Keine Konzernstrukturen
Bürger wollen mehr Mitsprache. Auch der freien Wohlfahrtspflege wird vorgehalten, bei ihr stünden Bürger am Rande. Während die Wirtschaft Wert auf ethische Unternehmensführung lege, werde die freie Wohlfahrtspflege immer ökonomischer. Als Teil der Sozialwirtschaft sei sie dabei, sich selbst abzuschaffen.
Gewerbliche Unternehmen gehören Aktionären oder Gesellschaftern, falls sie nicht einem Einzelunternehmer gehören. Wem gehören die Verbände der freien Wohlfahrtspflege? Mitglieder eines gemeinnützigen Vereins können nicht wie bei einer Aktiengesellschaft oder GmbH einen Anteil herausverlangen, verkaufen oder verpfänden. Dennoch haben sie in gleicher Weise wie die Anteilseigner einer GmbH oder Aktiengesellschaft die Macht, Entscheidungen über das Schicksal der Körperschaft zu treffen.
Zwar sind auf der obersten Gliederungsebene der freien Wohlfahrtsverbände - also auf Bundes- und Landesebene - häufig Vereine, Stiftungen und GmbHs die Mitglieder, doch auf den untersten Gliederungsebenen sind natürliche Personen deren Mitglieder und damit Anteilseigner der Wohlfahrtsverbände auf allen Gliederungsebenen. Die im 19. Jahrhundert entstandenen Wohlfahrtsverbände gründen auf dem Engagement von mutigen und hilfsbereiten Bürgern. Sie werden auch heute noch von Bürgern getragen. Allerdings scheint dies nicht mehr im Bewusstsein der Gesellschaft präsent zu sein. Nicht selten wird heute abwertend von "Wohlfahrtskonzernen" gesprochen und dabei vergessen, wer diese Organisationen trägt.
Es ist bekannt, dass viele Menschen in der Wohlfahrtspflege ehrenamtlich helfend tätig sind. Übersehen wird das Mitwirken vieler Bürger in deren satzungsgemäßen Organen. Vor allem in Aufsichtsorganen tragen ehrenamtlich tätige Personen Verantwortung für die Aufgaben und sozialen Einrichtungen der Wohlfahrtspflege. Vielleicht legt auch die freie Wohlfahrtspflege selbst nicht genug Wert auf diesen "Schatz in ihrem Acker".
Die Wohlfahrtspflege ist ein Erfolgsmodell, weil sie Bürgern auf der Grundlage ihrer Werte Möglichkeiten der Mitverantwortung bietet. In der gewerblichen Wirtschaft ist der Einsatz von Beteiligungskapital für die Mitverantwortung notwendig. Die freie Wohlfahrtspflege kann verantwortungsbewussten Bürgern Mitverantwortung und Mitbestimmung ohne Kapitaleinsatz anbieten. Sie ist eine Form der öffentlichen Aufgabenwahrnehmung durch nichtstaatliche Organisationen, die in freier Autonomie ihren selbst gesetzten karitativen Zielen verpflichtet sind.
Die freie Wohlfahrtspflege sollte um ihrer Glaubwürdigkeit willen deutlicher erkennbar werden lassen, dass dieses Bürgerengagement ihre Identität prägt. Sie muss daher nicht "mehr Demokratie wagen", sondern auf "Demokratie in ihren Reihen" deutlicher hinweisen. Allerdings muss die demokratische Organisationsstruktur bei neuen Anforderungen bedarfs- und verantwortungsgerecht ausgestaltet und angepasst werden. Dabei dürfen Ehrenamtliche weder über- noch unterfordert werden.