der Frau, die noch in der Mitte stand. 10 Er richtete sich auf und sagte zu ihr: Frau, wo sind sie geblieben? Hat dich keiner verurteilt? 11 Sie antwortete: Keiner, Herr. Da sagte Jesus zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!