Kinderarmut: Durch Corona deutlich mehr Beratung
Frau Nowak, Sie arbeiten seit 2012 mit Familien, sicher haben Sie seitdem auch mit dem Thema Kinderarmut zu tun?
Ja. Hier in Lichtenberg war vom Anfang meiner Tätigkeit an das Thema alleinerziehende Familien ein Schwerpunkt - mit dem zusätzlichen Belastungsfaktor der gesundheitlichen Beschwerden im psychischen Bereich, wie Depressionen und Angsterkrankungen. Damit ist nicht gemeint, dass Alleinerziehende und ihre Kinder per se arm sind. Aber es besteht ein hohes Risiko, dass diese Kinder Armut erleben, wenn hinzukommt, dass die Eltern arbeitslos sind oder lediglich über ein kleines Einkommen verfügen. Damit hängt oft zusammen, dass die Wohnlage schlecht ist, dass die Wohnung (zu) klein ist, dass Freizeitgestaltungsmöglichkeiten nicht finanzierbar sind, oder dass Bildung nicht bezahlt werden kann.
Wie viele Familien beraten Sie zurzeit und woher kommen sie?
Pro Monat habe ich etwa 90 so genannte "Klientenkontakte". Dabei wird aber nicht unterschieden zwischen Personen, die zum ersten Mal kommen und denjenigen, die mehrfach die Beratung nutzen. Für jede Beratung brauche ich in der Regel zwei bis fünf Gespräche. Je nachdem, wie umfangreich die Fragen und Schwierigkeiten sind. Die meisten Familien, die ich berate, kommen aus Lichtenberg oder dem Ortsteil Hohenschönhausen. Auch aus Friedrichshain und Treptow finden einige Menschen in unsere Beratungsstelle. Insbesondere in Hohenschönhausen leben viele Familien, die auf das Jobcenter angewiesen sind. Darunter gibt es viele geflüchtete oder zugewanderte Menschen. Auch die Zahl der Alleinerziehenden ist in den Hohenschönhausener Hochhaussiedlungen verhältnismäßig hoch.
Kommen mehr Familien zu Ihnen, seit die Corona-Pandemie ausgebrochen ist?
Ja, durch den ersten Corona-Lockdown sind deutlich mehr Familien zu mir in die Beratung gekommen. So etwa ab Juli 2020. Die Lebenssituation von vielen hat sich verschlechtert. Es entstehen oftmals ganze "Problem-Pakete" aus Mietschulden, Schulden aus der Anschaffung eines PCs für Schulkinder oder dadurch, dass der Kindesvater keinen Unterhalt mehr beisteuert. Das heißt, die Probleme sind durch Corona vielschichtiger geworden.
Wie erleben Sie die Familien und die Kinder, die von Armut betroffen sind, in den letzten Monaten? Sie haben ja auch während des ersten Lockdowns Ihre Beratung weiter angeboten?
Ja, während des ersten Lockdowns habe ich kurzfristig über eine Kirchengemeinde eine kleine Spendenaktion gestartet für von Armut betroffene Familien. Bei der Auszahlung der Spendengelder habe ich eine sehr große Erleichterung erlebt. Die Familien konnten dadurch zum Beispiel PCs für das Homeschooling anschaffen oder ihren Kindern einfach mal ein neues Spielzeug kaufen. Jetzt erlebe ich die Leute müde von der Belastung der letzten Monate und sie fühlen sich sehr hilflos, weil es so lange dauert und weil es schwierig ist, Kontakte zu den Ämtern zu halten. Früher konnte man unkompliziert ins Bürgeramt gehen und dort besprechen, was einem fehlt oder was nicht läuft. Aktuell müssen die Familien sehr viel herumtelefonieren, um an Informationen zu kommen. Das wird als sehr belastend erlebt. Es ist aktuell allein schon schwierig, herauszufinden, auf welchem Weg man die Ämter weiterhin erreicht. Ich helfe dabei, den Kontakt zwischen den Familien und den Behörden aufrecht zu erhalten. Zum Beispiel schreibe ich mit Einverständnis einer Klientin das zuständige Team im Jobcenter an. Oft entwickelt sich dann ein stabiler Kontakt, allerdings wäre es besser, wenn das ohne meine Hilfe möglich sein könnte.
Einige entwickeln Ängste, ihre Kinder weiter in die Schule zu schicken. Sie machen sich große Sorgen um die Gesundheit der Kinder und der Familie. Diese Ängstlichkeit und Unsicherheit überträgt sich merklich auf die Kinder. Sie sind verunsichert, leiden unter Kopfschmerzen oder Bauchweh, ziehen sich zurück oder oder zeigen vermehrt Gereiztheit und Aggressionen. Gerade die Kinder haben viel auf einmal zu bewältigen: Die Ängstlichkeit der Eltern, die beengten Wohnverhältnisse, die Schwierigkeiten in der Schule, eingeschränkte Freizeitmöglichkeiten.
Woran fehlt es in den Familien und bei den Kindern am meisten, wie helfen Sie konkret?
Momentan fehlt es den Familien mit schulpflichtigen Kindern vor allem an technischer Ausrüstung. Leider haben alle Jobcenter die Anträge auf einen Zuschuss für einen Schul-PC abgelehnt, die ich zusammen mit den Familien gestellt hatte. Auch ein Widerspruch wurde abgelehnt. Die Jobcenter verweisen darauf, dass die Schule zuständig sei. Die Schule wiederum fühlt sich mit der Beschaffung der notwendigen Leihgeräte überfordert, bzw. ist zu schlecht mit Technik ausgestattet. Das Dilemma im Land Berlin liegt in der Hauptsache daran, dass die Jobcenter auf die Lernmittelfreiheit des Berliner Schulsystems verweisen, die Schulverwaltung jedoch die Schüler nicht mit den nötigen Geräten ausstatten.
Den Familien steht in dieser Zwickmühle dann nur noch die Möglichkeit offen, durch einen Anwalt eine Klage beim Sozialgericht einzureichen. Das haben die Familien sich allerdings erspart, denn der Aufwand und die Kosten, den ein Prozess bedeutet, konnten und wollten sie nicht stemmen. Deshalb habe ich Beihilfen für notwendige Schul-PCs ausschließlich über Stiftungsgelder organisieren können - entweder über den Nothilfe-Fonds der Caritas Gemeinschaftsstiftung, über das Bonifatiuswerk, oder andere Privat-Stiftungen.
Wie werden Familien auf Sie und Ihr Beratungsangebot aufmerksam?
Ich arbeite eng mit dem Caritas-Jugendclub "Steinhaus" im Bezirk zusammen. Über die jugendlichen Gäste wurden schon einige von Armut betroffene Familien zu mir weitervermittelt. Meistens ist den Kolleg*innen aufgefallen, dass die/der Jugendliche eine Ferienfahrt oder Klassenfahrt nicht mitmachen möchte. Oder die Jugendlichen erzählen den Erzieher*innen, wie schlecht es den Eltern zu Hause geht und dass immer wieder Geld fehlt. Die Pädagog*innen und Sozialarbeiter*innen des Jugendclubs motivieren daraufhin die Eltern, sich an unsere Beratungsstelle zu wenden, um sich mal beraten zu lassen. In den Gesprächen schaue ich zunächst, ob die Familien alle sozialrechtlichen Hilfen bekommen, die ihnen zustehen. Wenn etwas noch nicht beantragt ist, helfe ich bei der Antragsstellung. Es ist für Menschen überhaupt nicht einfach, in diesem Behördenwirrwarr richtige Informationen, Ansprechpartner und Zuständigkeiten zu finden. Noch dazu ist die Behördensprache so kompliziert. Manchmal denke ich, dass genau für die Menschen mit Schwierigkeiten und Problemen die kompliziertesten Antragsformulare gemacht worden sind und es nur wenig Unterstützung bei der Beantragung gibt. Vor allem fehlt es den Familien aber gerade jetzt an einer Erleichterung der gesamten Situation, alle müssten dringend wieder durchatmen können.
Inwiefern helfen Sie den Familien auch auf mentaler Ebene?
Ich spreche Überforderung und Erschöpfung bei meinen Gesprächen ganz offen an. Wenn ich spüre, eine Depression oder eine Angsterkrankung könnte bei jemandem eine Rolle spielen, thematisiere ich das. Ich biete ein Gespräch darüber an, wenn die Menschen es möchten. Ich habe mich zu diesem Thema viel weitergebildet und kann mit viel Verständnis, Respekt und Sachkenntnis Unterstützung anbieten. Ich kann zwar nicht die Rolle des Krisendienstes oder eines/einer Therapeut*in übernehmen, aber ich kann entlasten und Hilfsmöglichkeiten aufzeigen. Das Wichtigste in meiner Beratung ist es erst einmal, zuzuhören. Das schätzen die Familien - auch die Tatsache, dass ich während des Lockdowns weiterhin persönlich für sie ansprechbar war.
Was halten Sie von der Regelung, dass Schulen im aktuellen Teil-Lockdown weiterhin geöffnet bleiben? Welche Bedeutung hat das für Kinder, die aus armen Verhältnissen kommen?
Das hat für die Kinder einen sehr hohen Wert, denn die Schule ist immens wichtig für ihre Tagesstruktur. Ein Stückchen Normalität in diesen Zeiten. Außerdem treffen sie ihre Freund*innen und haben soziale Kontakte. Manchmal haben die Kinder zu Hause kein eigenes Zimmer, sondern teilen es mit der Schwester oder dem Bruder. Die Wohnungen sind klein, die Lebenssituation eng. Sobald diese Kinder nicht mehr zur Schule gehen können, wird die Enge zum Problem. Auch die Eltern stecken es nicht leicht weg, wenn sie ihre Kinder zu Hause betreuen müssen. 24 Stunden, 7 Tage die Woche die Kinder um sich zu haben ist anspruchsvoll und anstrengend: Hausaufgabenbetreuung, Langeweile abwenden, soziale Kontakte ersetzen oder zum Lernen motivieren; da kommt es öfter mal zu Konflikten. Das alles ist eine komplizierte Situation, die vielen Eltern über den Kopf steigt.
Was müsste sich für von Armut betroffene Familien ändern, wie kann man eine Verbesserung ihrer Situation bewirken?
Glücklicherweise wird es in der Öffentlichkeit aktuell weitestgehend so wahrgenommen, wie es ist: Corona trifft die Schwächsten der Gesellschaft am stärksten. Auch durch die klare Statistik und wissenschaftliche Studien ist mittlerweile von den Politiker*innen erkannt worden, dass Berlin besonders von Kinderarmut betroffen ist und dass dringend etwas dagegen getan werden muss. Behörden und Einrichtungen entwickeln Ideen, wie Familien, die von Armut bedroht sind oder in Armut leben, besser erreicht werden können. Behördensprache zum Beispiel macht vielen Menschen Angst, weil sie schwer zu verstehen ist. Die Behörden müssen einen viel einfacheren Kontakt möglich machen. Es braucht mehr wohlwollende Erklärung und Beratung. Ich bin auch der Meinung, dass die so genannte Familienhilfe vom Jugendamt viel einfacher zu bekommen sein müsste - ohne sich in seitenlangen schriftlichen Anträgen erklären und rechtfertigen zu müssen. Familienhilfe über das Jugendamt zu bekommen, ist derzeit nicht einfach. Das hängt auch mit dem hohen Kostendruck der Jugendämter zusammen. Es kann nicht alles bewilligt werden, was notwendig ist.
Ein anderer Bereich, der dringend Veränderung nötig hat, ist Schule. Die Schule ist aus meiner Sicht oft ein Ort der Diskriminierung. Armutssensible Sprache findet dort nicht statt. Zwei Beispiele: Wenn die Klassenlehrerin alle Kinder, die vom Jobcenter eine Förderung für die Klassenfahrt erhalten, aufruft, nach der Stunde zu ihr zu kommen, werden diese Kinder quasi als "arme Kinder" vorgeführt. Oder wenn sie alle Kinder in der Klasse offen befragt, wer keinen Computer zu Hause hat. Das Ergebnis ist, dass sich einige Kinder aus Scham nicht melden. An solchen Vorgehensweisen muss sich dringend etwas ändern. Es muss respektvoller mit dem Thema Armut umgegangen werden.
Hier im Bezirk Lichtenberg haben wir glücklicherweise eine intensive Vernetzung zum Thema Kinderarmut zwischen Behörden und Trägern von sozialen Einrichtungen. Da merke ich, es tut sich etwas und wir erreichen in kleinen Schritten immer wieder eine Verbesserung. Es gibt eine bezirkliche Strategie zur Prävention von Kinderarmut, die der Bezirksbürgermeister von einem Jahr ins Leben gerufen hat. Die Leitung dieser Strategie ist direkt im Büro des Bürgermeisters angebunden, so dass die Wichtigkeit des Themas deutlich wird. Diverse Arbeitsgruppen erarbeiten konkrete Ideen aus denen dann Handlungsempfehlungen für die bezirklichen Verwaltungen festgeschrieben werden. Das ist kontrollierbar und messbar. Eine einmalige Vorgehensweise in Berlin.
Wie blicken Sie auf die nächsten Wochen?
Viele Familien machen sich Gedanken, wie man das Weihnachtsfest mit Kindern gestalten kann, jetzt, wo alles so schwierig ist. Leider werden wir hier im Caritas-Beratungszentrum in diesem Jahr keine Weihnachtsaktion organisieren können. Aber wir haben zusammen mit den Kolleginnen und Kollegen aus der Wohnungslosenhilfe überlegt, dass wir den Familien Gutscheine für die Drogerie oder den Lebensmittelladen schenken, um ihnen eine kleine Freude zu bereiten.
Kontakt
Caritas-Beratungszentrum Am Fennpfuhl
Anton-Saefkow-Platz 3-4
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Tel.: 030 666 34-05-00/11
E-Mail: asb-fennpfuhl@caritas-berlin.de