Träger, Personal und Staat gemeinsam auf der Anklagebank
Anfang der 2000er-Jahre erschienen in Deutschland erstmals zahlreiche Medienberichte über die zum Teil erschreckende Gewalt an Kinder und Jugendlichen in Kinderheimen der frühen Bundesrepublik. Seither erlebt die öffentliche Diskussion über Grundrechtsverletzungen und institutionelle Gewalt an Minderjährigen in der Nachkriegsgeschichte eine ungebrochene Konjunktur. So rückten nach den Heimkindern neue Erkenntnisse zu Missbrauch und Ausbeutung von Kindern auch in Psychiatrien und Behinderteneinrichtungen in den Fokus der Öffentlichkeit. Vor diesem Hintergrund haben der Bund, die Länder und die beiden großen Kirchen im Jahr 2017 die Stiftung "Anerkennung und Hilfe" ins Leben gerufen. Das Ziel dieser Stiftung bestand darin, das erlittene Leid und Unrecht der Betroffenen öffentlich anzuerkennen und ihnen eine finanzielle Ausgleichszahlung zu ermöglichen. Begleitend wurde eine Forschergruppe mit interdisziplinärer Besetzung beauftragt, die wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschehnisse voranzutreiben und das erfahrene Leid und Unrecht zu ermitteln, zu beschreiben und so öffentlich zur Diskussion zu stellen. Dabei lag der Fokus auf dem Zeitraum von der Gründung beider deutscher Staaten im Jahr 1949 bis Anfang Oktober 1990 für die DDR und bis Ende 1975 für das Gebiet der alten Bundesrepublik.
Leid wurde bei der Studie als subjektive Erfahrung betrachtet, die am besten durch individuelle Berichte der Betroffenen ermittelt werden kann. Viele der untersuchten Fälle von Unrecht waren wiederum nicht unbedingt durch direkte Verstöße gegen Gesetze oder Regeln gekennzeichnet, sondern ergaben sich aus strukturellen Mängeln und juristischen Grauzonen. Das Forschungsprojekt hatte daher ein breites Verständnis von Unrecht, das über die damalige Gesetzgebung und Rechtsprechung hinausging.
Zeitzeugen und Akten als Quelle für Studie
Das Forschungsteam verfolgte das Ziel, ein möglichst breites Spektrum von psychiatrischen Anstalten und Heimen aus dem gesamten Bundesgebiet zu analysieren. Insgesamt konnten 17 kinder- und jugendpsychiatrische Abteilungen sowie Heime für Minderjährige mit Behinderung in öffentlicher, katholischer und evangelischer Trägerschaft in die Untersuchung einbezogen werden. Darunter waren auch vier unter der Trägerschaft der Caritas stehende Einrichtungen, die als Kooperationspartner für die Aufarbeitung gewonnen werden konnten: die Bischöfliche Stiftung Haus Hall in Gescher, das Dominikus-Ringeisen-Werk in Ursberg, das Franziskuswerk in Schönbrunn und das St. Johannesstift Ershausen in Schimberg.
Die maßgebliche Quellengrundlage der Studie stellten Patient:innen- und Bewohner:innenakten dar, die in der Regel bis heute in den hauseigenen Archiven der Einrichtungen lagern. Darüber hinaus wurden, wenn möglich, Zeitzeugengespräche mit Menschen geführt, die als Kinder oder Jugendliche in den untersuchten Heimen und Anstalten untergebracht waren. Im Projektverlauf konnten so insgesamt über 1500 Fallakten und rund 60 Interviews mit betroffenen Zeitzeug:innen ausgewertet werden. Zusätzlich wurden mehr als 170 Zuschriften von Betroffenen, Angehörigen oder ehemaligen Mitarbeiter:innen über ein speziell eingerichtetes Online-Portal einbezogen.
Den Lebensalltag in den Einrichtungen rekonstruiert
Basierend auf diesen Grundlagen hat das Forschungsteam den Lebensalltag und die Unterbringungsverhältnisse in den untersuchten Einrichtungen rekonstruiert und Formen von pädagogischer, medizinischer und therapeutischer Gewalt sowie den Einsatz von Arzneimitteln und möglicherweise erfolgten Medikamentenstudien ausgewertet. Auch sexuelle Gewalterfahrungen, erzwungene oder unbezahlte Arbeit sowie der Verlust oder die Verweigerung persönlicher, beruflicher und sozialer Lebensqualität wurden analysiert. Um die Lebens- und Unterbringungsbedingungen angemessen einordnen zu können, wurden zudem die rechtlichen Aspekte der Einweisung und Unterbringung in den jeweiligen Untersuchungszeiträumen für die Bundesrepublik Deutschland (BRD) und die Deutsche Demokratische Republik (DDR) in den Blick genommen.
Ein zentrales Ergebnis des Forschungsprojektes ist die Erkenntnis, dass es bis in die 1970er-Jahre hinein kaum Unterschiede bezüglich der erlebten Leidens- und Unrechtserfahrungen in den untersuchten Einrichtungen zwischen der BRD und der DDR gab. Trotz der verschiedenen politischen, pädagogischen und gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen wiesen beide deutschen Staaten ähnlich ausgeprägte strukturelle Mängel auf, zumindest während der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte. Ebenso zeigten beide Gesellschaften bis in die 1960er-Jahre ein ähnliches Desinteresse an der Situation von Minderjährigen mit geistigen Behinderungen und psychischen Erkrankungen.
Die Zahl der Plätze als Kriterium für eine Unterbringung
Dies machte sich bereits am Mangel an geeigneten Einrichtungen für psychisch erkrankte oder geistig behinderte junge Menschen in beiden Teilen Deutschlands bemerkbar. Chronische Unterfinanzierung, Personalmangel, Raumnot, Sanierungsstau und Überbelegungen prägten die institutionelle Landschaft in Ost und West. Das bestimmende Kriterium für die Unterbringung in einer Einrichtung war daher nicht der individuelle Förder- oder Therapiebedarf, sondern ausschließlich die Zahl der vorhandenen Plätze. Dies hatte in vielen Fällen "Fehlplatzierungen" in nicht geeignete Einrichtungen zur Folge. Es war daher keine Seltenheit, dass Kinder, die etwa in der Schule durch unangepasstes Verhalten aufgefallen waren, in ein Heim für geistig behinderte Menschen eingewiesen wurden oder aber geistig behinderte Minderjährige dauerhaft in psychiatrischen Krankenhäusern leben mussten.
Die bedrückenden Zustände in den Einrichtungen und die schwierigen Arbeitsbedingungen des Personals begünstigten die genannten Formen von Leid und Unrecht. Pädagogisch ungerechtfertigte Zwangs- und Strafmaßnahmen sowie demütigende Erfahrungen ließen sich daher in allen untersuchten Einrichtungen, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, nachweisen. Dazu zählten körperliche Gewalt, die Isolation in separaten Räumen, Demütigungen, Verletzungen der Privatsphäre, erzwungenes Essen oder Entzug von Nahrung sowie Fixierungen. Die Überwachung und Kontrolle der Heime und Kliniken durch die zuständigen Behörden war dabei mehr als unzureichend.
Sedierende Medikamente für einen "störungsfreien" Betriebsablauf
Angesichts der mangelhaften Räumlichkeiten und Beschäftigungsmöglichkeiten war in den untersuchten Einrichtungen zudem die medikamentöse Ruhigstellung von Minderjährigen mit Barbituraten und Psychopharmaka weit verbreitet. Hochdosierte und mit unerwünschten Nebenwirkungen verbundene Arzneimittel wurden regelmäßig dazu genutzt, die Kinder und Jugendlichen zu sedieren und so einen kontinuierlichen und störungsfreien Betriebsablauf in der Einrichtung sicherzustellen. In nicht wenigen Fällen wurden medizinische Maßnahmen im Einrichtungsalltag auch als Straf- und Disziplinierungsmittel angewandt (zum Beispiel Elektrokrampftherapie, zwangsweise "Bettruhe", Fixierungen). In einigen Einrichtungen ließen große Pharmaunternehmen noch nicht zugelassene Medikamente testen. Gesetzlich war diese Praxis bis in die späten 1970er-Jahre in beiden deutschen Staaten kaum reguliert oder behördlichen Kontrollen unterworfen.
Mangelnde Fördermöglichkeiten und ein defizitorientierter Blick auf die Minderjährigen mit geistigen Behinderungen und psychischen Erkrankungen innerhalb und außerhalb der untersuchten Einrichtungen trugen wesentlich dazu bei, dass ihnen persönliche, berufliche und soziale Lebensqualität vorenthalten wurde. So wurden Bewohner:innen sowie Patient:innen in den Einrichtungen oft gegen ihren Willen zur Arbeit gezwungen, ohne dass dabei ihre Interessen und Bedürfnisse als Minderjährige angemessen berücksichtigt wurden.
Erst in den 1970er-Jahren setzte in der BRD, vor allem durch den Druck einer nicht mehr alles hinnehmenden Öffentlichkeit, ein Wandel ein. Im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten wurden in dieser Zeit Förderangebote entwickelt und eine kritische Einstellung zur institutionellen Unterbringung unterstützt. Dies führte langfristig zu verstärkten Reformbemühungen und verbesserten Lebensbedingungen in allen untersuchten Einrichtungen. Anders in der DDR, wo in den Einrichtungen des staatlichen Gesundheitswesens kaum Veränderungen angestoßen wurden. Dort blieben die prekären Verhältnisse bis zum Jahr 1989/90 bestehen, teilweise verschlechterten sich die Bedingungen in den 1980er-Jahren angesichts des wirtschaftlichen Niedergangs der DDR sogar nochmals deutlich.
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