Größte Einrichtung wird 50
Warum wurde das Caritas-Zentrum St. Vinzenz vor 50 Jahren gegründet?
Es war ja Ende der 60er Jahre. Bis kurze Zeit vorher war bei Behinderung ja noch die erste Assoziation der Kriegsveteran auf zwei Krücken. Dass es Menschen mit Behinderung in allen Generationen gibt und dass Behinderung nicht im Wesentlichen aus Kriegsverletzungen kommt, war in der Öffentlichkeit noch nicht wirklich bewusst geworden. Durch den Conterganskandal wurde dann vielen klar: Es gibt ja auch Kinder, die behindert sind, die besonderen Förderbedarf haben.
Es ging dann los mit einer Tagesstätte für 18 geistig behinderte Kinder …
Ja, der Anfang war ein zweigruppiger Kindergarten in zwei Einfamilienhäusern in Ingolstadt. Dann hat sich aber bald herausgestellt, dass wir solche Einrichtungen auch für Erwachsene brauchten, denn zur gleichen Zeit wurde die Lebenshilfe in Ingolstadt gegründet, die dann eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung eröffnete. So kam es dann mit der Zeit zu den Wohngruppen für Erwachsene und zur Freizeitbeschäftigung für sie. Das später errichtete Schulhaus in der Frühlingsstraße, unserem heutigen Hauptsitz, bot natürlich dann ganz andere Möglichkeiten als der kleine Sonderkindergarten am Anfang. Dort standen auch akademisch ausgebildete Förderschullehrer zur Verfügung. Und dort wurde auch klar, dass wir noch eine Frühförderung für Kinder mit Entwicklungsverzögerung benötigten, um den Weg in die Schule vorzubereiten: wobei das nicht für jedes Kind dann die Förderschule sein musste.
Und dann war die Generalsanierung ein Meilenstein, die 2007 abgeschlossen wurde. Was hatte diese bewirkt?
Seinerzeit war erstens unser Schulhaus viel zu klein geworden: Wir hatten fast neun Jahre lang ein Provisorium für zwei Schulklassen und Tagesstättengruppen in zwei Containern. Zweitens zeigten sich die Defekte nach über 30 Jahren Nutzung an allen Ecken. Und die in den 60er Jahren erstellten Betonbauten hatten eigentlich spätestens Ende der 90er Jahre ihre Lebensdauer erreicht. Und das war bei uns auch so. Ein Beispiel: Als wir an manchen Stellen die Innenverschalung weggenommen hatten und das Rohrleitungssystem zum Vorschein kam, reichte ein minimaler Druck in eine Rohrleitung hinein und dann war diese hinüber. Es gab also einen immensen Reparaturstau und wirklichen Renovierungsbedarf. Es wurde ein zusätzliches Stockwerk auf die vorhandenen Stockwerke gebaut, das uns von unserer Raumnot befreite.
St. Vinzenz ist die größte Einrichtung im Caritasverband. Wie viele Menschen werden denn von Ihnen betreut von wie vielen Mitarbeitenden?
Das ist etwas schwierig zu sagen, weil wir auch ambulante Dienste haben – mit Laufpublikum, das mal kommt, mal nicht. Doch der größte Teil sind die Schule und die Tagesstätte. Da werden 175 Kinder aus der Stadt Ingolstadt und dem Landkreis Eichstätt betreut. Wir haben rund 60 Wohnplätze für Erwachsene, 45 für Kinder und 40 Tagesstättenplätze für seelisch behinderte Kinder. Es sind regelmäßig 50 bis 80 Kinder in der Frühförderung. In der Offenen Behindertenarbeit haben wir einen Adressenbestand von 600 bis 700 Personen. Es ist also eine Betreuungsdichte zwischen Erwachsenen, der mit uns mal eine Freizeitmaßnahme machen, und Kindern, die jeden Tag sechs bis sieben Stunden in unserer Einrichtung verbringen. Unabhängig davon betreuen wir so aber um die 1.200 Menschen. Um diese Arbeit zu leisten, werden von St. Vinzenz etwas über 300 Menschen beschäftigt, darunter einem hohen Anteil an Frauen. Auf Vollzeitplätze umgerechnet sind es etwa 270 Vollbeschäftigte. Und wir haben etwa 80 Ehrenamtliche, die derzeit regelmäßig für unsere Offene Behindertenarbeit tätig sind.
Was war in 50 Jahren positiv, was hingegen nicht?
Positiv wirkt sich sicherlich für uns aus, dass St. Vinzenz die Gnade der späten Geburt hat. Wir sind also keine altehrwürdige Anstalt aus dem 19. Jahrhundert. Wir liegen mitten in der Stadt, sind also sichtbar. Unsere Schüler gehen in die Fußgängerzone während des Unterrichts, um einkaufen zu lernen. Positiv ist etwa auch, dass sich im Sport vieles entwickelt hat. Behindertensport hat bei uns angefangen – in Zusammenarbeit mit Vereinen –, aber mittlerweile gibt es eine Abteilung in einem Ingolstädter Sportverein für Menschen mit Behinderung, die mit uns gar nichts mehr zu tun hat. Und dort gibt es eine Behinderten-Judokagruppe, die mit allen anderen zusammen trainiert, aber natürlich auch ihre eigenen Wettkämpfe bundesweit hat Das ist der klassische Weg der Inklusion. Worüber ich heute noch traurig bin: Ich wollte vor rund zehn Jahren eine Grund- und Hauptschule in privater Trägerschaft auf die Beine zu stellen: als Regelschule, die auch Kinder mit besonderem Förderbedarf aufnimmt. Das klappte aber nicht. Heute gehen wir den umgekehrten Weg. Wir sind eine Förderschule und suchen stark den Kontakt zur Regelschule. So können wir heute Kinder mit Behinderung vom Kinderkrippenalter über das Kindergartenalter bis zum vierten Schulbesuchsjahr inklusiv mit Regelkindern „normal“ betreuen.
Im Zuge der Inklusion werden Sondereinrichtungen wie St. Vinzenz teilweise in Frage gestellt. Ist das berechtigt?
Die Diskussion um die Inklusion wird teilweise sehr ideologisch geführt. Es ist Gott sei Dank so, dass in Bayern nicht der schnelle Weg gegangen wird „Wir schaffen jetzt alle Förderschulen ab“. Das ist in anderen Bundesländern teilweise der Fall. Und da gibt es bereits die ersten Initiativen von Eltern behinderter Kinder, die sich versuchen, dagegen zu wehren, weil die sehr schnell feststellen: einfach die Förderschule abzuschaffen, ohne die Regelschule zu ermächtigen – vor allem mit viel Geld –, überhaupt die Kinder betreuen zu können: Das funktioniert nicht. Meine Überzeugung ist: Es wird noch viele Jahre Sondereinrichtungen geben. Auch die Behindertenrechtskonvention der UN ist nicht gegen diese. Sie sagt: Es ist bei der Beschulung die Schulform zu suchen, die für das Wohl des Kindes am günstigsten ist.
50 Jahre St. Vinzenz: Wir wird die Einrichtung in 50 Jahren aussehen?
Es gibt ein Szenario, das mir ein bisschen Sorge macht: Die Inklusion kann dazu führen, dass Sondereinrichtungen verbleiben, aber nur für schwer mehrfachbehinderte Kinder die, die es am stärksten getroffen hat. Dann würde sie zur Restschule. Ich kann mir aber ein St. Vinzenz ohne die Mischung verschieden kompetenter Kinder und Jugendlicher nicht vorstellen. Bei uns ist es zum Beispiel eine typische Szene, dass ein mobiler 17-18-jähriger Behinderter einen immobilen Gleichaltrigen zum Postkasten schiebt, sie gemeinsam die Post für die Gruppe holen, dann im Sekretariat vorbeifahren und sich bei der Sekretärin ein Gummibärchen abholen. Und der Mobilere zerteilt das Gummibärchen für den Immobilen in so mundgerechte Stücke, dass der das alleine essen kann. Das sind Szenen, die in einer Einrichtung, in der nur noch die Restkategorie wäre, völlig verloren gingen.