"Das sind neu geschenkte Jahre"
Das Zeitfenster für Dr. Antonius Beermann schließt sich schnell. Ist der Hirntod einwandfrei ermittelt und der Patient als möglicher Organspender erkannt, müssen die entscheidenden Fragen sofort beantwortet werden. Liegt ein Organspendeausweis vor? Dann kann der Transplantationsbeauftragte des Clemens-Hospitals in Münster das genau geregelte und gesetzlich vorgeschriebene Verfahren anlaufen lassen. Wenn nicht, spürt er dem Willen des Verstorbenen mit den Angehörigen nach. Hat er sich zu Lebzeiten zur Frage der Organspende geäußert? Was passt zu seiner Lebensphilosophie? Entscheiden müssen letztlich die Angehörigen im ersten Entsetzen über den Tod.
Transplantieren, sofort
Auch das Zeitfenster für Dieter Kemmerling schließt sich schnell. Leberversagen nach der Gabe eines neuen Medikaments für seine chronische Darmkrankheit. Zwei Tage, vielleicht auch noch einen dritten können die Ärzte die Funktion dieses zentralen Organs ersetzen, dann wird es vorbei sein. Kemmerling erwischt den Sechser mit Zusatzzahl: Eine Spenderleber mit den passenden Blutwerten steht zur Verfügung. Nur sechs Stunden vergehen bis zur Transplantation.
Bald zehn Jahre lebt der Münsteraner Unternehmer mit der neuen Leber. "Das sind neu geschenkte Jahre", sagt er. Er hat sie nicht nur für sich genutzt, sondern die Initiative "No panic for organic" gegründet und seine alten Musikerkollegen aus den 60ern überzeugt, wieder aufzutreten. Die Münsteraner Band "The Dandys", 1967 mit einem zehntägigen Dauerkonzert Beat- Weltmeister, wirbt für Organspendeausweise. Kemmerling arbeitet da auch mitAntonius Beermann und seinen Kollegen in allen weiteren Münsteraner Kliniken und Krankenhäusern in der Umgegend zusammen. Eine Viertelmillion der selbst entworfenen Plastikkärtchen mit dem gekreuzten Gitarren-Symbol von "No panic for organic" sind verteilt.
Das Ziel bleibt fern. 80 Prozent der Deutschen bekunden Bereitschaft, ihre Organe zu spenden, "aber nur etwa 16 Prozent dokumentieren das mit einem Organspendeausweis", bedauert Kemmerling. Deswegen müssen die Transplantationsbeauftragten, die inzwischen jede Klinik hat, intern die Ärztekollegen und das Pflegepersonal ständig dafür schulen und sensibilisieren, mögliche Organspender rechtzeitig zu erkennen. Unterstützt wird Beermann seit einem Jahr von Oberarzt Dr. Jan Pottebaum, der als Inhouse-Koordinator alle Diagnosen daraufhin überprüft, ob ein möglicher Organspender "durchgerutscht" ist.
Wort der Angehörigen zählt
Transplantationsbeauftragte wie Antonius Beermann müssen mit dem richtigen Gespür die Angehörigen befragen: "Ich darf kein Organ fordern. Man muss es als Geschenk an den Empfänger sehen", sagt er. Das Bild des "Organjägers", das immer wieder in weitererzählten Schauergeschichten oder Filmen auftaucht, weist er von sich: "In meinen 15 Berufsjahren habe ich es nie erlebt, dass nicht alles Mögliche getan worden wäre, um einen Patienten zu retten." Aber wenn es nicht gelingt, wird bei einem Spendenwilligen nach dem Hirntod, der durch zwei unabhängig voneinander arbeitende Ärzte festgestellt werden muss, alles getan, um den auf ein Organ wartenden Patienten zu retten.
Viele warten, manche sterben
Bei zu vielen Patienten in Deutschland gelingt das wegen der im Vergleich zu anderen europäischen Ländern zu geringen Transplantationsrate noch nicht. 12 000 Menschen stehen auf der Warteliste, und "wir verlieren jeden Tag drei von ihnen", sagt Dieter Kemmerling. Weil nicht rechtzeitig ein Spenderorgan zur Verfügung steht. Während in den meisten Nachbarländern gilt, dass ein Patient einer Organentnahme widersprochen haben muss, verlangt das 1997 verabschiedete Transplantationsgesetz in Deutschland die Zustimmung. In der ersten Trauer ist diese häufig nicht zu bekommen, und auch wenn die Angehörigen einwilligen, scheitert eine Transplantation nicht selten noch an medizinischen Gründen. So reduzieren sich die Zahlen, und sie schwanken stark. Antonius Beermann macht das am Beispiel des Clemens-Hospitals deutlich. 2009 hat es bei allen vier gemeldeten Organspendern nicht geklappt, 2010 dagegen konnte in der ersten Jahreshälfte bei vier von acht Spendern transplantiert werden.
Bischof Felix Genn macht mit
Umso wichtiger ist es für Beermann, dass nicht nur große Kliniken wie das Clemens-Hospital mögliche Organspenden im Blick haben, sondern auch kleinere Krankenhäuser keine Chance übersehen. Wenn sie nicht über die medizinischen Voraussetzungen für das vorgeschriebene Verfahren zur eindeutigen Feststellung des Hirntods verfügen, sei dies kein Hinderungsgrund. Die Deutsche Gesellschaft für Organtransplantation (DSO) schicke innerhalb einer Stunde einen dafür ausgebildeten Arzt. Und darüber hinaus, so Beermann, gebe die DSO jede Unterstützung. Sie koordiniere die Suche nach einem passenden Empfänger, schicke eigene Teams zur Entnahme der Organe und übernehme auch anfallende Kosten. Denn mit dem Hirntod ende auch die Vergütung durch die Krankenkassen. Die Klinik müsse nur den Operationssaal zur Verfügung stellen. Trotzdem, bedauert Dieter Kemmerling, hätten 13 Jahre nach Inkrafttreten des Transplantationsgesetzes manche Krankenhäuser nicht einen Organspender gemeldet. Er wird deshalb weiter seine Bassgitarre bei The Dandys spielen. Prominente Unterstützung für seine Organisation hat er mit Panik-Rocker Steffi Stephan und Kinderliedermacher Detlev Jöcker gewonnen. Ohne Musik, davon ist er überzeugt, wäre er nicht so weit gekommen. Die Konzerte sind der Türöffner.
Den 250.000. Organspendeausweis will er dem Münsteraner Bischof Dr. Felix Genn übergeben. Die Kirche sieht er nicht nur wegen der guten Zusammenarbeit mit den katholischen Kliniken in und um Münster auf seiner Seite. Die Deutsche Bischofskonferenz und der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland haben sich schon 1990 in einer gemeinsamen Erklärung für die Organspende ausgesprochen. Aus christlicher Sicht sei die Bereitschaft dazu "ein Zeichen der Nächstenliebe und der Solidarisierung mit Kranken und Behinderten".