Wenn die Inflation in die Überschuldung treibt
Seit dem letzten Jahr dominieren vor allem die Themen Inflation und Energiepreiskrise die wirtschaftliche Entwicklung. Nachdem die Inflationsrate im November 2022 sogar 11,6 Prozent betrug, lag sie im Juni 2023 bei 4,4 Prozent1 und ist somit zwar wieder gesunken, aber weiter auf hohem Niveau.
Der Kostenanstieg 2022 hatte vor allem bei Energie- (39,1 Prozent)2 und Lebensmittelpreisen (17,2 Prozent)3 starke Auswirkungen auf den Alltag. Personen mit geringem Einkommen leiden überproportional stark an der Inflation. Auf günstigere Produkte umzusteigen ist für sie nicht umsetzbar, da sie in der Regel schon vorher die günstigsten Preise der Discounter genutzt haben. Auch ist es für sie kaum möglich, den Konsum von sogenannten Luxusgütern einzuschränken zugunsten von notwendigen Dingen des täglichen Lebens, da Letztere sowieso schon immer das Ausgabenbudget bestimmt haben. Das Institut für Finanzdienstleistungen (iff) hat in einem Bericht über die Bedeutung von Finanzdienstleistungen für die Lebenslage von Familien in herausfordernden Finanzsituationen den Anteil des notwendigen Konsums analysiert. Dieser enthält den Kauf von Nahrungsmitteln, Getränken, Bekleidung sowie die Kosten für Wohnen, Verkehr, Gesundheit und Bildung. Er macht zwischen 50 und 60 Prozent der Gesamtausgaben aus. Besonders hoch ist dieser Anteil für Alleinerziehende und Alleinlebende.4 Entsprechend unterschiedlich sind auch die haushaltsspezifischen Inflationsraten. Sie lagen bei einkommensstarken Alleinlebenden 2022 bei 7,1 Prozent und bei einkommensschwachen Familien mit zwei Kindern bei 9,8 Prozent.5 Der größte Treiber der Preissteigerung von einkommensschwachen Familien mit zwei Kindern im Jahr 2022 war der Konsum in den Bereichen Nahrungsmittel, Getränke, Tabak (3,9 Prozent) und Haushaltsenergie (2,5 Prozent).
Wenn das Einkommen das Mehr an Ausgaben nicht ausgleicht
Größter Hebel der Inflation entgegenzuwirken ist eine Einkommenserhöhung. Diese ist aber in der Regel nicht ohne weiteres möglich und hängt von der Art der Beschäftigung ab. Selbstständig Beschäftige entscheiden zwar selbst über den für ihre Leistung in Rechnung gestellten Stundenlohn. Ob sie diesen erreichen, hängt aber von der Zahlungsfähigkeit und Zahlungsbereitschaft der Nachfrager:innen ab. Beides kann durch Inflation stark beeinträchtigt werden. Das Einkommen von abhängig Beschäftigten hängt hingegen von Gehalts- oder Tarifverhandlungen ab, die häufig langwierig sind. Das Einkommen von arbeitslosen Menschen, die SGB II und SGB XII Leistungen beziehen, ist festgelegt durch die Regelsätze. Auch deren Anpassungen sind relativ unflexibel. Aber nicht nur die Anpassungsfähigkeit der Einkommen an die allgemeine Preisentwicklung, sondern auch die absoluten Einkommenshöhen und - damit verbunden - finanzielle Rücklagen spielen bei den Auswirkungen der Inflation auf den persönlichen Lebensstandard eine wichtige Rolle.
Inflation konkretisiert sich im Alltagsleben also durch ein Mehr an monatlich zu leistenden Ausgaben, und dieses kommt meistens völlig unerwartet. Damit einher geht die verminderte Möglichkeit, zusätzliche Einkommensquellen zu erschließen. Davon betroffen sind vor allem Familien mit Kindern. Sie können kaum Ausgaben reduzieren und haben aufgrund der notwendigen Vereinbarkeit von Erwerbs- und Care-Arbeit auch weniger Möglichkeiten, zusätzliches Einkommen zu generieren.6 Um die Lücke zu schließen, bleibt dann manchmal nur Schulden aufzunehmen. Vor dem Hintergrund einer systematisch angespannten Haushaltslage birgt jede Kreditaufnahme aber ein erhöhtes Risiko, weiter in die Überschuldung zu rutschen. Betroffen sind davon wiederum insbesondere die Alleinerziehenden. Auch höhere Kreditzinsen spielen für das erhöhte Überschuldungsrisiko eine wichtige Rolle.
Durch Leitzinserhöhung werden Überziehungskredite noch teurer
Als Reaktion auf die Inflation im Euroraum hat die Europäische Zentralbank im Sommer 2022 ihre Nullzinspolitik beendet und den Leitzins zwischen September und Dezember 2022 in mehreren Schritten auf 2,5 Prozent erhöht. Diese Leitzinserhöhung wurde bei der Neukreditvergabe durch Banken in unterschiedlichem Ausmaß an Verbraucher:innen weitergegeben. Der Anstieg der Nominalzinsen war dort am höchsten, wo bereits vor der Leitzinserhöhung die Kreditzinsen am höchsten waren, bei Kreditkartenkrediten, revolvierenden Krediten und Überziehungskrediten.7 Die Erhöhung der Nominalzinsen betrifft demnach besonders die Kreditarten, die gerade für einkommensschwache und damit auch bonitätsschwache Haushalte verfügbar sind.
Auch wenn 2022 Arbeitslosigkeit weiterhin der größte Faktor für ein Abrutschen in die Überschuldung bleibt, zeigen sich die stetig wachsende Einkommensarmut sowie Krankheit zunehmend als Überschuldungstreiber. Die sozialen Sicherungssysteme reichen in vielen Fällen insbesondere für ältere Personen und Mehrkinderhaushalte nicht mehr aus, um finanziell über die Runden zu kommen.8
Eine europaweite Studie zu Überschuldungsursachen zeigt, dass der Umgang mit einer Kostensteigerung, wie sie mit der Inflation einhergeht, sowohl von der Gestaltung der Finanzprodukte als auch von den sozialpolitischen Rahmenbedingungen samt Verbraucherschutz und Schuldnerberatung abhängt und Risikofaktoren der Überschuldung fördern oder ihr entgegenwirken. Diese "Umfeldbedingungen" sind aber gerade für vulnerable Gruppen (zum Beispiel Working Poor, Alleinerziehende, auch gewisse Selbstständige) nicht hinreichend geeignet, um einen wirksamen Schutz vor Überschuldung zu bieten. Dies zeigt auch der jährliche Überschuldungsreport des iff. Familien mit nur einem Elternteil suchen beispielsweise überproportional häufig die Schuldnerberatung auf.9
Inflation kann also ein Überschuldungstreiber vor allem für vulnerable Gruppen in der Gesellschaft sein. Berechtigterweise stellt sich da die Frage, wie diesem Problem begegnet werden kann. Die von der Geldpolitik angestoßenen Zinserhöhungen wirken nur indirekt, weil sie die Ursachen der Inflation nicht direkt erfassen können. Angebotsverknappung, Energiekrise, Lieferschwierigkeiten können durch Zinserhöhungen nicht beseitigt werden. Auch sind sie keine effektive Maßnahme gegen den Versuch von Unternehmen, durch Erhöhung ihrer Gewinnspannen von der Inflation zu profitieren. Natürlich sind Zinssteigerungen geeignet, um die sogenannten Zweitrundeneffekte (Lohnerhöhungen und damit verbundene Nachfragesteigerungen) in ihrer Wirkung auf die Inflation zu dämpfen. Übersehen werden sollten dabei aber auf keinen Fall die damit einhergehenden Verteilungseffekte: Negativ davon betroffen sind nämlich wiederum die Haushalte mit niedrigerem Einkommen durch die höheren Zinsen und die gestiegen Kosten für die Lebenshaltung.
Bedarf an Schuldnerberatung steigt
Um dies zu vermeiden, empfiehlt es sich, die Sozialpolitik mit einem entsprechend höheren Budget auszustatten. Nicht nur Transferleistungen können damit erhöht werden. Vielmehr gilt es auch, die Schuldnerberatungsstellen besser auszustatten, um deren Handlungsfähigkeiten zu stärken, und zwar sowohl für die Beratung bereits überschuldeter Personen als auch präventiv, um Überschuldung zu vermeiden.
Die derzeitigen wirtschaftlichen Umbrüche sind für die Schuldnerberatungen eine Herausforderung. Die regelmäßige Umfrage der Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung der Verbände (AG SBV) zeigt den ständig ansteigenden Beratungsbedarf. Schon Anfang 2022 gab mehr als die Hälfte der Beratungsstellen an, dass der Beratungsbedarf gestiegen sei. Ende 2022 waren es bereits 65 Prozent der Beratungsstellen, die eine erhöhte Nachfrage verzeichneten (S. a. Beitrag auf S. 13 in diesem Heft). Die erhöhte Nachfrage ist geprägt von Erwerbsstätigen, die sich zum Thema Miet- und Energieschulden beraten lassen.10
Neben der erhöhten Nachfrage sehen sich die Schuldnerberatungen durch eine eingeschränkte Handlungsfähigkeit herausgefordert. Die reduzierte Liquidität der Ratsuchenden hat zur Folge, dass Vergleichsmöglichkeiten mit Gläubigern wenig Aussicht auf Erfolg haben. Zudem können Beratungsstellen Klein- und Kleinstselbstständige, die besonders von der unsicheren Lage der wirtschaftlichen Entwicklung betroffen sind, häufig nicht beraten. Für diese Berufsgruppe fehlt nämlich, aufgrund des fehlenden Rechts auf Schuldnerberatung, der flächendeckende kostenlose Zugang zu Beratungsleistungen.
Angesichts der wirtschaftlichen Krisen wird vermutet, dass auch in den nächsten Jahren der Beratungsbedarf steigen wird, um die Existenz von Menschen in finanziellen Schwierigkeiten zu sichern. Die zeitlichen, finanziellen ebenso wie fachliche Kapazitäten sind hier entsprechend dem Bedarf weiter auszubauen.
1. Vgl. Destatis: Verbraucherpreisindex für Deutschland. 2023.
2. Vgl. Dullien, S.; Tober, S.: Deutliche Inflationsunterschiede zwischen Arm und Reich im Jahr 2022. In: IMK Inflationsmonitor, Januar 2023, S. 8.
3. Verbraucherzentrale Bundesverband (VZBV): Steigende Lebensmittelpreise: Fakten, Ursachen, Tipps. 2023.
4. Vgl. Peters, S.; Größl, I.; Happel, B.; Damar, D.; Roggemann, H.: Die Bedeutung von Finanzdienstleistungen für die Lebenslage von Familien in herausfordernden Finanzsituationen. Institut für Finanzdienstleistungen, 2022, S. 16.
5. Vgl. Dullien, S.; Tober, S.: a. a. O., S. 5.
6. Vgl. Peters, S. et al., a.a.O., S. 17 f.
7. Vgl. Neuberger, D.: Zinserhöhung, Zentralbank, Leitzins, Kreditzins, Verbraucherkredite, Wucher, Zinsobergrenze, Inflation, Überschuldung. In: iff-Infobrief 2/2023, S. 1 f.
8. Destatis: Hauptauslöser der Überschuldung in %. 2023.
9. Vgl. Peters, S.; Roggemann, H.: iff-Überschuldungsreport 2022. In: Institut für Finanzdienstleistungen, Onlineveröffentlichung aus dem Jahr 2022, S. 28 f.
10. Vgl. Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung der Verbände (AG SBV): Drei Jahre Corona, ein Jahr Krieg: Erkenntnisse aus der Schuldnerberatung. Winter 2022/2023, S. 4 ff.
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