Gesundheit für alle!?
Steile Stufen, schmale Türen, enge Behandlungszimmer: Ein Besuch beim Arzt1 ist für Menschen mit Behinderung häufig eine Herausforderung. Räumliche Barrieren zählen dabei noch zu den geringeren Problemen. Schwierig wird es, wenn sich Arzt und Patient nicht verständigen können. Menschen mit schwerer geistiger Behinderung etwa können nicht immer äußern, wo genau sie Schmerzen haben. Vorsorgeuntersuchungen, zum Beispiel beim Frauenarzt, können Ängste und Ablehnung auslösen.
Die Mediziner wiederum haben in ihrer Ausbildung nicht gelernt, Untersuchungen, Diagnosen und Therapien in einfachen Worten zu erklären. Auch seltene Symptome und Krankheitsbilder, die im Zusammenhang mit einer Behinderung stehen können, werden im Studium nur gestreift. Dazu kommt der Zeitdruck in den Praxen der niedergelassenen Ärzte. Es dauert, bis etwa ein spastisch gelähmter Patient mit Unterstützung Jacke, Pullover und Unterwäsche ausgezogen hat, um sich abhorchen zu lassen. Zeit, die der Arzt nicht abrechnen kann.
Die Folge: Immer wieder werden Krankheiten zu spät entdeckt oder nicht angemessen behandelt – von der Sehschwäche bis zu Krebstumoren. Damit wird das deutsche GesUNdheitssystem den Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention nicht gerecht: dass nämlich Menschen mit Behinderung Zugang haben zu medizinischer Versorgung in der gleichen Qualität wie alle anderen auch. Und – wenn nötig – auch darüber hinaus, mit speziellen Angeboten, die die besonderen Bedürfnisse dieser Patientengruppe berücksichtigen. Ziel ist es laut Artikel 3c der UN-Behindertenrechtskonvention, den Menschen mit Behinderung eine „volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft“ zu ermöglichen.
Grund genug also, die wohnortnahe medizinische Versorgung von Menschen mit Behinderung genauer zu untersuchen. Im Auftrag der Evangelischen Stiftung Alsterdorf (ESA)2 in Hamburg ging das Deutsche Krankenhausinstitut in Kooperation mit der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften bundesweit erstmals diesen Fragen in einer qualitativen Studie nach. Dabei wurden Mitarbeiter von Einrichtungen der Eingliederungshilfe, Menschen mit Behinderung, ihre Angehörigen und Betreuer ausführlich befragt.3 „Die Ergebnisse der Untersuchung haben unsere Erfahrungen bestätigt“, sagt Ulrich Scheibel, Vorstand der ESA: „Während behinderte Kinder und Jugendliche noch recht gut versorgt sind, wird vor allem der Übergang ins Erwachsenenalter als Einschnitt in der medizinischen Versorgung erlebt.“
Kinder sind besser versorgt als Erwachsene
Das liegt an den Strukturen des Gesundheitssystems. Für Kinder und Jugendliche mit schweren Behinderungen gibt es Hilfe in den sogenannten sozialpädiatrischen Zentren (SPZ). Wenn der Kinderarzt nicht mehr weiter weiß, unterstützen ihn die Spezialisten im SPZ. Das reicht von der Diagnose über Therapieempfehlungen bis zur fachgerechten Anpassung von Hilfsmitteln wie Rollstühlen. Doch die Sozialpädiatrischen Zentren dürfen ihre Patienten nur bis zum Alter von 18 Jahren behandeln. Vergleichbare Angebote für Erwachsene gibt es nicht. Dann beginnt die oft langwierige und nervenaufreibende Suche nach qualifizierten und engagierten niedergelassenen Haus- und Fachärzten. Auch die meisten Krankenhäuser sind nicht auf die Bedürfnisse von Patienten mit Handicap eingestellt.
Die Evangelische Stiftung Alsterdorf sucht gemeinsam mit dem Elternverein „Leben mit Behinderung Hamburg“ einen Weg aus dem Dilemma. Ziel ist es, die medizinische Versorgung von Menschen mit schweren geistigen oder Mehrfachbehinderungen langfristig zu verbessern. Experten aus den Bereichen Eingliederungshilfe und Medizin haben dazu ein Konzept mit mehreren Bausteinen entwickelt. Im Mittelpunkt steht der Patient mit seinen ganz individuellen Bedürfnissen. Er wird unterstützt von einem sogenannten Gesundheitspaten – das kann ein Angehöriger sein, ein Betreuer, aber auch ein Mitarbeiter aus einer Wohneinrichtung. Bei ihm als „Fallmanager“ laufen die Informationen zum Gesundheitszustand, zu Arzt- und Therapeutenbesuchen zusammen, er setzt sich für die Interessen des Patienten ein und ist Vermittler.
Der Hausarzt bleibt Anlaufstelle
Erste Anlaufstelle im Krankheitsfall soll weiterhin der niedergelassene (Fach-)Arzt im Quartier sein. Bei Bedarf kann er ein spezialisiertes Beratungsteam hinzuziehen, das ihn vor Ort unterstützt. Zu dem Team sollen Fachärzte (Internisten/Neurologen), Pädagogen und spezialisierte Pflegekräfte gehören. Eine wichtige Ergänzung in der Versorgungskette soll ein spezialisiertes interdisziplinäres und multiprofessionelles Gesundheitszentrum sein. Hier sind unter anderem aufwendigere Untersuchungen möglich, wie etwa die Diagnostik von Schluckstörungen. Darüber hinaus sollen Menschen mit Behinderung eine umfassende Heil- und Hilfsmittelberatung erhalten. Wenn nötig, können kooperierende Mediziner weiterer Fachrichtungen (Urologie, Gynäkologie, Augenheilkunde, Zahnheilkunde und andere) hinzugezogen werden.
„Es ist uns wichtig, im Sinne der Inklusion die wohnortnahe medizinische Versorgung der Menschen mit Behinderung zu stärken“, betont ESA-Vorstand Scheibel. „Keinesfalls soll ein Kompetenzzentrum den niedergelassenen Arzt ersetzen, denn wir wollen keine Sonderwelten für diese Patientengruppe schaffen. Die Zeiten des ,Anstaltsarztes‘ sind zum Glück lange vorbei. Wir verstehen unser geplantes Angebot vielmehr als notwendige Ergänzung und Unterstützung der bestehenden Strukturen.“
Ein weiterer Bestandteil des Konzeptes sind deshalb Fortbildungen für Mediziner. In Zusammenarbeit mit der Hamburger Ärztekammer wurde im Januar dieses Jahres ein erstes Angebot gemacht. Am 12. und 13. April richtet das Evangelische Krankenhaus Alsterdorf unter Leitung von Georg Poppele, Chefarzt des Fachbereichs Innere Medizin, außerdem die Jahrestagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Ärzte für Menschen mit Behinderung aus. Unter dem Motto „Gesundheit für alle!?“ geht es um medizinische Themen, aber auch um ethische und juristische Fragen.4 „Uns ist der berufsgruppenübergreifende Austausch wichtig“, sagt Georg Poppele: „Um die medizinische Versorgung der Menschen mit Behinderung langfristig zu verbessern, sind nicht nur die Ärzte gefragt, sondern auch Pflegekräfte, Therapeuten, Betreuer, persönliche Assistenten, Angehörige und nicht zuletzt die Selbstvertretungsgruppen.“
Politische Unterstützung erhält die Initiative unter anderem von Bundesärztekammerpräsident Frank Ulrich Montgomery und Hamburgs Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks. Auch Vertreter der Krankenkassen zeigen sich interessiert. Allerdings ist die Frage nicht abschließend geklärt, wie zusätzliche Angebote finanziert werden sollen. „Es liegt noch ein langer Weg vor uns“, weiß Vorstand Scheibel: „Aber für dieses Thema lohnt es sich zu kämpfen!“
Anmerkungen
1. Im Folgenden verwenden wir aus Gründen der besseren Lesbarkeit die männliche Schreibweise. Frauen sind hier selbstverständlich mitgemeint.
2. Die Evangelische Stiftung Alsterdorf ist ein diakonisches Dienstleistungsunternehmen mit Angeboten für Beratung und Diagnostik, Wohnen und Assistenz, Bildung und Arbeit, Medizin, Pflege und Therapie für Menschen mit und ohne Behinderung. Fast 5700 Mitarbeiter gestalten täglich die Palette der Dienstleistungs- und Serviceangebote. Im Mittelpunkt aller Angebote steht der Mensch als Kunde und Klient mit seinen unterschiedlichen Bedürfnissen. Die Arbeit der Stiftung orientiert sich an ihren protestantischen Traditionen.
3. www.dki.de/unsere-leistungen/forschung/projekte/medizinische-versorgung-von-menschen-mit-geistiger-behinderung
4. www.evangelisches-krankenhaus-alsterdorf.de