Weiterentwicklung von Gemeinnützigkeit
Der Caritasverband Paderborn ist seit 2021 Mitglied in der Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung (GWÖ). Damit setzt er sich für ein ethisches Wirtschaftsmodell ein, das nicht die Mehrung des Gewinns als oberstes Ziel hat, sondern die Ermöglichung eines guten Lebens für alle.
Von der Ressourcenknappheit über die menschengemachte Klimakrise bis hin zur größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich: Immer mehr setzt sich die Erkenntnis durch, dass viele Probleme unserer Zeit die Folge eines unkontrollierten Kapitalismus sind.
Heute können Unternehmen die Umwelt zerstören, niedrige Löhne zahlen und sinnlose Produkte produzieren - solange sie Gewinn machen, gelten sie als erfolgreich. Unsolidarisches Verhalten wie das Vermeiden von Steuerzahlungen wird honoriert. Der Abbau von Arbeitsplätzen wird mit Kurssteigerungen an den Börsen belohnt. In der Gemeinwohl-Ökonomie ist das anders: Hier misst sich der Erfolg nicht länger ausschließlich an Finanzkennzahlen, sondern primär am Beitrag zum Wohl aller, am Gemeinwohl.
Gemeinnützige Organisationen wie Wohlfahrtsverbände stehen in einer anderen historischen Linie. Als Non-Profit-Organisationen sind sie nicht der Steigerung eines Unternehmensgewinns verpflichtet. Aber die Gemeinnützigkeit wird häufig auf Fragen des Steuerrechts verkürzt und ist im europäischen Kontext ein komplizierter Exot. Auch gibt es im Bereich der Wohlfahrt durchaus Diskussionen darüber, ob Gemeinnützigkeit zeitgemäß und ein Vorteil ist oder ob Verbände diesen Status nicht von sich aus aufgeben sollten und Akteure wie andere auch in deregulierten Märkten werden sollten.
Gemeinwohlorientierung: Mitarbeitende und Kunden wünschen sie
Zwei Aspekte sollten dabei nicht übersehen werden: erstens, dass es Mitarbeitende gibt, die es vorziehen, bei einer Non-Profit-Organisation zu arbeiten, weil das mit eigenen Werten korrespondiert. Zweitens, dass viele Menschen es klar bevorzugen, wenn sie Dienstleistungen im Bereich der Kindererziehung, der Krankenbehandlung und der Pflege von Anbietern erhalten können, die nicht profitorientiert sind.1 Deshalb ist unser Ansatz in Paderborn, Gemeinnützigkeit weiterzuentwickeln in Richtung einer konsequenten Gemeinwohl-Orientierung. Dafür nutzen wir die Gemeinwohl-Ökonomie als Wirtschaftsmodell und die Gemeinwohl-Bilanz als Instrument. Unsere Erfahrung damit ist: Die Beschäftigung mit der Gemeinwohl-Ökonomie ist automatisch auch Organisationsentwicklung.
Die Idee der Gemeinwohl-Ökonomie hat sich seit 2010 von Österreich aus rasant verbreitet. Heute umfasst die Bewegung weltweit 11.000 Unterstützer:innen, rund 4500 Mitglieder in über 170 Regionalgruppen, über 1000 bilanzierte Unternehmen und andere Organisationen in 35 Ländern.2
Auch im Bereich der Caritas ist eine aktive Auseinandersetzung mit den Ideen der GWÖ festzustellen. So gibt es zum Beispiel im Erzbistum Paderborn einen vom DiCV moderierten Arbeitskreis "Gemeinwohlökonomie und Caritas", an dem sich sieben von 23 Ortsverbänden sowie die Caritas Dienstleistungs- und Einkaufsgenossenschaft (cdg) beteiligen.
Beim Orts-Caritasverband Paderborn begann die Beschäftigung mit der GWÖ mit einem Arbeitskreis, an dem interessierte Mitarbeitende teilnehmen konnten. Dabei ging es zunächst gar nicht um eine GWÖ-Bilanzierung des Verbandes, sondern um eine gemeinwohlorientierte Sicht auf Prozesse und Entscheidungen, die für den Verband anstehen; quasi der Blick durch eine GWÖ-Brille. Dieser spielte eine wesentliche Rolle zum Beispiel bei der Umstellung des kompletten Fuhrparks in der ambulanten Pflege auf E-Bikes und E-Autos in einem Zeitraum von drei Jahren.
Die Erstellung einer Gemeinwohl-Bilanz ist nicht zwingend erforderlich, wenn man sich mit den Ideen der GWÖ beschäftigt. Eine glaubwürdige Gemeinwohl-Orientierung ist auch ohne GWÖ-Bilanz möglich. Allerdings ist die Bilanz durch die GWÖ-Matrix hilfreich für den umfassenden 360-Grad-Blick auf das eigene Unternehmen.
Studierende begleiten den Prozess
Anlass einzusteigen war, als sich für uns die Gelegenheit ergab, eine GWÖ-Bilanzierung in einer Peergroup mit drei weiteren regionalen Unternehmen und mit Begleitung durch Studierende der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften an der Uni Paderborn durchzuführen. Hintergrund ist, dass sich im Rahmen eines Seminars BWL-Master-Studierende in der Rolle als externes GWÖ-Beratungsteam ausprobieren können. Sie werden darin geschult, die beteiligten Unternehmen durch den Prozess zu begleiten, und übernehmen auch weite Teile der Dokumentation. Dabei werden sie von erfahrenen Gemeinwohl-Berater:innen unterstützt. Dieses Vorgehen hat mehrere Vorteile: Es bringt uns als Caritas in Kontakt mit Nachwuchstalenten, ermöglicht den Studierenden praktische Lernerfahrungen und spart gleichzeitig Aufwände für interne Dokumentation.3
"Gemessen" wird mit der Gemeinwohl-Bilanz. Diese wird mit Hilfe einer speziellen Matrix erstellt. In der Matrix werden die vier Werte der GWÖ - Menschenwürde; Solidarität und Gerechtigkeit; ökologische Nachhaltigkeit sowie Transparenz und Mitentscheidung - fünf Berührungsgruppen eines Unternehmens gegenübergestellt. Dabei wird abgefragt, wie der Caritasverband die Gemeinwohl-Werte gegenüber seinen Berührungsgruppen umsetzt. Hierzu zählen Lieferanten, Eigentümer und Finanzgeber, Mitarbeitende, Kunden und Mitunternehmen sowie das gesellschaftliche Umfeld. So entsteht die Matrix mit 20 Feldern.
Theoretisch sind damit 1000 Punkte zu erreichen. Das wird in der ersten Bilanzierung niemand schaffen. Spannender für die Entwicklung eines Unternehmens ist sehr viel mehr die Frage, ob man sich bei der Rezertifizierung nach zwei Jahren verbessert hat.
Wir haben im Bilanzierungsprozess gute Erfahrungen damit gemacht, nach einem gemeinsamen Start mit einer Einführung in die Theorie der GWÖ fünf Workshops (ein Workshop pro Berührungsgruppe) mit gemischten Teams zu bilden. Es gab Mitarbeitende, die den gesamten Bilanzierungsprozess begleitet haben, und andere Mitarbeitende, die nur bei einzelnen Workshops dabei waren. Insgesamt waren an den Workshops 25 Mitarbeitende im Zeitraum von Oktober 2021 bis August 2022 beteiligt.
Viele Verbände beschäftigen sich mit GWÖ
Aktuell sind auf der GWÖ-Site vier Caritasverbände gelistet, die eine Bilanzierung veröffentlicht haben: Arnsberg-Sundern, Emmendingen, Köln und Paderborn. Das ist aber insofern nur die Spitze des Eisbergs, als wir durch viele Kontakte und Netzwerke wissen, dass sehr viel mehr Verbände sich mit der GWÖ beschäftigten, aber eben noch keine GWÖ-Bilanz veröffentlicht haben.
Unsere Bilanzierung ist inzwischen fertiggestellt und veröffentlicht.4 Nun wird es darauf ankommen, das Thema und den Blick durch die GWÖ-Brille im Caritasverband Paderborn am Leben zu halten. Das versuchen wir durch eine eigene Site im Intranet, weitere Treffen des GWÖ-Arbeitskreises sowie die Umsetzung im Bericht erkannter Potenziale. Beispiel: Wir versuchen, die zurzeit outgesourcte Gebäudereinigung wieder in den Verband zurückzuholen und zukünftig wieder durch eigene Mitarbeitende zu erbringen.
Wichtigster Erfolg ist, im gesamten Verband ein Bewusstsein für die Gemeinwohl-Orientierung zu sehen, die sich oft an kleinen Dingen im Alltag zeigt. So wird bei Beschaffungen eine zusätzliche gedankliche Schleife gezogen: Hat unsere Gemeinwohl-Orientierung Auswirkungen auf unsere Entscheidung? So haben wir uns beispielsweise entschieden, nicht mehr bei Amazon zu bestellen, solange das Unternehmen in Deutschland keine gerechten Steuern zahlt.
Ein weiteres wichtiges Thema ist jetzt die Kommunikation unserer Gemeinwohl-Orientierung in die Öffentlichkeit. Wir glauben, dass es ein großes Potenzial an Mitarbeitenden gibt, die sich für einen werteorientierten Dienstgeber interessieren, zum Beispiel in Klimafragen. Das haben wir mit der GWÖ-Bilanz dokumentiert, und jetzt müssen die Menschen das auch noch erfahren.
Anmerkungen
1. Vgl. Heil, H.: Gemeinwohlorientierung und Caritas. In: Pro Alter 4/2022, S. 15-19.
2. Nähere Informationen unter https://germany.ecogood.org
3. https://stiftung-gemeinwohloekonomie.nrw
4. www.caritas-pb.de/wir-der-caritasverband/zertifizierungen/gemeinwohloekonomie
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