Ordnungspolitisch denken
Der Koalitionsvertrag verspricht vieles gleichzeitig. Die Kommunen sollen über die Eingliederungshilfe um jährlich fünf Milliarden entlastet, Menschen mit Behinderung stärker als bisher finanziell unterstützt werden. Ihre Teilhabe soll gestärkt, eine "neue" Ausgabendynamik aber vermieden werden (sprich: Es
soll nicht mehr kosten). Ein typischer Kompromiss, wenn widerstreitende Interessen unter einen Hut gebracht werden müssen. Aber auch mit dem schönsten Formelkompromiss kann man am Schluss nicht zaubern. Denselben Euro kann man nicht gleichzeitig für die Entlastung der Kommunen und für die Verbesserung der Situation behinderter Menschen ausgeben.
Ob der Finanzminister hier als Retter in der Not auftritt, ist derzeit völlig offen.
Die Neuordnung der Behindertenhilfe ist eine sehr unübersichtliche Großbaustelle. Orientierung bietet das offen gestaltete sozialrechtliche Dreiecksverhältnis. Es ist für die verbandliche Caritas von großer Bedeutung, denn es verbindet die staatliche Verantwortung für die Sicherung der Teilhabe mit den Wahlrechten hilfeberechtigter Bürger und einem Gestaltungsfreiraum, ohne den von freien Trägern zu sprechen sinnlos wäre. In diesem System muss die Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderung schon bei der Bedarfsermittlung und Anspruchsfeststellung gestärkt werden, etwa durch einen Rechtsanspruch auf unabhängige Beratung. Problematisch ist, dass einflussreiche Vertreter der Leistungsträger sich die Macht zur "Bedarfsplanung" verschaffen wollen, dabei aber eine Angebotssteuerung meinen. Das
würde Wahlrechte einschränken. Planung klingt erst einmal gut. Aber die Erfahrung zeigt: Keine Planung ohne Fehlplanung. Auch ist strikte Planung oft innovationsfeindlich. Stellen wir uns vor, die Leistungsträger hätten die Macht zur Angebotssteuerung bereits gehabt, als große stationäre Einrichtungen abseits der Ballungsräume die Behindertenhilfe prägten. Wäre es nicht fast zwangsläufig gewesen, dass Landräte mit Unterstützung der Leistungserbringer ihren Einfluss auf die Angebotssteuerung so geltend gemacht hätten, dass der Übergang zur wohnortnahen Versorgung über die Köpfe der Menschen mit Behinderung hinweg möglichst lange verzögert worden wäre? Schließlich waren die Einrichtungen in ihrem Gebiet oft die größten Arbeitgeber.
Eine Angebotssteuerung durch die Leistungsträger würde die Machtbalance im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis aufheben. Die Träger der Behindertenhilfe der Caritas würden von Mitwirkenden mit Gestaltungskompetenz zu Nehmern staatlicher Aufträge. Statt um die Wahlentscheidung der hilfesuchenden Bürger zu werben, würden sie sich mehr und mehr auf die Bedarfe und Vorgaben der Leistungsträger ausrichten müssen. Es geht bei dieser Reform auch darum, ob das sozialrechtliche Dreiecksverhältnis als Ausdruck eines subsidiär ausgerichteten Sozialstaats Bestand hat und ob Menschen mit Behinderung selbst darüber bestimmen
können, was sie unter Teilhabe verstehen. Wer anwaltschaftlich handelt, muss auch ordnungspolitisch denken.